Dirk Müller: Automatisierter Aktienhandel "reine Zockerei"

Dirk Müller im Gespräch mit Susanne Führer · 23.05.2011
"Mr. DAX" Dirk Müller hält wenig vom Aktienhandel per Computer. Die vollständige Automatisierung und extreme Beschleunigung der Börsengeschäfte sieht er sogar als Gefahr: Die alte Praxis, in gute Ideen zu investieren, sei von "reiner Zockerei" abgelöst worden.
Susanne Führer: Freitag war der letzte Tag des klassischen Parketthandels an der Frankfurter Börse. Das heißt, es gibt keinen Handel auf Zuruf mehr. Seit heute Morgen werden sämtliche Aktien und Anleihen über das Computersystem Xetra gehandelt. Das ist, wenn man so will, der Beginn einer neuen Ära.

Und über den spreche ich nun mit dem Börsenmakler Dirk Müller, auch bekannt als Mister Dax, weil sein Arbeitsplatz direkt unter der DAX-Kurs-Tafel der Frankfurter Börse lag, man also aus seinem Gesichtsausdruck immer so schön ablesen konnte, wie der Kurs darüber wohl aussah. Guten Morgen, Herr Müller!

Dirk Müller: Ja, guten Morgen, Frau Führer!

Führer: Nun laufen seit Jahren ja schon 90 Prozent des Handels, über 90 Prozent des Handels elektronisch, seit heute sind es 100 Prozent – empfinden Sie vielleicht doch so etwas wie Wehmut?

Müller: Offengestanden, da hat sich eigentlich per heute Morgen nicht viel geändert. Der klassische Handel, wie man sich das noch vorstellt, mit Leuten, die übers Parkett flitzen und laut brüllen und wedeln, den gibt es schon seit einigen Jahren – leider, muss man sagen – nicht mehr, das hat komplett der Computer übernommen, der Mensch ist schlichtweg zu langsam geworden.

Und von daher gibt es eigentlich per heute Morgen gar keine großen Umstellungen, das würde man von außen gar nicht sehen. Wer heute sich die Fernsehberichte anschaut, der sieht die gleichen Bilder wie noch letzte Woche, und auch die Leute, die vor Ort sind, die sehen die gleichen Entwicklungen, die gleichen Gesichter wie noch vor einer Woche.

Also von daher hat sich gar nicht viel geändert. Es hat sich ein bisschen die Technik geändert, für die vor Ort arbeitenden Unternehmen gibt es sehr viele Neuerungen, die müssen sich auf sehr viel Neues einstellen, und die sind gar nicht glücklich über das, was da gerade passiert.

Führer: Dazu kommen wir gleich noch, aber das verstehe ich nicht so recht – ich meine, zehn Prozent sind doch immerhin zehn Prozent, wurde da sich nicht mehr so, wie wir das so kennen aus diesen schönen Filmen - "Wall Street" und so - laut zugerufen?

Müller: Nee, leider nicht mehr, seit einigen Jahren schon nicht mehr, laufen auch diese zehn Prozent schon elektronisch rein, nur über ein anderes System. Es gab ja diese zwei komplett getrennten Börsen, einmal Xetra fur den elektronischen Handel oder auf der anderen Seite Börse Frankfurt. Und dieses Börse Frankfurt lief über ein ganz eigenes, uraltes Handelssystem, elektronisch, und sämtliche Orders liefen schon in den letzten zwei, drei Jahren komplett über dieses elektronische Handelssystem, BÖGA hieß das.

Und das wird jetzt integriert in Xetra. Für den Kunden ändert sich da gar nicht viel, der merkt davon auch gar nicht viel. Für den Händler unten ändert sich ein bisschen was, weil jetzt auch an diesen Xetra die ausländischen Börsen angeschlossen sind beziehungsweise die ausländischen Marktteilnehmer. Jetzt kann jemand aus London auch in einer dieser kleinen Aktien handeln, die vorher nur in diesem alten BÖGA-System gehandelt wurden, und da hatten die Londoner beispielsweise gar keinen Zugang zu.

Führer: Sie haben gerade gesagt, Herr Müller, die Bilder ändern sich nicht, das heißt, der Handelssaal, den wir ja alle aus dem Fernsehen kennen, so dieses Bild, dieses schöne klassische Bild, der bleibt jetzt genauso voll oder leer wie vorher?

Müller: Der bleibt uns erhalten, ganz genau. Das ist leider vorbei, dass die Menschen da rumgerannt sind und miteinander gestikuliert und gestritten haben. Ich hab das noch gelernt, ich hab das viele Jahre gemacht und genossen. Es war eine ganz andere Art des Handels, es war auch ein Handel auf Augenhöhe. Man hat mit Menschen gehandelt, man hat sich gegenseitig respektiert und auch versucht, fair miteinander Geschäfte zu betreiben.

Das ist heute durch die Computer ganz anders geworden. Jeder sitzt, von den Händlern unten, ja, man muss sagen fast wie ein Autist vor dem Bildschirm und ist mit sich und der Elektronik alleine. Der Computer macht die Kurse komplett selbstständig, der Händler kann nur noch ab und zu ein paar Parameter einstellen, ansonsten machen die Maschinen alles von alleine und berechnen mit abenteuerlichen Algorithmen, wie sie am besten die anderen Rechner im System über den Tisch ziehen.

Das hat längst nichts mehr zu tun mit Investition in gute Ideen, in eine gute Aktie, sondern ist wirklich reine Zockerei. Und das Problem ist, dass dadurch die reale Wirtschaft und die Investition in gute Ideen hinten runterfallen.

Führer: Der Computerhandel ist schneller als der menschliche Handel, haben Sie gesagt, das leuchtet ein, aber weniger fehleranfällig scheint er ja nicht zu sein. Wir erinnern uns alle an diesen Beinahe-Börsencrash an der Wall Street wegen eines Computerfehlers. Ein Computerfehler der Deutschen Bank hatte die japanische Börse auch in schwere Unruhe versetzt, weil da plötzlich ein Verkaufsauftrag von 150 Milliarden Euro rumgeisterte, also so richtig freuen kann man sich über die Entwicklung vielleicht dann ja doch nicht?

Müller: Na ja, das gab es immer mal wieder, und das ist die Folge dieses Computerhandels, dass natürlich diese Computer ihre ganz eigenen Algorithmen entwickeln und unter Umständen auch in die gleiche Richtung handeln. Und dann verstärkt sich ein Trend. Also davor wird man auch künftig nie gefeit sein.

Ich bin gar kein großer Freund von dieser Entwicklung, denn wissen Sie, diese Beschleunigung, die hat für die Welt da draußen überhaupt keinen Vorteil, also die Beschleunigung des Aktienhandels oder des Börsenhandels. Wenn Computer gegeneinander handeln und in Nano- und Millisekunden Käufe und Verkäufe immer wieder hin und her tätigen, fallen jedes Mal Gebühren an, und jedes Mal klingelt die Kasse der Deutschen Börse AG. Und die hat natürlich ein großes Interesse daran, dass möglichst schnell sich dieses Glücksrad dreht.

Und diese extrem schnellen Bewegungen, die sorgen dafür, dass sie auch sehr schnelle, sehr hohe Bewegungen haben. Und ein normaler Investor wie Privatanleger oder eine Versicherung, die Aktien über sehr, sehr lange Zeiträume halten, die sagen sich, diese schnellen Schwankungen und diese hohen Ausschläge, die kann ich gar nicht mit meinem Risikoprofil abfangen.

Also können die nur sehr wenig Aktien überhaupt halten und halten sich aus dem Geschäft weitgehend raus. Und dieses Geld der Versicherungen und der privaten Anleger fehlt für Investitionen in gute Ideen, für junge Unternehmen, die Geld aufnehmen, um Maschinen zu kaufen, Arbeitsplätze zu schaffen, und die Börse verliert damit einen großen Teil ihrer Aufgabe.

Führer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Dirk Müller, seit heute wird an der Frankfurter Börse nur noch über Computer gehandelt, der Parketthandel ist ganz vorbei. Wann hat das denn angefangen, dass dieser Zurufhandel sehr in den Hintergrund gedrängt worden ist?

Müller: Ja, also eigentlich gibt es dieses Xetra ja schon seit über zehn Jahren, und mit dem Aufkommen dieses Computerhandels Xetra ist immer mehr Geschäft auch von dem reinen Maklergeschäft auf dieses elektronische System verlagert worden, zuerst die ganz großen Aktien und dann auch immer mehr die mittleren. Das ging einfach wesentlich schneller, wesentlich einfacher.

So eine Order war per Tastendruck innerhalb von kürzester Zeit im System. Wenn dann der Händler, der Bankhändler aus seiner Kabine rausgerannt ist zu dem Markt, um seine Order dort zu platzieren, dann hat das doch wesentlich länger gedauert. Und das hat sich eigentlich schon, vor zehn Jahren hat das etwas begonnen und vor fünf Jahren richtig massiv verschärft, sodass das meiste Geschäft wirklich über dieses elektronische Handelssystem Xetra gelaufen ist, auch dieses Zurufen praktisch keine Rolle mehr spielte.

Auch im Frankfurter Handel, im Börsenhandel wurde das dann über die Systeme, über die Maschinen eingespielt und nicht mehr zugerufen. Und es ist schade drum, weil eigentlich dieses Zuschreien ja auch viel Spaß gemacht hat. Es waren kurze, prägnante Sätze, kurze, prägnante Zurufe, die an Eindeutigkeit nicht zu überbieten waren, und das geht zunehmend verloren. Ich glaube, dass viele, die heute auf dem Parkett sind, gerade Jüngere, das gar nicht mehr könnten oder kennen, diesen Zurufhandel.

Da sind viele unten, die haben noch nie eine Order per Zuruf bekommen, so lange ist das schon her, also das können viele gar nicht mehr. Die Frage ist, ob diese extreme Geschwindigkeit, wie wir sie heute haben, unbedingt sein muss, oder ob die am Ende nicht sogar schädlicher ist. Und da sollte man mal überlegen, ob es da nicht vielleicht andere Möglichkeiten gibt.

Führer: Diesen Zurufhandel können heute viel gar nicht mehr, sagen Sie, das klingt so ein bisschen, wie wenn man über eine aussterbende Sprache spricht, denn das war ja auch ein eigener Jargon, nehme ich an, so wie wir über Minderheitensprachen sprechen, jeden Tag sterben einige Sprachen aus und die jetzt auch?

Müller: Ja, das kann man wirklich so sagen. Das sind auch Rituale und ...

Führer: Sagen Sie mal ein Beispiel, was hat man sich denn da zugerufen?

Müller: 70 Anilin von dir, Daimler 50 zu 30, bleibt Geld, mine, your size is my size ... Es gab auch Formulierungen, die einen ruinieren konnten, wenn man es nicht wusste. Wenn jemand ausgerufen hat, dass er beispielsweise Daimler-Aktien zu verkaufen hat und es hat jemand den Fehler gemacht, ihn zu fragen, wie viel hast du denn da – das wäre jetzt so eine Floskel, wo man sich gar nichts bei denken würde.

Aber das heißt in der Börsensprache: Ich kauf dir alles ab, was du da hast, und zu diesem Angebot stehe ich unbedingt. Also der hätte dann sagen können, ich verkaufe dir die gesamte Firma Daimler, mit diesem Handschlag, und der hätte das machen müssen.

Führer: Am schönsten finde ich ja den Ruf: Geld!

Müller: Bleibt Geld!

Führer: ... den finde ich immer passend.

Müller: Das heißt, ich kauf noch was.

Führer: Herr Müller, Sie haben ja mal erzählt, dass Sie so fasziniert waren vom Beruf des Brokers, des Börsenhändlers durch den Film "Wall Street", weil man da ja sieht diesen Schreihandel, muss man ja fast schon sagen, ist ja nicht mehr Parketthandel. Tja, solche Leute werden Sie jetzt nicht mehr gewinnen, wer kommt denn heute, wie gewinnen Sie denn heute Ihren Nachwuchs?

Müller: Tja, das ist die gute Frage. Offen gestanden, ich weiß nicht, ob ich es überhaupt jemandem groß empfehlen kann. Dieser Job momentan unten am Parkett, der macht wirklich noch bedingt Spaß, da muss man wirklich eine sehr große Vorliebe für die Computer haben und für den Computerhandel.

Gut, das sind viele junge Leute, die jetzt aus den Schulen kommen, die aus den Universitäten kommen, die es gar nicht kennen als diesen Handel mit dem Computer, diesen Kampf mit der Maschine, und die daran Spaß haben. Und die kommen von ganz alleine und bewerben sich bei den Maklerfirmen oder über die Banken als Trader. Es hat mit dem alten Geschäftsmodell gar nichts zu tun, aber das ist halt so. Berufsbilder sterben aus, verändern sich – dem darf man nicht unbedingt nachweinen. Da kann man sagen, Mensch, das hat Spaß gemacht, ich hab's geliebt, diesen Ausschrei-Handel oder diesen Open Outcry.

Man konnte auch wirklich Adrenalin abbauen durch diese Rumschreierei und diese Aktivität. Heute frisst man das in sich rein, während man vor der Maschine sitzt, denn die Emotionen sind ja in einem drin, in dem Händler immer noch da. Und dann darf man nicht nachweinen, das ist halt so. Da endet was, was anderes beginnt, und ob das früher immer alles besser war, weiß man dann am Ende auch nicht.

Führer: Das stimmt, das haben Sie jetzt weise gesagt. Ich glaube auch, dass das gesünder war, wenn man sein Adrenalin da gleich so abbauen kann.

Müller: Absolut.

Führer: Das ist ja furchtbar.

Müller: Ich hab da ganz viel merkwürdige Dinge gerade in der Anfangszeit erlebt, wo man das noch bewusst aufgenommen hat: Ich kam rein, da ist mir jemand entgegengelaufen, im Hochsommer, hat mich angeguckt und Weihnachtslieder gesungen. Das war einfach seine Art, den Stress abzubauen, den innerlichen.

Oder ein anderer, Joe Kelbel, der hat mindestens fünfmal am Tag laut aus aller Kehler geschrien wie Dieter Bohlen: Naddel! Das hatte überhaupt keinen Sinn oder Zusammenhang, aber das war einfach für ihn - er musste, das jetzt rauslassen und dann war wieder gut. Gefolgt von: Ich will hier raus! Das hat er jetzt geschafft, er ist ja nicht mehr da.

Oder so alte Traditionen, wenn beispielsweise einer der Händler zum Kurs gerufen werden wollte, weil er sagte, Mensch pass auf, in der Aktie bin ich dabei, wenn du dann Kurs machst, ruf mich zum Kurs. Und dann hat der Makler den gerufen: Stauderer! So hieß der, und der kam dann ganz hinten aus seinem Kabuff raus, und den ganzen Weg, den er dann zugelaufen kam, hat der ganze Saal parallel in einem Ton dieses nachgeäfft: Stauderer!

Und das waren einfach so verrückte Sachen, die aber unheimlich Spaß gemacht haben, die verbunden haben, die Humor reingebracht haben und auch Adrenalin abgebaut haben, ganz bestimmt.

Führer: Der Börsenmakler Dirk Müller im Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Müller!

Müller: Herzlichen Dank!
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