Distanzierendes Verwirrspiel

02.03.2010
Mit "Sommer des Lebens" ist der letzte Band der Trilogie "Szenen aus einem provinziellen Leben" abgeschlossen. Man könnte die drei Bände als autobiografische Fiktionen oder autobiografische Romane bezeichnen, wobei die Fiktionalisierungen darauf angelegt sind, die Gutgläubigkeit (oder Leichtgläubigkeit) des Lesers an die Zuverlässigkeit von Autobiografien immer mehr zu verwirren.
Die ersten beiden Bände schilderten die Kapstädter Kindheit und Schulzeit des jungen John und seine Londoner Studienjahre – zwar in der distanzierenden dritten Person, doch noch einigermaßen chronologisch entlang markanter Details aus Coetzees eigenem Leben erzählt. Beim eben erschienenen dritten Band "Sommer des Lebens" treibt Coetzee sein distanzierendes Verwirrspiel ins Extrem.

Um den möglichen autobiografischen Kern seines Buches baut J. M. Coetzee eine schützende Wagenburg von Fiktionen. Sein Romanheld namens "John Coetzee", ein weltberühmter Autor, ist in Australien gestorben. Ein Biograf namens Mr. Vincent sammelt Material, um Coetzees Leben zu beschreiben. Ihn interessieren besonders die 1970er-Jahre, in denen Coetzee aus den USA nach Kapstadt zurückkehrte, als Lehrer Fuß zu fassen suchte, sich zum Schriftsteller entwickelte und sein erstes Buch veröffentlichte. Der Biograf führt Interviews mit fünf Personen, die Coetzee damals nahestanden – mit zwei Ex-Geliebten, mit seiner Lieblingscousine, mit einem Ex-Kollegen an der Universität Kapstadt sowie mit der brasilianischen Mutter einer seiner Englisch-Schülerinnen.

Aus diesen zerfransten und provisorischen Texten – plus ein paar Fragmenten von Notizbüchern des toten Coetzee – baut der Autor seine unorthodoxe und komplexe, multi-perspektivische fiktionalisierte Autobiografie, indem er sich selbst weitgehend aus dem Buch eliminiert. Nicht nur erscheint jede Perspektive der fünf Interviewpartner anfechtbar (sagen sie überhaupt die Wahrheit?); auch der Dokumentarist und Materialsammler Mr. Vincent ist ein unzuverlässiger Chronist; mehr noch: der Autor Coetzee selbst legt irritierend falsche Spuren. So lässt er seinen Protagonisten als Junggesellen mit seinem alten Vater in Kapstadt zusammenleben, während der Autor in Wahrheit 1963 heiratete und in den siebziger Jahren mit Frau und zwei Kindern in Südafrika lebte.

Das Bild, das Coetzee vom fiktiven Coetzee entwirft, ist unbarmherzig. Die Interviewpartner beschreiben ihn entweder als kalt, unmännlich, kontaktscheu, geschlechtslos, autistisch – ein düsterer, misstrauischer Einzelgänger und Außenseiter, ein schwacher, hölzerner Mensch, ein Fremdkörper im eigenen Leib; oder sie sehen ihn als empfindlich, ängstlich, scheu und schuldbewusst, als Buchmenschen, dem im praktischen Leben alles misslingt. Gegenüber den temperamentvollen Augenzeugnissen der Interviewpartner verblasst der Protagonist beinahe zum Gespenst. Coetzee geht sogar so weit, dass er seine (erfundenen) Augenzeugen zu seinen gnadenlosen Literaturkritikern macht, die ihm das literarische Talent grundsätzlich absprechen. Der paradoxe Effekt beim Lesen: Je mehr die Wahrhaftigkeit des Textes infrage gestellt wird, desto schneidender tritt die Wahrheit zutage.


Besprochen von Sigrid Löffler


J. M. Coetzee: "Sommer des Lebens. Roman"
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2010. 297 S., 19,95 Euro
erscheint am 11. Februar 2010