Dieter Langewiesche: "Der gewaltsame Lehrer"

Krieg als Motor der Geschichte

Französische Soldaten in einer Grube mit Gewehren in der Hand.
Soldaten riskieren im Kampf ihr Leben, trotzdem liefert Langewiesche Argumente für gewalttätige Auseinandersetzungen. © Imago
Von Wolfgang Schneider · 14.02.2019
Früher gab es kaum Frieden auf europäischem Boden. Der Historiker Dieter Langewiesche erklärt in seinem neuen Buch, warum Menschen Gewalt nutzen, um ihre Ziele zu erreichen - und er findet sogar, dass das auch positive Folgen haben kann.
Der Krieg mag nicht, wie Heraklit formulierte, der Vater "aller Dinge" sein. Aber er ist fast immer der Geburtshelfer bei Staatsgründungen, revolutionären Umbrüchen und der Bildung von Nationen gewesen. Diese heute oft verdrängte Wahrheit führt der Historiker Dieter Langewiesche in seinem von einem ruhigen, unpolemischen Gestus getragenen Grundlagenwerk geradezu unerbittlich vor Augen.
Selbst Immanuel Kant, der Theoretiker einer republikanischen Weltgesellschaft ohne Krieg, sah diesen als legitim an, sofern er als "Änderungsgewalt" politische "Fortschrittsblockaden" aufbricht. Dass Krieg als "Schwungrad der Geschichte" die Welt "verbessern" soll, erscheint zumindest insofern plausibel, als sich noch jeder Revolutionär auf der Seite des Fortschritts wähnte und jede Gründung eines Staates sich als Anfang besserer Zeiten verstanden hat. Kaum eine ist ohne Krieg ausgekommen: "Überall trat der Nationalstaat als Gewaltgeschöpf ins Leben." Die friedlichen Revolutionen von 1989 dagegen waren ein unerhörtes Novum in der Geschichte.

Schillernder Grundbegriff "Nation"

"Nation" ist ein schillernder Grundbegriff des Buches. Langewiesche begreift sie positiv als Solidar- und Ressourcengemeinschaft, Wohlstands- und Freiheitsversprechen. Deshalb habe sich in den letzten beiden Jahrhunderten auf allen Kontinenten das europäische Modell des Nationalstaats durchgesetzt. Fast immer allerdings in Verbindung mit Kriegen oder ethnischen Säuberungen, der dunklen Seite der nationalen Autonomie. Das nationale Assimilationsgebot bringt eine breite Skala der Intoleranz hervor.
Durch die weite globalhistorische Perspektive seiner Ausführungen stellt Langewiesche aktuelle Theorien über die vermeintlich "neuen" asymmetrischen Kriege in Frage. Konflikte, bei denen sich keine "regulären" Armeen gegenüberstehen und in denen sich die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten auflöst, seien demnach die seit je übliche Art der Kriegsführung gewesen. Das europäische 19. Jahrhundert dagegen stehe für einen "Sonderweg", der 1914 endet: den "eingehegten Krieg" als Konsequenz aus den Exzessen des Dreißigjährigen Krieges und der napoleonischen Ära.

Ohne Krieg keine Dekolonisierung

Dieser "eingehegte Krieg" verlief nach anerkannten Regularien, in Form eines Duells staatlicher Armeen, die die Zivilbevölkerung und deren Lebensgrundlagen zu schonen hatten. Wichtig wurde hier das Konzept der Entscheidungsschlacht, nach der die unterlegene Seite ihre Niederlage auch anerkannte. So verliefen unter anderem die Einigungskriege, die zur Gründung des deutschen Reiches 1870/1871 führten.
Aber auch im "eingehegten" 19. Jahrhundert wurden von den europäischen Mächten andere Kriege geführt, überall dort nämlich, wo es weder "reguläre" Armeen noch die Anerkennung von Entscheidungsschlachten gab: in den kolonialen Räumen, in denen zuvor bereits tribale Kriegstraditionen herrschten, die auf Vernichtung oder Versklavung der Gegner zielten. Vor allem Großbritannien war als "Imperium des permanenten Krieges" fast alljährlich in "kleine Kriege" dieser Art verstrickt, die oft mit großen Opferzahlen bei der einheimischen Bevölkerung einhergingen. Ohne Krieg keine Kolonien und die damit verbundenen Vorteile im globalen Wettbewerb, ohne Krieg aber auch keine Dekolonisierung. Dem Kolonialismus widmet Langewiesche nach den "Revolutionen" und "Nationen" ausführliche Kapitel.
Nach der Entfesselung bis dahin ungekannter Destruktionsenergien im Zweiten Weltkrieg ist Europa wieder zum historischen Laboratorium geworden. Nun geht es um die "Zähmung seines eigenen Erfolgsmodells Nationalstaat", um die Einhegung der "konkurrierenden Machtmaschinen". Langewiesche richtet am Ende seine Hoffnung auf die Weiterentwicklung der supranationalen Kooperation, der wir eine siebzigjährige Friedensepoche, zumindest in Europa, verdanken. Gerade, weil man aus seinem augenöffnenden Buch lernt, welche omnipräsente Rolle der "gewaltsame Lehrer" in der Geschichte bis in die Gegenwart spielte, muss man ergänzen: Es ist eine bange Hoffnung, so dringlich wie fragil.

Dieter Langewiesche: "Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne"
C.H.Beck, München 2019
512 Seiten, 32 Euro

Mehr zum Thema