Aus den Feuilletons

Flüchtlingsgeschichten aus drei Jahrzehnten

Proteste gegen Flüchtlingsquoten für Tschechien in der tschechischen Stadt Moravske.
Proteste gegen Flüchtlingsquoten für Tschechien in der tschechischen Stadt Moravske. © picture-alliance/dpa/CTK Photo/Vaclav Salek
Von Klaus Pokatzky · 08.11.2015
Deutsche Flüchtlingsgeschichte aus den 30er- und 80er-Jahren erzählen die "TAZ" und die "FAZ". Ernüchternd ist ein Blick in die Gegenwart nach Tschechien: Die "FAZ" entdeckt hier eine "Unwillkommenskultur".
"Als in Österreich ein freundlicher Polizist in den Bus kommt und 'Willkommen in der Freiheit' sagt, wissen wir, dass es geschafft ist."
Das lesen wir in der Tageszeitung TAZ in einer Flüchtlingsgeschichte. Richard Rother schreibt:
"Wenig später fliege ich das erste Mal in meinem Leben – und lande letztlich in einer Turnhalle in Berlin-Charlottenburg, Hunderte Feldbetten, ständiger Lärm, keinerlei Intimsphäre."
So war das, als im Sommer 1989 Menschen aus der DDR die Flucht über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik antraten.
Jüdischer Neuanfang
"Wie die ostdeutsche Erinnerung an den 9. November 1938 zu einem jüdischen Neuanfang in Deutschland führte", ist in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu lesen. Dort schreibt Stephan Stach:
"Innerhalb der kirchennahen DDR-Opposition in Leipzig und anderswo beging man den 9. November seit Ende der Siebziger-Jahre mit Andachten und Friedensgebeten. Nach einem solchen Friedensgebet zogen in Leipzig schon 1983 einige Dutzend Jugendliche aus der Nikolaikirche zum Gedenkstein für die Synagoge, wo sie Kerzen aufstellten und sofort von der Volkspolizei auseinandergetrieben wurden."
Der jüdische Neuanfang kam dann mit der friedlichen Revolution und 1990 mit einem Gesetz, das die DDR-Grenzen für jüdische Zuwanderer aus der Sowjetunion weit öffnete. "Im Zuge der Wiedervereinigung drohte der Regelung jedoch schon wenige Monate nach ihrem Inkrafttreten wieder das Aus", ruft uns Stephan Stach kaum noch erinnerte Szenen deutscher Flüchtlingspolitik ins Gedächtnis zurück:
"Innenminister Wolfgang Schäuble wandte ein, zunächst müsse eine Regelung mit den Bundesländern gefunden werden. Diese zeigten jedoch wenig Interesse an jüdischen Immigranten, die zusätzlich zu Asylsuchenden und Spätaussiedlern ins Land kommen wollten."
Fotografiert wie ein exotisches Tier
Aber wir haben es geschafft. Am Ende wurde das DDR-Gesetz für sowjetische Juden, leicht abgewandelt, zu gesamtdeutschem Recht und Hunderttausende nutzten es:
"Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja gehört ebenso zu ihnen wie die Politikerin Marina Weisband oder der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov."
So kann Willkommenskultur aussehen. Und wie sieht Unwillkommenskultur aus? "Je offener die Tschechische Republik seit 1989 geworden ist, desto mehr igelte sie sich ein", schreibt Claus Leggewie in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN zu verschlossenen Armen in der Gegenwart.
"Kein Land in Europa weist so entschieden und mit solcher Unterstützung durch die Bevölkerung Flüchtlinge ab wie die Tschechische Republik".
Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und er beschreibt Tschechien als eine "jener verspäteten Nationen zwischen Deutschland und Russland", die, als Opfer von Hitler und Stalin, "in den vierziger-Jahren zwischen zwei totalitären Mühlsteinen aufgerieben wurden".
Zuvor gehörten sie jahrhundertelang zur Habsburger Monarchie, zum "Völkergefängnis". Im Gefängnis blieben die Tschechen, der "Prager Frühling" war Episode und wurde beendet mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968.
"In diesem Selbstbild bleibt ausgespart, dass nach dem brutalen Ende des Prager Frühlings geschätzte 300.000 Tschechen ins Ausland flohen und dort ganz überwiegend freundliche Aufnahme fanden", schreibt Claus Leggewie und berichtet, wie im freien Tschechien heute Flüchtlinge und Migranten betrachtet werden:
"Jonathan aus Ghana, der seit gut einem Jahr in Prag Landwirtschaft studiert, erzählt, er habe vor allem in den Städten so gut wie nie ein freundliches Gesicht zu sehen bekommen, und auf dem Land werde er fotografiert wie ein exotisches Tier."
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