Dinge erzählen, ohne sie zu benennen

Von Thilo Guschas · 18.06.2011
Nächste Woche wird der "Grimme Online Award" vergeben, der herausragende Internet-Angebote auszeichnet. Einer der Kandidaten ist "Ein Fremdwörterbuch", ein Blog von Kübra Gümüsay, einer jungen Muslimin in Deutschland.
"Mein Name ist Kübra Gümüsay, ich bin 22 Jahre alt, studiere Politikwissenschaften, lebe derzeit in Berlin, aber bald in Kairo und dann in Oxford, und bin Journalistin und Kolumnistin bei der taz und außerdem Bloggerin, ein-fremdwoerterbuch.com heißt mein Blog und wurde dieses Jahr für den Grimme Online Award nominiert."

Auf Kübra Gümüsays Blog lauschen wir originellen, urbanen Begegnungen. Da ist etwa ein junger Rabbiner in London, wo Kübra Gümüsay einige Zeit studiert hat. Bei koscherem Fastfood fragt sie ihn: Darf ich, als Nicht-Jüdin, mal mit in die Synagoge? Und muss selbst schmunzeln. Sie stellt ihm dieselben Fragen, die sie als Muslimin so oft nerven, in ihrer ungelenken Neugierde. Ist Fasten eigentlich anstrengend? Wie ist es denn so unter dem Kopftuch? Von Kübra Gümüsay kommen keine politischen Statements, sondern Geschichten:

"Geschichten sind mir deshalb wichtig, weil sie sehr schön Dinge erzählen, ohne sie zu benennen. Man kann Missstände in einer Gesellschaft mit Geschichten sehr schön darstellen, und jeden mitnehmen und mitfühlen lassen, wie es ist, Teil eines Missstandes zu sein, und dann Menschen für Themen sensibilisieren, das kann man sehr schön mit Geschichten machen."

Kübra Gümüsay hat eine Tournee durch Talkshows und Fernsehmagazine hinter sich. Die Medien springen an auf das Bild junger, talentierter muslimischer Frauen, die sie wie ein Wunder präsentieren: Diese Wesen können doch tatsächlich deutsch sprechen, haben sogar studiert und werden nicht von ihrem Mann geschlagen! Klischees beherrschen das Denken. Kübra Gümüsay, in Hamburg geboren, ist eine Deutsche, aber wird wie eine Fremde behandelt. In ihrem Blog "Ein Fremdwörterbuch" berichtet sie deshalb von ihrem Alltag, um Stereotype zu brechen.

Berlin. Eine Bushaltestelle. Eine ungeplante Begegnung in türkischer Sprache:

"Die türkische Oma, die total selbstbewusst dahergestratzt kommt und total viele Ecken und Kanten hat und überhaupt kein Problem damit hat, die aber nicht dem Stereotyp der türkischen Omi entspricht, die man nur im Aldi einkaufen sieht, irgendwelche Tüten tragend, auf irgendwelchen Bänken sitzend sieht."

"Verbring nicht zuviel Zeit in der Küche, lass nicht nur deinen Mann Führerschein machen und lerne Deutsch", gibt die Seniorin Kübra Gümüsay mit auf den Weg. Empfehlungen, hinter denen das Bedauern steckt, die eigene Integration verpasst zu haben. Das Stück schließt mit einem gewissen Happy End – der späten Einsicht der Frau, die nun auf die junge Generation hofft. "Dein Blog ist einseitig", moniert hierbei ein User:

"Hier wird ein absolut tradiertes Bewusstsein mit postmodernen Mitteln verkauft. Wie in dem Beitrag von den ach-so-tollen türkischen Omis, am Ende ihres Lebens bedauern sie, dass sie sich nicht mal für sich selbst interessieren durften und nur den Mann versorgt haben. Glucken, Übermütter, die ihre Söhne noch mit sieben füttern und ihnen dadurch ihre Selbstständigkeit verwehren. Und dadurch sich selber auch. Wie wäre es denn mal mit Kritik in diesem Blog und nicht nur Gefühlsduselei? Schreib doch mal über Erdogan, der den Frieden bedroht, und die türkischen Kids auf der Straße, die vor lauter Scham nicht wissen, welches Kreuz sie als nächstes anrempeln wollen."

Kübra Gümüsay: "Ich kann halt nicht alles machen. Ich möchte nicht über die Politik in der Türkei schreiben, weil das für mich keine Relevanz hat. Ich sehe nicht, warum ich mich da positionieren müsste. Das hat keine Relevanz für mein Leben hier. Was diese Jugendlichen auf der Straße betrifft, das betrifft mich. Ich versuche diesen Jugendlichen eine Perspektive zu geben, auf meine Weise."

Kübra Gümüsay nimmt die Blogleser mit durch ihr Leben. Lässt sie an der Hochzeit mit ihrem Mann teilhaben, den sie nach Kairo und Oxford begleiten wird, wo er Arabisch lernt und promoviert, während sie Bücher schreibt. Auch ihre Religiosität ist Thema im Blog. Die Eltern hätten sie mit religiösen Werten aufgezogen. Doch die Entscheidung, ob sie dann auch tatsächlich als praktizierende Muslimin leben wolle, hätten sie ihr ausdrücklich freigestellt. Im Alter von zehn Jahren entscheidet sie sich, das Kopftuch zu tragen. Und positioniert sich heute im Blog zu aktuellen Debatten:

"Innerislamische Kritik ist mir auch sehr wichtig, wie zum Beispiel der Umgang mit anderen Religionen. Der Ansatz, den ich aber verfolge, ist, niemanden zu verurteilen, nicht zu werten, einfach Dinge differenziert darzustellen und auch zu erklären, und gleichzeitig auch Lösungsansätze zu bieten."

Die Bloggerin drängt auf wechselseitigen Respekt, etwa zwischen Frauen mit und ohne Kopftuch. Wozu auch diese ständigen Feindbilder, fragt sie. Die Kritik, die Dinge schönzufärben, weist sie dabei von sich. Sie beharrt darauf: Sie fülle eine Leerstelle in den Themenfeldern Islam und Migration – in ihrer Rolle als Geschichtenerzählerin:

"Also dieses ständige Konflikte-Austragen, diese harten Themen, wo ich das Gefühl habe, immer die gleichen Diskussionen zu führen. Diese ganzen Talkshowsendungen, ich finde, sie stellen keinen Mehrwert mehr für die Gesellschaft dar und bringen auch keine Debatte voran. Dadurch glaube ich, durch andere Dinge mehr bewegen zu können."