Digital History

Mit Algorithmen die europäische Wissenschaftsgeschichte erforschen

08:04 Minuten
Das Stilleben von Edwaert Collier zeigt Vanitas-Motive wie ein Buch, einen Globus, Noten und eine Geige, einen leeren Kelch, Schmuck und eine Schreibfeder.
Das Forschungsprojekt "Sphaera" untersucht, wie sich im Europa der frühen Neuzeit Wissen verbreiten konnte. © picture alliance / Heritage Art / Heritage Images / Edwaert Collier
Von Jenny Genzmer · 14.07.2021
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Wie verbreiteten sich wissenschaftliche Erkenntnisse im Europa der frühen Neuzeit? Dieser Frage geht ein Forschungsprojekt am Beispiel des spätmittelalterlichen "Tractatus de Sphaera" nach. Es nutzt dabei Methoden der Computerwissenschaft und der Physik.
Wittenberg im frühen 16. Jahrhundert. Die Stadt hat gerade eine Universität bekommen, Martin Luther schlägt seine 95 Thesen an die Schlosskirche und die protestantische Reformation nimmt ihren Lauf. Wittenberg entwickelt sich immer weiter zu einem wissenschaftlichen Zentrum und zu einem akademischen Vorbild, auf das die Augen der intellektuellen Welt gerichtet sind.
"Die Texte, die man an der Universität in Wittenberg verwendet hat, wurden immer mehr nachgeahmt, also imitiert. Was man in Wittenberg studiert hat, musste man oder wollte man auch an anderen Universitäten lernen", sagt Matteo Valleriani, Historiker und Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
Zusammen mit der Technischen Universität und dem Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data, kurz Bifold, geht er der Frage nach, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse in Europa ausgebreitet und vereinheitlicht haben.
Johannes de Sacroboscos Einführung in die Kosmologie, der "Tractatus de sphaera" stand ganz oben auf dem Lehrplan in Wittenberg. Das Werk war seit dem Spätmittelalter der Klassiker über das geozentrische Weltbild. Auch deshalb mussten nicht nur die Studierenden in Wittenberg Sacrobosco lesen, sondern auch die in Krakau, Lyon oder Lissabon. Diese Reichweite des Tractatus macht ihn für die Forschung so interessant:
"Wir verwenden diesen Traktat wie eine Laterne und wir suchen alle Bücher oder andere Texte, die in einer Verbindung zu dem Tractatus stehen. Eine Verbindung zum Beispiel ist: Sie enthalten den Tractatus. Eine andere Verbindung ist: Sie paraphrasieren den Tractatus. Oder sie kommentieren oder sie kritisieren, fragmentieren."

Der "Tractatus" als Mittelpunkt eines komplexen Netzwerks

Diese Voraussetzungen haben im Untersuchungszeitraum 359 Lehrbücher erfüllt. Sie sind von 1472 bis 1650 entstanden, zirkulierten in ganz Europa und verteilten Wissen unter Gelehrten. Um diese Ausbreitung genauer analysieren und verstehen zu können, wer wann wen beeinflusst hat – brauchten die Forschenden Unterstützung. Und die kam aus der Mathematik:
Valleriani fährt mit der Maus über seinen Bildschirm. Er zeigt eine Grafik aus Pfeilen und Knotenpunkten. Unterschiedliche Kategorien, die miteinander in Verbindung stehen und ein Netzwerk ergeben. Alles, was sein Team an Textmaterial aus oder über den Tractatus finden konnte, wurde maschinell in Textteile zerlegt und in komplexen Datenbanken neu sortiert. Hinzu kamen Daten wie die Textart, die Sprache und auch Zeitpunkte und Orte, an denen der Tractatus auftauchte. Was Valleriani hier in visualisierter Form auf dem Bildschirm sehen kann, ist ein sogenannter Wissensgraph – ein Netzwerk, das all die Tractatus-Puzzleteile und seine Eigenschaften neu zusammensetzt. Je nach Fragestellung.
"Es ist, als ob wir plötzlich unter Wasser tauchen würden", sagt Valleriani. "Wir vergessen für eine Sekunde alles, was die historische Bedeutung von all dem ist. Wir analysieren, wie modellieren, wir machen alles, was man mit diesen Netzwerken machen kann. Finden wir Resultate, dann gehen wir zurück und versuchen, diese Resultaten zu interpretieren.
Das Bild zeigt eine Doppelseite aus Johannes de Sacroboscos "Tracatus de sphaera". 
359 Lehrbücher der frühen Neuzeit enthalten Bezüge zu Johannes de Sacroboscos "Tractatus de sphaera" .© imago images / KHARBINE-TAPABOR
Aber wie verleiht man diesen Netzwerken aus Textteilen, aus Kategorien, Zahlen und unzähligen Verbindungen untereinander neuen Sinn?
Maryam Zamani hat sich in ihrer Doktorarbeit mit der Streuung von Licht auf rauen Oberflächen beschäftigt. Jetzt befasst sie sich mit dem spätmittelalterichen Werk von Sacrobosco. Sie arbeitet am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden. Die Forschungsgruppe, in der sie arbeitet, ist ein Partner im Sphaera-Projekt. Sie hilft den Forschenden aus der Wissenschaftsgeschichte dabei, ihre Netzwerke aus historischen Daten neu zu interpretieren.
"Ich komme aus der Physik, ich weiß also, wie man physikalische Phänomene mithilfe von mathematischen Berechnungen oder statistischer Physik definiert", sagt Zamani. "Aber man kann diese Methoden auch anwenden, um zu verstehen, wie zum Beispiel eine Gesellschaft funktioniert. Oder wie in diesem Fall – die Wissenschaftsgeschichte."

Wie altes und neues Wissen kombiniert wurde

Die Physikerin hat sich auf Netzwerkforschung spezialisiert. Eine Methodik, mit der komplexe Systeme analysiert werden können. Die Interaktionen von Proteinen in einer Zelle zum Beispiel, aber genauso die Vernetzung und Verbreitung von Wissen durch Bücher in der frühen Neuzeit.
"Wir haben im Untersuchungszeitraum zwanzig Bücher gefunden, die zeitlich in der Mitte erschienen sind und eine besondere Eigenschaft hatten. Sie trugen das Wissen sämtlicher vergangenen Zeitabschnitte in sich und waren mit fast allen folgenden Zeitabschnitten verbunden."

Small Data
Wie die Geschichtswissenschaft die Digitalisierung nutzt
Historikerinnen und Historiker haben inzwischen zahlreiche digitale Tools zur Verfügung: Algorithmen analysieren Quellen, historische Sachverhalte lassen sich durch digitale Visualisierung plastischer darstellen. Welchen Stellenwert diese Techniken in der Geschichtswissenschaft inzwischen haben, darüber haben wir mit Mareike König gesprochen, der stellvertretenden Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Paris. Das Gespräch hier zum Nachhören: [AUDIO]

Anders als die meisten wissenschaftlichen Texte nach der Erfindung des Buchdrucks waren sie weder Neuauflagen mittelalterlicher Werke noch komplette Innovationen. Sie kombinierten altes und innovatives Wissen – wie die Publikation des Wittenberger Buchdruckers Johann Kraft von 1561. Diese Buch enthält Texte von Sacrobosco, aber auch von Melanchton und Erasmus Reinhold.
"Wir haben sie Transmitter genannt, weil sie sich zwischen den Zeitabschnitten befanden und Wissen aus der Vergangenheit in die Zukunft übertragen haben", erklärt Zamani. "Informationen aus sämtlichen Zeitabschnitten war in ihnen vereint. Wir könnten also sagen, dass in dieser Zeitspanne eine Art Homogenisierung von Wissen stattgefunden hat."

Geschichtswissenschaften mit Mathematik zusammenbringen

Diese Homogenisierung von Wissen führt zu dem, was Matteo Valleriani die "Wissenschaftliche Identität Europas" nennt. Die Forschungsmethodik, die sich aus der Zusammenarbeit der Max-Planck-Insitutute für Wissenschaftsgeschichte und für Physik komplexer Systeme entwickelt hat, führte nicht nur zu neuen historischen Erkenntnissen. Valleriani sieht hier einen methodischen Ansatz, der die Aufteilung von Geistes- und Naturwissenschaften hinterfragt. Zum Beispiel indem die Geschichtswissenschaft die Naturwissenschaft vor neue Herausforderungen stellt:
"Datensätze der Geisteswissenschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sehr hohe Dimensionalität haben. Und das ist eine Herausforderung. Da gibt es wenige Modelle, die in der Lage sind, auf die Schnelle Datensätze zu analysieren. Da muss man sich schon Gedanken machen – aus der Perspektive der Statistik und der Physik der komplexen Systeme – wie man das genau macht. Und das ist es, was die Geisteswissenschaften jetzt vorschlagen."
Komplexe Datensätze statt Big Data, eher schwierige Daten als riesige Mengen, findet er, könnten ein gemeinsames Forschungsfeld der beiden Disziplinen sein.
Die Computational History geht über das Digitalisieren und Visualisieren von Quellen hinaus. Sie verbindet die Geschichtswissenschaft mit der angewandten Mathematik – mithilfe von Computerwissenschaften. Viele junge Historikerinnen und Historiker hätte das längst begriffen, sagt Valleriani. Einige können programmieren oder Code lesen, aber "dass man Statistik dafür braucht, ist noch nicht wirklich angekommen. Und noch weniger ist unter den jungen Mathematikern oder jungen Statistikern angkommen, dass sie in der Geschichtswissenschaften ein interessantes Feld finden können."
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