Dirk Jörke: "Die Größe der Demokratie"

Demokratie braucht wenig Platz

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Eine Combo zeigt das Buchcover "Die Größe der Demokratie" von Dirk Jörke vor einer Illustration, die Menschen an einem Besprechungstisch bei einer Abstimmung per Handzeichen zeigt.
Dass republikanische Demokratien sich sich im Kleinen realisieren, will Dirk Jörke in seinem Buch zeigen. © Suhrkamp Verlag / imago images / Ikon Images
Von Josephine Schulz · 25.05.2019
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Europa ist zu groß: Diese These vertritt der Politologe Dirk Jörke in seinem Buch "Die Größe der Demokratie". Quer durch die politische Ideengeschichte sieht er sich darin bestätigt, dass echte Demokratie auf Nähe beruhe.
In deutschen Großstädten schießen die Mieten in die Höhe, weil internationale Investoren mit den Immobilien Rendite machen. Saisonarbeiter aus Osteuropa schuften zu Hungerlöhnen auf deutschen Feldern. Und in Südeuropa fehlen Ärzte und Pfleger, weil die im Norden den Fachkräftemangel kompensieren.
Es sind soziale Probleme dieser Art, die den Politikwissenschaftler Dirk Jörke zu seinem Essay über die EU bewogen haben. Eine Europäische Union, die er in ihren Grundzügen als neoliberal und undemokratisch darstellt. Das lasse sich auch kaum beheben, argumentiert Jörke. Denn, so die Grundthese seines Buches, mit der Vergrößerung politischer und wirtschaftlicher Räume gehe zwangsläufig ein Verlust von Demokratie einher.

Zurück zum Rousseauschen Kollektiv

Größe und Demokratie vertragen sich also nicht. Zumindest, wenn man ein Demokratieverständnis vertritt, das sich mit Wahlen und einem Rechtsstaat zum Schutz liberaler Freiheitsrechte nicht begnügt. Jörke stellt dem liberal-repräsentativen Modell das republikanische Ideal gegenüber. Eine Demokratie, die das Kollektiv über das Individuum stellt, die auf Solidarität und einer basisnahen, partizipativen Willensbildung basiert.
Mit einem Ritt durch die Ideengeschichte – von der attischen Demokratie über Montesquieu und Rousseau bis zu den Anti-Federalists – will Jörke zeigen, dass sich republikanische Demokratien im Kleinen realisieren, aber nicht auf große Räume übertragen lassen. Der Grund: Für eine echte – also republikanische – Demokratie seien ein gewisses Maß an sozialer und kultureller Homogenität nötig, ein Gefühl von Gemeinschaft, sowie eine enge Bindung der Politiker an die Bevölkerung. Mit Statistiken zum Stand der Demokratie in den Nationalstaaten versucht er, seine These empirisch zu unterfüttern.

EU-Vertiefung: eine naive Illusion

Jörkes Kritik am Demokratiedefizit der EU und an der neoliberalen Ausrichtung ist unter linken Intellektuellen weitgehend Konsens. Kontrovers ist allerdings seine Empfehlung. Denn er wendet sich mit seinem Buch gegen all jene, die zur Lösung transnationaler Probleme – vom Klimawandel bis zur sozialen Spaltung – auf eine Vertiefung und Demokratisierung der EU setzen.
Vorschlägen, die Kompetenzen des EU-Parlaments zu erweitern und eine EU-Regierung aus dem Parlament heraus zu bilden und transnationale Parteien zu formen, erteilt er eine Absage. Er hält die Demokratisierung der EU für eine naive Illusion, weil es an den nötigen Voraussetzungen fehle: Gemeinschaftsgefühl, gemeinsame Öffentlichkeit, soziale und kulturelle Ähnlichkeit.
"Europa braucht ohne Zweifel mehr Demokratie, doch das lässt sich auf dem bislang eingeschlagenen Weg einer 'immer engeren Union' nicht bewerkstelligen. Dieser führt vielmehr zur Verfestigung neoliberaler und technokratischer Strukturen mit scheindemokratischem Beiwerk", schreibt Jörke.
Sein Rezept lautet, wirtschaftspolitische Kompetenzen an die Nationalstaaten zurückzugeben, um die dortigen Demokratien wieder zu stärken. Auf europäischer Ebene sollten die Staaten als Konföderation zusammenarbeiten.

Demokratie ist mehr als der Status Quo

Jörkes Lösungsvorschläge und die vermeintlichen Zusammenhänge von Größe und Demokratie können an vielen Stellen nicht wirklich überzeugen. Etwa, wo der grundlegende Unterschied zwischen einem Land mit 30 Millionen oder 300 Millionen Menschen liegen soll? In beiden Fällen können sich Identifikation, Gemeinschaftsgefühl und Solidarität kaum aus einem gelebten Miteinander speisen, sondern müssen abstrakt hergestellt werden. Auch die Idee, dass eine neoliberale Politik notwendigerweise mit der Größe eines Gemeinwesens zu tun haben soll, scheint wenig plausibel.
Trotzdem ist das Buch ein interessanter und wichtiger Beitrag. In einer Zeit, da sich die Debatte um Europa auf ein Dafür versus Dagegen zugespitzt und damit echte inhaltliche Auseinandersetzung über Probleme und Zukunftsvisionen verdrängt hat, regt Jörke dazu an, wieder normativ über Demokratie zu diskutieren, anstatt nur den Status Quo hochzuloben.
Er liefert mit seinem Essay einen produktiven Kontrast zu dem verbreiteten Diskurs, wonach Globalisierung, Demokratie und liberale Markwirtschaft untrennbar miteinander verbunden und gleichermaßen schützenswert sind.

Dirk Jörke: "Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
283 Seiten, 18,50 Euro

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