Digitale Profile

"Wir orten uns selbst"

Gesichter werden verdeckt von Puzzleteilen.
Wer und wo bin ich im Netz? Und wenn ja: wie viele? © imago/Ikon Images/ Klaus Meinhardt
Andreas Bernhard im Gespräch mit Ute Welty · 21.09.2017
Fast jeder hat heute ein "Profil" – und manche vermutlich sogar sehr viele, je nachdem wie eifrig sie sich im Netz herumtreiben. Was früher der kriminalistischen Personen-Erfassung diente, nutzen wir heute freiwillig, sagt der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard.
Fast alle haben wir mittlerweile online ein "Profil" - ein schön aufgemachtes, glänzendes, gut gepflegtes bei Facebook und Co. oder auch nur eins im Untergrund des Netzes, das unsere Bewegungen verfolgt, weil wir Pokemon Go spielen, bei Amazon bestellen oder Google Maps nutzen. Wie viele solcher Einzelprofile jeder von uns im Netz hat, lässt sich anhand unseres individuellen Surf- und Onlineshopping-Verhaltens nur ungefähr schätzen.
Der Journalist, Autor und Medienwissenschaftler Andreas Bernard,  aufgenommen am 22.06.2014 in Köln. Foto: Horst Galuschka/dpa | Verwendung weltweit
Der Journalist, Autor und Kulturwissenschaftler Andreas Bernard.© picture alliance/dpa/Horst Galluschka
Während der Begriff noch vor wenigen Jahren oder Jahrzehnten etwas war, das für Maler, Fotografen oder die Kriminalistik von Belang war – wenn es um Modelle oder Verbrecher ging -, hinterlegen wir heute freiwillig unser Profil: "Wir orten uns selbst", sagt der Kulturwissenschaftler und Autor Andreas Bernard, der am Center for Digital Cultures an der Leuphana Universität in Lüneburg lehrt. Er spielt damit auf unsere Manie an, uns ständig via Smartphone oder Gesundheitsarmband in unserem Tun und unseren Bewegungen selbst zu überwachen und zu vermessen.

Wie in einem Überwachungsstaat - nur freiwillig

Bernard geht in seinem Buch "Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur" der Frage nach, wie Instrumente der Kriminalistik wie die elektronische Fußfessel oder der Lügendetektor heute von uns, etwas abgewandelt, selbst und freiwillig genutzt werden.
"Es ist doch sehr merkwürdig, dass wir heute Vehikel der Selbstermächtigung haben, könnte man sagen, die aber vor 30, 50, 100 Jahren eingeführt wurden, um Verbrecher oder Irre dingfest zu machen. Das hat mich etwas verstört."
Im Grunde lebten die Bürger auch heute in einem überwachten Zustand, der an die Zustände in der DDR oder an George Orwells "1984" erinnerten – mehr noch: Bezogen auf die medialen Bedingungen, unter denen wir heute lebten, seien Dystopien wie der Orwell-Roman längst überboten, sagte Bernard.

Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur
S. Fischer Verlag, 2017, 240 Seiten, 24 Euro


Das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: Als Kulturwissenschaftler beschäftigt sich Andreas Bernard ausführlich mit den Umbrüchen der Gesellschaft. Er lehrt als Professor am Center for Digital Cultures der Leuphana-Universität Lüneburg, er schreibt für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" und für die "Süddeutsche", und er hat etliche Bücher verfasst über Essen, Fahrstühle und Reproduktionsmedizin. Heute erscheint sein neues Buch, "Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur". Guten Morgen, Herr Bernhard, und herzlich willkommen in "Studio 9"!
Andreas Bernard: Guten Morgen!
Welty: Das, Was Sie als die Komplizen des Erkennungsdienstes bezeichnen, das sind die Profile, die anzulegen sind, wenn man Dienste wie Twitter oder Facebook nutzen oder auch online einkaufen will. Wie viele Profile existieren von Ihnen?
Bernard: Das kann man ja dann auch gar nicht sagen im Endeffekt, weil viele Profile werden von einem ja angelegt, die man selbst gar nicht angelegt haben will. Was weiß ich, wenn ich einmal bei Amazon bestelle, habe ich schon ein Profil –
Welty: Schups!
Bernard: – oder Pay Pal oder so. Aber ich glaube, selbst angelegt habe ich, glaube ich, nur eins.

Techniken aus der Kriminologie und Psychiatrie

Welty: Im ursprünglichen Sinne ist das Profil die Seitenansicht eines Menschen, dann kam das Patienten- oder das Täterprofil dazu. Was ist da in den letzten einhundert Jahren passiert, dass sich nicht nur Maler, Fotografen, Ärzte, Kriminalisten für das Profil eines Menschen interessieren?
Bernard: Das war sozusagen die Ausgangsfrage meines Buches, weil mir aufgefallen ist, dass merkwürdigerweise fast alle Techniken der Selbstdarstellung und auch Selbsterkenntnis in der digitalen Kultur Ursprünge in der Kriminologie oder Psychiatrie haben. Das betrifft nicht nur das Profil – vor 20 Jahren hatten nur Serienmörder ein Profil, könnte man etwas flapsig sagen –, sondern das betrifft ja zum Beispiel auch die Selbstortung. Wenn man vor 15 Jahren einen Menschen orten wollte, dann war das jemand, dem man eine elektronische Fußfessel angelegt hat, und heute schaut jeder 30 bis 100-mal auf sein Handy am Tag, um sich selbst zu orte.
Oder auch diese Selbstvermessungstechniken durch diese Gesundheitsbänder, die auf Messungen zurückgreift, mit denen damals der Lügendetektor etabliert wurde. Und das hat mich interessiert. Ich habe mir gedacht, das ist ja doch sehr merkwürdig, dass wir heute lauter Vehikel der Selbstermächtigung haben, könnte man sagen, die aber vor 30, 50, hundert Jahren eingeführt wurden, um Verbrecher oder Irre dingfest zu machen. Das hat mich etwas verstört.
Welty: Wenn Sie irritiert waren, sogar verstört waren, wie Sie sagen, gibt es dann auch einen Ansatz für eine Erklärung, nämlich, warum das so gekommen ist, wie es gekommen ist?
Bernard: Das versuche ich dann natürlich in meinem Buch, und ich glaube, eine Allianz, die ich vielleicht versuche, ein bisschen freizulegen, ist eine Beziehung zwischen einer mediengeschichtlichen Entwicklung in den letzten zehn, zwanzig Jahren, und einer ökonomiegeschichtlichen oder einer arbeitstechnischen. Weil man kann ja sagen, dass diese Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, dass man gewissermaßen nie mehr in unbefristeten Positionen und Verträgen arbeitet, sondern immer wieder sich neu sozusagen auf dem Arbeitsmarkt positionieren muss, die Notwendigkeit gestärkt hat, immer wieder ein Profil von sich anzulegen. Wenn ich, sagen wir mal, vor 50 Jahren eine Lebenszeitprofessur bekommen habe oder eine lebenslange Stelle in diesem oder jenem Betrieb, dann war sozusagen das erstmal erledigt.

Wer beruflich bestehen will, braucht ein Profil

Heute handelt man sich von Zweijahres- zu Sechsmonatsverträgen, muss immer wieder schauen, wie kann ich mich gut selbst darstellen. Und da kommt sozusagen die digitale Kultur mit dieser Arbeitssituation zusammen, dass sie uns sozusagen die medialen Bedingungen, immer wieder uns sozusagen zu profilieren. Und das ist zum Beispiel ein Strang oder sind zwei Stränge, die mein Buch versucht, zusammenzuführen, diese neuen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, die prekären Entwicklungen, und die digitale Kultur.
Welty: Inwieweit bedeutet die Verbreitung von Profilen auch einen Verlust von Individualität? Weil Persönlichkeiten ja immer wieder heruntergebrochen werden auf diese fünf oder zehn Merkmale, die es gilt, in einem Profil einzutragen.
Bernard: Ich glaube, das ist auch ein Interesse meines Buches gewesen, sich gewissermaßen zu überlegen, was ist Identität, was ist Individualität. Und da hat man eigentlich in den letzten 150 Jahren immer wieder diese zwei unterschiedlichen Perspektiven. Auf der einen Seite ist Identität oder Individualität das Unverwechselbare, das Einzigartige, auch das Erhabene, Große. Auf der anderen Seite ist Identität oder Individualität seit 150 Jahren eine kriminalistische Kategorie. Individuum ist der, dessen Fingerabdrücke ich kenne. Individuum ist der, dessen Blutgruppe ich kenne. Individuum ist der, dessen Körper ich vermessen kann. Und das ist eben auch eine Konstellation, die jetzt in den letzten Jahren durch die digitalen Selbstbeschreibungen auch auf ganz neue Art zusammenkommen.

Krasser als in Orwells "1984"

Jetzt gibt es seit ein paar Tagen diese große Diskussion über die Gesichtserkennung vom neuen iPhone. Und da geht es ja wieder zusammen. Auf der einen Seite kann man sagen, das Gesicht ist das, in was ich mich verliebe, das einzigartige, unwiderstehliche Gesicht. Auf der anderen Seite ist ein Gesicht ein Ensemble von Daten, das man sozusagen kriminalistisch verifizieren kann. Und ich glaube, dass unsere Mediensituation gerade diese beiden Felder auf merkwürdige, noch nicht geklärte Weise zusammenführt.
Welty: Wenn es diese Verbindung gibt zur Polizei, zu Kriminalität, im weitesten Sinne ja auch zu Stasi – bewegen wir uns also auf einen noch schlimmeren Überwachungsstaat zu, als es die DDR jemals war? Sie nicken schon?
Bernard: Das ist eine sehr gute Frage, weil das ist ja im Grunde eine der Pointen unserer Zeit, dass man auf der einen Seite sagen kann, wir sind aufgrund dieser rasanten medialen Entwicklung an einem Punkt angekommen, wo ein Staat wie die DDR, um Ihr Beispiel aufzugreifen, oder auch eine Dystopie wie "1984" von George Orwell rein von den medialen Bedingungen längst überboten sind. Ich hab ja für das Buch noch mal diesen Roman "1984" versucht, genau zu lesen. Und wenn man schaut, wie hoch die Dichte der Bildschirme ist, dann sind wir heute ganz woanders. Aber wir machen es freiwillig. Das ist der Unterschied, wir machen es freiwillig. Und das ist das Verstörende daran.
Welty: Der Appell "Drum prüfe, wer sich ewig bindet" bekommt auch eine ganz neue Bedeutung. Andreas Bernhard, herzlichen Dank für den Besuch in "Studio 9"!
Bernard: Vielen Dank!
Welty: Und heute erscheint sein neues Buch "Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur". Es erscheint bei Fischer, umfasst 240 Seiten, und kostet (...) 24 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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