Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

"Rasse" im Kopf
Man sieht es doch! – Was sieht man?!

Das Konzept „Rasse“ hält sich hartnäckig in den Köpfen. Doch wissenschaftlich begründet ist es nicht. Wer Menschen nach ihrer Hautfarbe einteilt, erfasst ein unwesentliches Merkmal von Individuen, entstanden an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Erkenntnis gewinnt man so nicht.

Von Lydia Heller | 31.12.2020
Eine Collage aus vielen Gesichtern aller Hautfarben
In der bunten Ästhetik der Stockfotografie ist die Welt divers und freundlich. In der Realität stecken in unseren Köpfen noch alte Konzepte. (imago)
"Also biologisch lässt sich keine Rasse begründen. Um es ganz einfach zu sagen." Martin Fischer ist Direktor des Instituts für Zoologie und Evolutionsbiologie in Jena und Mitautor der "Jenaer Erklärung", die vorschlägt, den Begriff "Rasse" aus der Biologie zu streichen:
"Wir können tatsächlich diesen Begriff aus unserer Sicht redlicher Weise nicht mehr benutzen. Und zwar – außer bei Haustieren – auch nicht bei Vogelrassen oder sonst was. Wir sagen radikal: Das ist etwas nicht Beschreibbares und nicht Erkennbares." Das ist 2019.
Prof. Dr. Dr. h. c. Martin S. Fischer hält ein Quallenmodell in den Händen, im Hintergrund Fotografien von Quallen. (Eröffnung der Quallenausstellung im Phyletischen Museum Jena 2019)
Prof. Martin S. Fischer ist Mitautor der "Jenaer Erklärung" zur Abschaffung des Rassebegriffs (imago)
"Ich sag Dir mal ungefähr, wie’s läuft. Du gehst hin und sagst: Hallo, ich bin Idil und ich bin deutsch." Die Kabarettistin Idil Baydar auf einem Podcast-Festival über Reaktionen auf ihren Namen. "Und denn sagt er: Nee, also nur, weil ne Ratte im Pferdestall geboren ist, isset noch lange kein Pferd." Das ist auch 2019.
Martin Fischer: "Wir werden häufig gefragt: Wenn wir nicht mehr ‚Rasse‘ sagen dürfen – was schon schlimm genug ist, dieser Satz – wenn wir nicht mehr ‚Rasse‘ sagen dürfen, was sollen wir denn dann sagen? Sollen wir jetzt Population sagen? Sollen wir Ethnie sagen? Das Erste, was ich antworten würde: Man soll nicht ‚Rasse‘ nicht mehr sagen, sondern man soll ‚Rasse‘ nicht mehr denken."
Uneindeutige UNESCO-Erklärung zum Rassenbegriff
1950. Nach zwei Weltkriegen und Holocaust veröffentlicht eine Gruppe internationaler Natur- und Sozialwissenschaftler das UNESCO-Statement "Die Rassen-Frage". Satz eins:
"Wissenschaftler sind sich allgemein darin einig, dass alle Menschen zur selben Spezies, dem Homo sapiens, gehören."
Ein Meilenstein. Der festhalten soll, was schon damals als Forschungsstand gilt: dass es für "Rasse" keine biologische Grundlage gibt.
In der aktualisierten Fassung ein Jahr später steht allerdings: Wir sind vorsichtig damit zu sagen, dass es keine "Rassen" gibt. Denn:
"Die Anthropologen und der Mann von der Straße wissen beide, dass Rassen existieren; ersterer aus messbaren Merkmalen, letzterer durch die unmittelbare Wahrnehmung, wenn er einen Afrikaner, einen Europäer, einen Asiaten und einen amerikanischen Ureinwohner zusammen sieht."
Bis heute wird die Debatte immer wieder neu aufgerollt. Was hält sie am Leben?
Gedenkfeier im Französischen Dom am 29. August 2018: Schädel von Herero und Nama 
Rassendenken Teil 1 - Über die rassistischen Wurzeln von Wissenschaft
"Menschenrassen" sind eine Erfindung. Doch diese Erkenntnis reicht offensichtlich nicht, um den Rassismus aus der Welt zu schaffen. Eine Mitverantwortung trägt ausgerechnet die Wissenschaft.
Eine Geschichte der "Rassen-Wissenschaft"
Die britische Autorin Angela Saini hat in ihrem Buch "Superior" nachgezeichnet, wie Wissenschaft dazu beigetragen hat, die Idee von "Menschenrassen" zu entwerfen. Und wie sie immer wieder dazu beiträgt – bewusst oder unbewusst –, dass diese Idee nicht verschwindet:
"Ich war überrascht, dass mir die Wissenschaftler auf diesem Gebiet immer wieder sagten, dass ihre Erkenntnisse die Rasse-Kategorien nicht unterstützen. Rasse ist wirklich eine soziale Konstruktion. Das war eigentlich ein Affront gegen mein Selbstverständnis – ich bin mit bestimmten Vorstellungen über die Natur menschlicher Unterschiede aufgewachsen, von denen ich dachte, sie würden diese Rassenkategorien zum Teil rechtfertigen. Was ich gelernt habe: Sie tun es nicht."
Portraitfoto von Angela Saini, Lissabon (22.07.2019)
Angela Saini, Autorin der Bücher "Superior" und "Inferior" (imago)
Durch "unmittelbare Wahrnehmung" seien Afrikaner, Europäer, Asiaten und amerikanische Ureinwohner zu unterscheiden, heißt es 1951 also. Ein Rückgriff auf eine alte Annahme: dass eine natürliche Verbindung besteht zwischen der Erscheinung eines Menschen und seiner Herkunft – oder seiner Erscheinung und der Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe von Menschen.
Die fünf "Rassen" des Johann Friedrich Blumenbach
Seit etwa 300 Jahren funktioniert diese Verbindung vor allem über Hautfarben. Und schon genauso lange ist sie in dieser Allgemeinheit: eine Zuschreibung. Begründet durch Forscher. Angela Saini:
"Der Mann zum Beispiel, der den Begriff ‚kaukasische Rasse‘ geprägt hat – der Naturforscher Johann Blumenbach – für den war jeder Mensch von Nordindien bis nach Westeuropa ‚Kaukasier‘. Danach wäre ich auch 'kaukasisch'. Für einige bin ich ‚kaukasisch‘, für andere aber bin ich braun, politisch bin ich schwarz – also: was bedeuten diese Kategorien letztendlich? ... Und trotzdem wird 'kaukasisch' heute noch benutzt, um Weiße zu beschreiben. Es hört sich wissenschaftlich an. Aber das war es nie, es war immer willkürlich. Und es ist immer noch willkürlich."
Links eine Illustration der fünf von Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) postulierten Rassen: Kaukasisch, Mongolisch, Malaiisch, Äthiopisch und Amerikanisch; rechts das Titelblatt seines Buches "Über die natürlichen Verschiedenheiten des Menschengeschlechtes"
Die "kaukasische Rasse" stand für Johann Friedrich Blumenbach im Zentrum. Sein Postulat findet sich in späteren Illustrationen wieder und prägt das Weltbild ganzer Generationen. (imago)
Insgesamt unterscheidet Blumenbach 1781 fünf "Rassen". Er schließt damit unter anderem an den schwedischen Botaniker Carl von Linné an, der rund 50 Jahre zuvor die Art Mensch – Homo sapiens – in vier "Varietäten" eingeteilt hatte, die bis heute benutzt werden: Europäer, Amerikaner, Afrikaner, Asiaten – Linné zufolge zu erkennen an den Hautfarben gelb, schwarz, rot und weiß.
"Scharfe Unterscheidungsmerkmale kaum aufzufinden"
Auch Charles Darwin hält 1875 die Existenz von Menschenrassen für möglich. Er merkt allerdings an, dass seine Zeitgenossen nicht einig sind, ob es nun eine oder 63 "Rassen" gibt. Und, dass diese offenbar "allmählich ineinander übergehen und es kaum möglich ist, scharfe Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen aufzufinden".
"Wenn Sie von Deutschland aus zu Fuß nach Südafrika aufbrechen, dann werden Sie entlang des Wegs Menschen begegnen, deren Aussehen sich ganz allmählich verändert." Sagt Mark Jobling. Der Professor für Evolutionsgenetik an der Universität Leicester spricht – ähnlich wie Darwin – von Gradienten, wenn er erklärt, warum Menschen in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich aussehen. Zwischen ihnen existieren keine harten Grenzen, vielmehr geht jede Gruppe in die nächste über, so wie Hügel in Täler übergehen.
Anpassung an die lokale Umgebung
Wo beginnt der Hügel? Wo beginnt das Tal? Schaut man lediglich jeweils auf die Spitze eines Hügels und in die Talsohle, findet man verschiedene Phänotypen. Populationsgenetiker erklären sie mit dem sogenannten "Gründer-Effekt". Jobling:
"Gründereffekt – das heißt: man hat eine Gruppe von Menschen mit einer bestimmten genetischen Vielfalt. Von ihr trennt sich ein Teil, zieht weg, lässt sich an einem anderen Ort nieder und etabliert sich dort. Diese Subgruppe repräsentiert aber nur einen Teil der Diversität der Gruppe, von der sie sich abspaltete. Die neue Population mag zwar irgendwann auf die gleiche Größe anwachsen, aber sie wird genetisch weniger divers sein."
Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg-Schwerin war der letzte Gouverneur der Kolonie Togo, hier bei einem Besuch 1960.
Rassendenken Teil 2 - Weiße Flecken auf wissenschaftlicher Landkarte
"Menschenrassen" sind wissenschaftlich nicht belegbar. Doch in Schulbüchern, an Universitäten, in der Art und Weise, wie Wissen produziert wird, pflanzen sich überholte Sichtweisen fort.
Seit Menschen beginnen, sich auf der Erde auszubreiten, passiert das immer wieder: Einige trennen sich von ihren ursprünglichen Gruppen ab, werden an neuen Orten sesshaft und passen sich an die lokale Umgebung an. An verschiedene Klimazonen, Höhenlagen, Ökosysteme. Sie beginnen, anders auszusehen als ihre Verwandten, die sie Generationen zuvor in den anderen Teilen der Welt verlassen haben. Innerhalb ihrer Gruppe aber werden sie – phänotypisch – ähnlicher. Jobling:
"In nördlichen Breiten, wo die Sonne weniger stark ist, ist eine helle Haut von Vorteil, weil sie zur Bildung von Vitamin D beiträgt. Wenn man die richtige Menge Vitamin D im Körper hat, sind die Knochen stark und man ist gesund. Mit einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel gibt es Probleme. Also – die natürliche Selektion arbeitet zugunsten heller Haut bei Menschen in nördlichen Breiten."
Kulturelle Anpassung überwiegt gegenüber biologischer
Auch dunkle Haut ist eine Anpassung an Umweltbedingungen: ein Schutz vor hoher UV-Strahlung, mehrfach entstanden entlang des Äquators in Afrika, Zentral- und Südamerika und Südostasien, als der Mensch seine Behaarung verlor. Zugleich sehen Evolutionsbiologen: Sind Menschen in einer Gegend – in evolutionären Zeiträumen betrachtet – noch nicht so lange ansässig, dann überwiegt die kulturelle Anpassung gegenüber der biologischen: Die Menschen westlich des Roten Meeres etwa leben in der Region schon seit rund 6.000 Jahren – sie sind im Durchschnitt dunkler als die meisten Menschen auf der arabischen Halbinsel gegenüber, die dort erst seit rund 2.000 Jahren leben. Und sich stark über Kleidung und Wohnung an die Gegend angepasst haben.
Altägyptische Malerei, Illustration aus Meyers Konversationslexikon von 1897 Auf dem Wandgemälde sind Menschen in drei verschiedenen Hautfarben abgebildet, möglicherweise Angehörige verschiedener Ethnien 
Verschiedene Hautfarben haben Menschen immer schon wahrgenommen: Altägyptische Malerei (imago)
Dass Unterschiede zwischen Gruppen von Menschen erheblich von Geografie und Kultur geprägt werden und nicht nur auf eine bestimmte Biologie zurückgehen – diese Ansicht setzt sich in den 1960er- und 70er-Jahren zwar immer mehr durch. Angela Saini:
"Das heißt aber nicht, dass Menschen nicht immer noch in Rasse-Kategorien denken. Auch wohlmeinende Menschen, die glauben, dass sie sich jenseits davon befinden. Wenn wir andere Menschen beschreiben oder uns selbst, dann verwenden wir oft rassische Kategorien. Und im Fernsehen, in Büchern – überall sind wir von Stereotypen umgeben. Davon sind Wissenschaftler genauso betroffen. Außerdem arbeiten Wissenschaftler immer mit dem Wissen, das sie vorfinden. Ein Wissenschaftler, der in den 1960er-Jahren gearbeitet hat – in der Zeit, in der sich der Konsens bildete, dass Rasse ein soziales Konstrukt ist –, der ist vor dem Zweiten Weltkrieg ausgebildet worden. Mit diesen Ideen über Eugenik und Rasse. Die verschwinden nicht so einfach."
Wegweisende Studie zu genetischen Unterschieden
1972 veröffentlicht der Genetiker Richard Lewontin die Ergebnisse seiner Studie zu genetischen Unterschieden zwischen Menschen. Er hatte sie in sieben verschiedene Populationen eingeteilt, die weitgehend den alten "Rasse"-Kategorien entsprachen. Sie basierten also – weiter, wieder – in erster Linie auf Hautfarben. Ergebnis: Hautfarben suggerieren weitaus mehr Ähnlichkeit zwischen Menschen gleicher – und mehr Verschiedenheit zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, als "unter der Haut" zu finden ist. Etwa 90 Prozent der genetischen Unterschiede fand Lewontin bei Angehörigen derselben Gruppe – viel mehr als zwischen den Gruppen. Zwar wurde seine Methode später kritisiert, das Ergebnis aber ist seither mehrfach bestätigt worden: Menschen mit ähnlicher Hautfarbe sind sich genetisch nicht unbedingt ähnlicher. Und anders als Menschen mit anderer Hautfarbe sind sie genetisch auch nicht.
Genom weitestgehend bei jedem Menschen gleich
Jedenfalls nicht signifikant. Seit 2003 die Endergebnisse des Humangenomprojekts veröffentlicht wurden, ist bekannt: Etwa drei Milliarden Basenpaare hat das menschliche Genom – und zu 99,8 bis 99,9 Prozent sind sie bei jedem Menschen gleich. Es bleibt ein variabler Teil von 0,1 bis 0,2 Prozent, in dem sich Individuen unterscheiden – das heißt, alle 500 bis 1.000 Basen taucht eine Variation auf, die ein Individuum aufweist und ein anderes nicht.
Professor Dr. Johannes Krause, Direktor der Abteilung Archäogenetik am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Jena. 
Professor Dr. Johannes Krause, Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena (Foto: Sven Döring / Agentur Focus)
Mit diesen rund fünf bis sechs Millionen Unterschieden im Genom hängt letztlich zusammen, ob jemand zum Beispiel anfällig für bestimmte Krankheiten ist, ob er groß oder klein ist, welche Blutgruppe, Augen- oder eben Hautfarbe er hat.
"Wenn ich zwei durchschnittliche Mitteleuropäer nehme wie meine Mutter und meinen Vater, dann finde ich zwischen den beiden ungefähr vier Millionen Unterschiede im Genom. An vier Millionen Stellen im Genom unterscheiden die beiden sich. Wenn ich jetzt aber eine Person aus China nehme und vergleiche die mit einem Mitteleuropäer, dann finde ich ungefähr fünf Millionen Unterschiede."
Es gibt Unterschiede - aber eben nur sehr wenige
Professor Johannes Krause, Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena untersucht, wie sich die genetische Verwandtschaft zwischen Menschen über Jahrtausende hinweg entwickelt und verändert hat:
"Das heißt, ich finde schon mehr Unterschiede zwischen dem Mitteleuropäer und einem Chinesen – aber da vier Millionen Unterschiede schon innerhalb Mitteleuropas bestehen, quasi 80 Prozent, 90 Prozent der Unterschiede – dann kommen nur wenige Prozent dazu, wenn ich dann das Ganze mit einem Asiaten vergleiche. Das muss einem halt bewusst sein."
Genetische Vielfalt weltweit verteilt
Die Forschung kennt bisher kein einziges Basenpaar im Humangenom, das ausschließlich bei Menschen eines Kontinents vorkommt und bei Menschen eines anderen nicht. Die genetischen Varianten tauchen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen lediglich mehr oder weniger häufig auf. Und der überwiegende Teil dieser Varianten findet sich – auch nach aktuellem Forschungsstand – innerhalb von Bevölkerungsgruppen. Und nicht zwischen ihnen. Mark Jobling:
"Man könnte sich eine globale Katastrophe vorstellen, bei der nur, sagen wir, die Peruaner überleben. Dann würden 85 oder mehr Prozent der genetischen Vielfalt der Spezies Mensch als solcher erhalten bleiben."
Auf der Weltkarte in Meyers Konversationslexikon (4.Auflage, Leipzig, 1885–1890) sind die "Verbreitungsgebiete der Menschenrassen" in verschiedenen Farben markiert - in Zentraleuropa die "Arier" in hellblau
Wissenschaftlich nicht mehr so ganz top-aktuell: Weltkarte "Die Verbreitung der Menschenrassen" in Meyers Konversationslexikon (Michael Gessat/gemeinfrei)
Blick auf statistische Häufungen liefert nicht das ganze Bild
Das heißt aber auch: Greift man sich Gruppen von Menschen heraus und sucht nach Unterschieden, findet man welche, wenn auch geringe. Zumindest in Form statistischer Häufungen. Man beschreibt damit allerdings nur Teile des Ganzen und ignoriert alle Verbindungen zwischen ihnen. Man betrachtet Ausschnitte, kein ganzes Bild. Jobling:
"Genau das hat man in der Vergangenheit getan – und das hat die Idee verstärkt, dass es radikale Unterschiede zwischen den Gruppen gibt."
Die moderne Genetik bestätigt: "Rasse"-Kategorien erfassen die menschliche Diversität nicht – in ihren Kontinuitäten und Überlappungen innerhalb und zwischen Menschengruppen. Deshalb konnte man sich nie darauf einigen, wieviele "Rassen" es gibt. Aber es gibt einen Zusammenhang zwischen bestimmten Merkmalen und geografischer Herkunft? Angela Saini:
"Die Forschung beschwört die Idee von ‚Rasse‘ immer wieder herauf. Wir sehen es gerade in der Genetik, bei den Abstammungstests etwa. Wenn die sagen: Du bist zu 96 Prozent süd-asiatisch, so wie es bei mir war, oder du bist 50 Prozent dieses oder jenes – dann fühlt sich ‚Rasse‘ ganz real an. Denn wenn man solche Tests machen kann – wie kann sie dann nicht real sein?
Modelle der Menschheitsevolution
Evolutionär gesehen ist Homo sapiens eine junge Spezies – deren Wurzeln in Afrika liegen. Das ist unbestritten, mindestens seit den 1970er-Jahren. Johannes Krause:
"Wo sich die Geister oder die Anthropologen dann aber doch geschieden haben, war, wo der moderne Mensch entstanden ist, Homo sapiens. Ob wir auch in Afrika entstanden sind und dann von Afrika ausgewandert sind, um die Welt zu besiedeln, oder ob wir auf allen Kontinenten parallel entstanden sind. Das würde dann bedeuten, dass der Neandertaler der Vorfahre der Europäer ist, dass der Homo erectus der Vorfahre der Ostasiaten ist und dass der Homo ergaster in Afrika der Vorfahre der heutigen Menschen in Afrika wäre."
So soll er laut Forschern ausgesehen haben: Die Nachbildung eines älteren Neandertalers.
Die Nachbildung eines älteren Neandertalers im Neanderthal-Museum in Mettmann. (dpa/Federico Gambarini)
Noch bis in die 1990er-Jahre hinein ist diese "multiregionale Theorie" die Mehrheitsmeinung in der Paläoanthropologie. Sie stützt die Sichtweise, dass die modernen Menschenpopulationen auf den Kontinenten aus verschiedenen Urmenschen, verschiedenen Spezies, hervorgegangen sein könnten und es sich daher auch bei ihnen um verschiedene Spezies handeln könnte.
"Out of Africa"-These hat sich durchgesetzt
Heute herrscht die Ansicht vor, dass sich der moderne Mensch in Afrika entwickelt hat. Dass er vor circa 60.000 Jahren begann, von dort auszuwandern, in Europa und Asien neben Neandertalern und Denisova-Menschen lebte, sich mit ihnen vermischte – und sie schließlich verdrängte. Dass sich diese "Out of Africa" genannte Theorie durchgesetzt hat, das liegt unter anderem an der Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms, an dem Johannes Krause in den 2000er-Jahren mitwirkt:
"Da konnte man genau zeigen: Wieviel DNA steckt in uns vom Neandertaler? Wie viel DNA steckt in uns von einem Menschen, der Afrika vor 50/60.000 Jahren verlassen hat? Und konnte das dann quantifizieren: Ungefähr 98 Prozent der DNA der Menschen außerhalb Afrikas stammen aus Afrika und ungefähr zwei Prozent vom Neandertaler. Das heißt: multiregional stimmt nur für zwei Prozent des Genoms und 98 Prozent stammen aus Afrika."
Drei Populationen als Urahnen der Menschen in Deutschland
In Afrika befinden sich die ältesten menschlichen Gemeinschaften. Auf sie wirkte kein Gründereffekt, deshalb findet sich auf dem Kontinent mehr genetische Vielfalt als im Rest der Welt. Sie nimmt ab, je mobiler die Menschen im Laufe der Jahrtausende werden, je weniger Wüsten, Gebirge oder Meere ihren Bewegungsradius einschränken können. Krause:
"Für Menschen, die in beispielsweise Deutschland heute wohnen, können wir zeigen, dass sie ihre Herkunft aus drei unterschiedlichen Populationen haben. Das eine sind die Menschen, die vor 40.000 Jahren hier eingewandert sind, nach Europa. Das ist ungefähr 20 Prozent unserer Gene. 50 Prozent unserer Gene sind vor ungefähr 8.000 Jahren, beginnend aus Anatolien, nach Mitteleuropa eingewandert und ungefähr nochmal 30 Prozent stammen von einer Population, die im Süden von Russland gelebt hat und vor ungefähr 5.000 Jahren eingewandert ist und sich dann vermischt hat."
Endlose Geschichte von Wanderung, Eroberung und Vermischung
Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Kultur im Europa der Jungsteinzeit. Aunjetitz-Kultur in der Bronzezeit. Kelten oder Etrusker rund tausend Jahre später, noch später Griechen und Römer – dann Germanen, Wikinger oder Slawen! Sie alle sind jeweils Ergebnis von Wanderung und Eroberung, Verdrängung, Vermischung und Austausch. Genetisch, kulturell und technisch – und ohne scharfe Grenzen hinsichtlich der Zeiträume und der Gebiete, in denen sie lebten. Krause:
"Da macht es natürlich wenig Sinn, von Rassen zu reden oder von reinen Populationen oder von Völkern. Das sind politische Einheiten und keine biologischen oder genetischen Einheiten."
Fehlinterpretation vermeintlicher biologischer Unterschiede
"Rassen" sind politische Einheiten. In einem spezifischen historischen Kontext. Wer nach ihren biologischen Grundlagen sucht, sucht daher immer auch nach einer "natürlichen" Erklärung für politische Verhältnisse. Angela Saini:
"Es gibt eine Menge wundervoller sozialwissenschaftlicher Literatur zu den Folgen von Rassendiskriminierung. Sie kann viele der sogenannten biologischen Unterschiede erklären, die wir in der Gesellschaft sehen. Zum Beispiel gesundheitliche Unterschiede – dass schwarze Amerikaner eine niedrigere Lebenserwartung haben und stärker unter vielen Krankheiten leiden. Und es gibt da bestimmte Bereiche, die stärker von Rassismus betroffen sind, wie die Intelligenzforschung".
Migration, Vermischung und Austausch, schreibt Johannes Krause in seinem Buch "Die Reise unserer Gene", verliefen in der Menschheitsgeschichte selten ohne Gewalt. Und wenn Herrschaft erobert wird und aufrechterhalten werden muss, liegt es nahe, sie auf körperliche oder geistige Überlegenheit zurückzuführen. In der Kolonialzeit sollten Schädelvermessungen Hinweise auf kognitive Fähigkeiten liefern, später die ersten Intelligenztests, heute sucht man Gene oder Gen-Kombinationen, die Intelligenz und Bildungserfolg beeinflussen.
Heikles Dauerthema: Genetik der Intelligenz
Und man findet sie! Erst 2018 etwa stellten Forscher des "Social Science Genetic Association Consortium" mehr als 1.000 Genvarianten vor, die bis zu 13 Prozent den Bildungsstand und bis zu zehn Prozent die kognitive Leistung erklären sollen. Unterschiedliche Intelligenz bei Menschen, das ist ein verbreiteter Konsens, lässt sich nur zum Teil durch Umwelteinflüsse erklären.
Professor Andreas Heinz, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin erforscht den Einfluss von Genetik und Umwelt auf die Intelligenzleistung:
"Also – Sie müssen immer bedenken, das ist ein Puzzle mit ganz kleinen Signifikanzen. Deswegen haben wir zum Beispiel nach epigenetischen Korrelaten geschaut. Epigenetik ist die Frage: Wie werden bestimmte Gene abgelesen? Und diese Ablesbarkeit ist ein stückweit durch Umweltfaktoren gesteuert. Und wir haben jetzt bei einer explorativen Studie einen relativ großen Einfluss gefunden. Der war genauso hoch wie der Gesamteinfluss, den wir mit etablierten genetischen Markern finden konnten. Beides erklärt jeweils zwei Prozent der IQ-Leistung. Ungefähr zwei Prozent erklärt die Epigenetik, zwei Prozent erklären genetische Varianzen, noch einmal zwei Prozent erklären Hirnvolumina und so weiter. Also – alle diese biologischen Bestandteile spielen eine Rolle, sind aber in ihrer Auswirkung auf das, was wir messen, diese Testleistung, viel begrenzter, als man denkt."
Genetische und kulturelle Faktoren werden verwechselt
Zudem: Wie Gene auf das Gehirn wirken, lässt sich bisher zwar für einige Krankheiten sagen, nicht aber für etwas wie "Intelligenz". Die auch von Forschern oft nicht konkreter definiert wird als "das, was Intelligenztests messen". Deren Aussagekraft wiederum umstritten ist – und bei denen sich bis heute eine Schlagseite zugunsten westlicher, "weißer" Intelligenzbegriffe findet. Andreas Heinz:
"Zum Beispiel sind Menschen aus Afrika typischerweise bei ‚numbers forward‘ besser. ‚Numbers backwards‘ nicht, vermutlich, weil ich, wenn ich ‚Nummern rückwärts‘ schaffen will, mir die visuell vorstelle. Meines Erachtens ist da ein kultureller Faktor drin, wie sehr ich mit bildlichen Vorstellungen arbeite. Während ‚numbers forward‘ eher akustisch gemerkt werden, das wird dann aber oft abqualifiziert als mechanistisch, als würde das in einem primitiven Teil des Gehirns ablaufen. Und natürlich, wenn sie den Leuten antragen, dass sie zu einer ‚Rasse‘ gehören, die weniger kognitiv begabt ist, dann werden Sie, weil das einschüchtert, damit auch eine negative Auswirkung haben."
"Rasse" als Kriterium in der Medizin
"Das heißt, die Frage ist eigentlich: Aus welcher Perspektive interpretieren wir Lebensrealitäten?"
Dr. Amma Yeboah, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie beschäftigt sich an der Universität Köln mit dem Zusammenhang von Gesundheit und Rassismus in Deutschland. Denn nicht nur Intelligenzforschung und Psychologie – die Medizin allgemein ist ein Bereich, in dem die Idee von "Rassen" als biologisch klar unterscheidbare Menschengruppen immer wieder neu hergestellt wird.
"In Deutschland erleben wir ein sehr großes Spektrum an rassistischen Stereotypen gegenüber Menschen, die zum Beispiel als muslimisch kategorisiert werden. Gerade von muslimischen Frauen mit Kopftuch – es wird von ihnen erwartet, dass sie keine höhere Bildung genossen haben, dass sie bestimmte Nahrungsmittel nicht essen, dass sie nicht stationär aufgenommen werden wollen, dass sie keine medikamentöse Behandlung wollen. Die Menschen müssen nicht unbedingt muslimisch sein. Aber aufgrund von stereotypen Darstellungen kommen eine Reihe an Vorannahmen, die meine Diagnostik, aber auch meine Therapieplanung mit beeinflussen."
Aus Sorge, falsch verstanden zu werden, kommen Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel oft viel zu spät in Behandlung oder erhalten Behandlungen nicht, weil sie falsch verstanden wurden. Am Ende belegt eine Studie: Menschen mit Migrationshintergrund weisen häufiger psychische Störungen auf. Das ist dann wieder nicht falsch. Es ist aber auch wieder nicht die ganze Geschichte.
Biologische Unterschiede unvoreingenommen interpretieren
2004 erscheint in den USA eine Studie, der zufolge das Blutdruck-Mittel BiDil besser bei Afro-Amerikanern wirkt. Sichelzell-Anämie tritt vor allem bei Menschen aus Subsahara-Afrika und deren Nachfahren auf. Yeboah:
"Sichelzell-Anämie ist eine Mutation, die aufgetreten ist bei Menschen, die mit Malaria zu tun haben, irgendwo auf der Welt. Ja, und wenn wir uns die Häufigkeit anschauen, zum Beispiel die Bevölkerungsgruppe in den USA, dann werden wir natürlich die größere Anzahl finden bei Menschen, die aus Gebieten kommen, wo Malaria endemisch vorkommt. Bedeutet das, dass diese Personen, die Sichelzellanämie aufweisen, eine ‚Rasse‘ sind?"
Mikroskopische Aufnahme: Charakteristisch verformte rote Blutkörperchen bei einer Sichelzell-Anämie
Sichelzell-Anämie ist bei afroamerikanischen US-Bürgern relativ häufig - aber wie interpretiert man diesen Befund? (picture-alliance / dpa / chromorange)
Oder bedeutet es, dass Personen mit Sichelzellanämie Vorfahren haben, die sich im Laufe der Evolution mit dem Malaria-Parasiten auseinandersetzen mussten? Yeboah:
"Die Frage ist nicht, ob diese Biologie existiert oder nicht. Die Frage ist: Wie interpretieren wir diese biologische Information? Wenn wir uns unvoreingenommen vortasten, haben wir ganz andere Fragestellungen, als wenn wir aus der Perspektive des Rassismus die Fragestellungen entwickeln."
Statistische Schatten statt signifikanter Merkmale
Angela Saini: "Wir wissen, dass es Krankheiten gibt, die in Familien häufiger vorkommen. Und dass das dazu führen kann, dass Bevölkerungsteile sich anhand medizinischer Kennzeichen unterscheiden. Das ist zwar kein Beleg für ‚Rassen‘ – aber einige Forscher nehmen die Unterschiede zum Anlass, nach Rassen zu suchen. Sie denken in ‚Rasse‘-Kategorien, suchen in diesen Kategorien nach Merkmalen und wenn sie etwas finden, sehen sie die Kategorien bestätigt. Sie sehen aber vor allem statistische Schatten."
Teilt man Menschen aufgrund von Vorannahmen, klassischerweise Phänotypen, in Kategorien ein, wird man fast immer "statistische Schatten" finden. Dann kann man überlegen, ob sie ein Beleg für "Rasse" sind oder nicht. Oder – man sucht nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Menschen, um zu verstehen, wo deren Ursachen liegen. Und ob und welche Konsequenzen sie für das Leben jedes Einzelnen haben. Martin Fischer:
"Alles, was wir heute wissen, ist, dass jeder Organismus ein Alleskönner ist in gewisser Weise und dass man sich besser mit Wertungen zurückhält."
Mops bei Rassehundeausstellung in Berlin-Schönefeld
"Rassehunde" oder "Hunderassen" sind das Ergebnis von künstlicher Zuchtwahl (picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger)
"Rasse" nur bei Haus- und Nutztieren sinnvoll
Fischer schlägt deshalb vor, den Begriff "Rasse" komplett zu streichen – auch aus der Biologie. Er ist höchstens sinnvoll bei Haus- oder Nutztieren:
"Eine Haustierrasse wird künstlich stabilisiert, indem die Verpaarung nur innerhalb von einer Rasse gemäß eines Standards passieren darf. Und deshalb ist das Ergebnis auch immer das, was ich will. Das ist künstliche Zuchtwahl. Und die funktioniert deshalb, weil ich den Genfluss zwischen verschiedenen Gruppen künstlich unterbreche. Das ist die höchste Form von Inzucht im Kern. Das hat nichts mit dem zu tun, was in der Natur passiert."
Deutungshoheit statt Erkenntnis
Natur ist in Bewegung, Evolution ein dynamischer Prozess ohne festgelegte Richtung. Die Idee von "Rasse" als unveränderlich vererbbarer Einheit passt dazu nicht. Wer Menschen beschreibt und klassifiziert, dem muss klar sein: er erfasst bestimmte Individuen an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Bedingungen. Wer hier auf Unveränderlichkeit und Allgemeinheit beharrt, dem geht es vermutlich nicht um Erkenntnis. Sondern um Deutungshoheit. Amma Yeboah:
"Und das ist die eigentliche Problematik: eine Wissenschaft, die sich auch dadurch definiert, dass Erkenntnisse und Wissen immer wieder korrigiert werden, hat keine Schwierigkeiten damit, Bevölkerungsgruppen zu untersuchen, um Bedürfnisse festzustellen. Wenn wir verstehen, dass Strukturen historisch gesehen Vorteile für Menschen bewirkt haben, die als weiß kategorisiert sind, bei gleichzeitiger Benachteiligung von Menschen, die wir als nicht zugehörig kategorisieren zu der Gesellschaft, dann wissen wir, was wir zu tun haben."
Nach Menschenrassen suchen ist es nicht.
Stimmen und Erfahrungen in der Audioversion stammen aus dem Podcast "Halbe Katoffl" mit freundlicher Genehmigung von Frank Joung.
Erstausstrahlung Juli 2020
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)