Diskussion in Großbritannien

Ist Britpop Schuld am Brexit?

Liam (l.) und Noel Gallagher von der britischen Rockband Oasis bei einer Pressekonferenz 1999 in London.
Noel Gallagher (rechts) zeigte sich desillusioniert von der Politik. © picture-alliance / dpa / epa PA Fiona Hanson
Hanspeter Künzler im Gespräch mit Carsten Beyer · 04.12.2018
Die Mehrheit der Briten hat für den Brexit gestimmt. Liegt das am Britpop? Die These geht zumindest gerade auf der Insel um. Bands wie Oasis hätten eine Welt von vorgestern beschworen und damit eine Mitverantwortung für die heutige Stimmung im Land.
Wenn alles nach Plan verläuft, dann verlässt Großbritannien am 29. März 2019 die EU. Je näher dieses Datum rückt, desto mehr häufen sich die Horrorprognosen für ein Leben ohne die EU. Gleichzeitig sind die federführenden Politiker unter sich zerstritten und scheinen immer weniger zu wissen, wie sie den Karren aus dem Dreck ziehen können, ohne dabei ihr Gesicht zu verlieren.
In der britischen Öffentlichkeit herrscht derweil große Verunsicherung. Man sucht nach Erklärungen dafür, wie sich die Nation in eine solche Situation hat hineinreiten lassen können. Eine These, die nun die Runde macht, ist die, dass ausgerechnet Britpop und damit Bands wie Oasis und Blur eine Mitschuld am Brexit treffen soll. Immerhin besann sich die britische Musikszene damals, Mitte der Neunzigerjahre zurück auf die eigene Geschichte. Auf die Beatles, die Stones, die Small Faces und die Kinks. Also auf die Zeit in der Großbritannien musikalisch den Ton angab in der ganzen Welt.

Trend zurück in insuläre Abgeschottetheit

Hanspeter Künzler ist Journalist für die Neue Zürcher Zeitung. Er lebt in London und hat die Hochzeit des Britpop in den Neunzigerjahren live miterlebt. Guten Tag, Herr Künzler! Wer hat denn eigentlich diese These aufgestellt, Britpop könnte mitschuldig am Brexit sein?
Hanspeter Künzler: Die These wurde erstmals vor einem Jahr von einem gewissen Richard Power Sayeed in einem Buch über die britische Politik unter Tony Blair und deren Folgen vorgetragen. Er schrieb, dass Britpop den Trend zurück in die insuläre Abgeschottetheit sicher nicht ausgelöst hätte, dass es sich dabei aber um die wichtigste kulturelle Bewegung innerhalb eines größeren ideellen Trendes gehandelt habe. Die Diskussion ist nun wieder aufgeflammt, weil Damon Albarn, der mit seiner Band Blur damals an der Seite von Oasis ein führendes Licht der Britpop-Szene war, im Rahmen einer seiner vielen heutigen Projekte, "The Good, The Bad and the Queen", das Album "Merrie Land" veröffentlicht hat, eine scharfe Kritik am Zustand des Landes im Jahre 2018.

Nicht nur Britpop in den Neunzigern

Eine Rezension von diesem Album im Internet-Blog "God is the TV" sieht unmissverständlich einen klaren Zusammenhang zwischen Britpop und der heutigen Stimmung im Land. Der Poptheoretiker Jon Savage, immer mal wieder gut für eine kühne Behauptung, tweetete einen ähnlichen Gedanken. Dito John Harris, sein Berufskollege von der Tageszeitung "Guardian". In diesen Kreisen spielt sich auch die Diskussion ab. In meinen Lokalpub ist sie noch nicht durchgedrungen.
Carsten Beyer: Ohne Zweifel hat Britpop ja eine heile Welt von vorgestern beschworen, aber könnte das wirklich diese nostalgische und xenophobische Grundstimmung genährt haben, die schließlich zum Resultat der Brexit-Abstimmung führte? Sie waren ja selbst in London dabei, wie haben Sie damals die Britpopwelle erlebt?
Künzler: Nach den politisch brachialen Achtzigerjahren unter Margaret Thatcher und der Konservativen Partei versprach die Erstarkung der verjüngten Labour-Partei unter Tony Blair eine rosige Zukunft. Es gab einen Kreativitätsboom, in der Literatur, im Film, Trainspotting zum Beispiel, auch im Fußball mit Euro 1996. Sogar die Carnaby Street boomte wieder. Vor allem aber hatten wir damals nicht nur Britpop – obwohl das nun so dargestellt wird. Kurz vorher hatten Massive Attack und Portishead gezeigt, was entstehen kann, wenn man all die verschiedenen Pop-Einflüsse von Großbritannien zusammenführte.

Kater für die Britpop-Stars kam bald

Außerdem florierte auch die Acid-House- und Techno-Szene noch immer, obwohl große illegale Raves inzwischen gesetzlich unterbunden worden waren.
Beyer: Das klingt nun, als ob die Britpopzeit wirklich eine einzige Fete war, die ganz bestimmt nichts mit dem bösen Brexit am Hut hat. Ist das nicht ein bisschen durch die rosarote Brille gesehen?
Künzler: Naja, der Kater kam auch für die Britpop-Stars ziemlich bald. Damon Albarn wehrte sich von Anfang an dagegen, von den Politikern missbraucht zu werden, um sich bei der Jugend anzubiedern. Zehn Jahre später zeigte sich auch Noel Gallagher, der einst im Rolls Royce für die Party von Tony Blair vorgefahren war, desillusioniert.

Unreflektierter Hedonismus

Die Politik sei am Ende, hat mir damals Noel Gallagher erzählt. Labour- und Konservative Partei sei völlig das Gleiche. Andere unschöne Tendenzen waren schon Mitte der Neunzigerjahre zu erkennen gewesen. Zum Beispiel die Kumpelkultur wie sie von vielen Britpop-Bands als eine Reaktion auf die politisch korrekten Achtzigerjahre nun ebenfalls gefeiert wurde. Dieser unreflektierte Hedonismus wurde von den Medien heiß geliebt. Heute zeigt er sich in den Saufgelagen, die am Wochenende ganze Stadtzentren im Land blockieren. Er zeigt sich wohl auch in einer schwindenden Bereitschaft, sich mit komplexeren Sachverhalten wie etwa den Argumenten für und wider den Brexit auseinanderzusetzen. Das Bauchgefühl hat immer recht, so in etwa.

Nostalgie und Macho-Posen

Beyer: Das heißt, der Britpop hat vielleicht auch ein Stück weit die Machokultur mitbefördert, die ja ein grundlegendes Problem in der britischen Gesellschaft ist, nicht zuletzt weil dort immer noch an vielen Schulen Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet werden?
Künzler: Das ist auf jeden Fall so. Das alte Gefühl der Engländer, dass man über die Stränge hauen darf und soll, sonst ist man kein rechter Mann oder keine rechte Frau. Das ist vollkommen wieder zurückgekommen. Aber als Musikfan fand ich die Britpop-Zeit damals ganz großartig. Als Journalist war auch eine andere unerfreuliche Tendenz zu spüren. Denn tatsächlich löste der Boom in der britischen Musikindustrie so etwas wie eine Euphorie aus, die viel mit Nostalgie und Macho-Posen zu tun hatte. "Seht, ihr Resteuropäer, wir sind halt doch die besten", dieser Gedanke wurde zwar nicht ausgesprochen, aber man spürte ihn. Das Interesse auf das, was in anderen Ländern geschah, nahm merklich ab. So kam man nicht auf die Idee, dass im deutschen Sprachbereich etwa die Begeisterung für eine ewige Abfolge von identischen Kinks-Verschnitten seine Grenzen hatte. Langsam tat sich ein Graben auf zwischen den musikalischen Interessen von Kontinentaleuropa und denen von England. Abgesehen von Überfliegern wie Ed Sheeran und Adele ist dieser Graben heute breiter denn je.
Beyer: Vielen Dank, das war der Musikjournalist Hanspeter Künzler. Wir haben über die Frage gesprochen, ob der Erfolg des Britpop möglicherweise ein Erklärungsmuster für den Brexit liefern kann.
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