Direkte Teilhabe

Das Gespräch ist die Zukunft der Demokratie

Ein vom Verein "Mehr Demokratie" aufgestelltes sieben Meter hohes aufblasbares "Grundgesetz" steht vor dem Reichstagsgebäude in Berlin.
Wer die Demokratie verteidigen will, der muss sie weiterentwickeln. © dpa / picture alliance / Rainer Jensen
Von Philip Kovce · 03.07.2017
Die repräsentative Demokratie steckt in der Krise. Parteien behandeln die Bürger wie unmündige Kinder, Politiker sind überfordert. Es wird Zeit, dass wir erwachsen werden und Volksentscheide auch auf Bundesebene erlauben.
Wer erwachsen wird, der wächst unter großen Anstrengungen aus dem Schoß jener heraus, die ihn bisher beschützt und sich für ihn eingesetzt haben. Er wächst in eine Selbstständigkeit hinein, die sich wesentlich dadurch auszeichnet, dass er selbstbestimmt handeln und sich frei entscheiden kann.
Was für den Einzelnen gilt, das gilt auch für Gesellschaften. Auch sie werden erwachsen. Und auch sie kennen Wachstumsschmerzen. So leidet die repräsentative Demokratie dieser Tage an einer Krise der Repräsentation. Warum? Weil sie inzwischen nicht mehr ermöglicht, sondern oftmals sogar verhindert, dass die Bürger souverän agieren; dass sie selbstbestimmt handeln und sich frei entscheiden können.

Ausgebremste politische Innovation

Parteien sind auf Programme angewiesen, die sie zusammenhalten. Mag es sich dabei auch um postmoderne Flickenteppichideologien handeln, Parteien sind und bleiben parteiisch. Doch die gegenwärtigen Herausforderungen – angefangen bei der Armutsbekämpfung bis hin zur Zukunft der Arbeit – sind längst unparteiisch, überparteiisch geworden. Und der mündige Bürger ist es auch: Er will nicht bloß alle paar Jahre seine Erziehungsberechtigten wählen, sondern Sachfragen frei entscheiden und sich selbstbestimmt vertreten lassen.
Genau deshalb ist es an der Zeit, dass wir auch auf Bundesebene endlich volljährig werden und Volksabstimmungen einführen. Das Monopol des Deutschen Bundestages in Sachen Bundesgesetzgebung entmündigt die Bürger und überfordert die Politiker. Es bremst politische Innovation und beschleunigt Politikverdrossenheit.
Wer nun einwendet, dass das türkische Verfassungsreferendum oder das Brexit-Votum doch zeigen würden, dass man auf Bürgerbeteiligung lieber verzichten solle, dem ist entgangen, dass es sich dabei gar nicht um direkte Demokratie handelt. Wenn autoritäre Regime oder kriselnde Regierungen aus machtpolitischem Kalkül heraus einmalig ein Plebiszit verordnen, dann hat dies nichts mit einer direktdemokratischen Kultur zu tun, wie sie beispielsweise in der Schweiz längst existiert.

Wer ist Chef?

Eine solche direktdemokratische Kultur führt dazu, dass die Bürger Chefs, die Politiker Angestellte sind – nicht umgekehrt. Sie führt außerdem dazu, dass die Bürger das letzte Wort haben, und dass sie es gerade deshalb, weil sie es haben, gar nicht so oft gebrauchen müssen. Schließlich verbürgt diese Kultur, dass die Schweizer, unabhängig von den Entscheidungen, die sie fällen, glücklich darüber sind, sich frei zu entscheiden. Diese Verfahrensgerechtigkeit führt nicht zuletzt zu einer schlankeren Verwaltung und zu besseren öffentlichen Dienstleistungen.
Im Artikel 20 des Deutschen Grundgesetzes heißt es, alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus. Und weiter heißt es, dass diese Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt werde. Wer die Protokolle des Parlamentarischen Rats studiert, der weiß, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes bundesweite Volksabstimmungen keineswegs ausschließen wollten. Im Gegenteil. Schon das Grundgesetz rechnet mit mündigen Bürgern.
Wer die Demokratie verteidigen will, der muss sie weiterentwickeln. Das direktdemokratische Gespräch der Gesellschaft ist die Zukunft der Demokratie. Es trivialisiert weder Themen noch protegiert es Populisten. Vielmehr stärkt es das eigene Selbstbewusstsein und das Bewusstsein von den anderen. Ich erfahre, was ich denke, und warum nicht alle so wie ich, sondern viele anders denken. Sich derart abzustimmen, ist eine Bildungsveranstaltung, kein Gewinnspiel. Direkte Demokratie heißt lebenslanges Lernen. Das müssen wir uns zutrauen, wenn wir erwachsen werden wollen.

Philip Kovce, 1986 geboren, forscht am Basler Philosophicum sowie an der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke. Er gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome an und engagiert sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie für die Kampagne "Ich will abstimmen". Jüngst erschien von ihm herausgegeben "Soziale Zukunft. Das bedingungslose Grundeinkommen. Die Debatte" sowie gemeinsam mit Daniel Häni "Was würdest du arbeiten, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre? Manifest zum Grundeinkommen".

Philip Kovce - 1986 in Göttingen geboren, lebt als freier Autor in Berlin. Er ist Mitbegründer des Basler Philosophicums, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke sowie Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome. Veröffentlichungen (Auswahl): Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen (Futurum Verlag); An die Freude. Friedrich Schiller in Briefen und Dichtungen (hrsg., AQUINarte Kunst- und Literaturpresse); Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität (hrsg. mit Birger P. Priddat, Metropolis Verlag).
© Ralph Boes
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