"Dies ist ein sehr wichtiger Schritt"

Moderation: Matthias Hanselmann · 02.05.2006
Der amerikanische Historiker Paul Shapiro hat die angekündigte Öffnung des Holocaust-Archivs von Bad Arolsen als "sehr wichtigen Schritt" bezeichnet. Shapiro glaubt, dass damit Holocaustleugnern wie dem iranischen Präsidenten fundiert entgegen getreten werden kann, da somit über 17 Millionen Einzelfälle dokumentiert sind. Darüber hinaus dokumentierten die Akten aus Bad Arolsen den Alltag im NS-Regime.
Hanselmann: Über die Öffnung des Archivs von Bad Arolsen habe ich gesprochen mit Paul Shapiro. Er ist Direktor der historischen Forschungsstelle am Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Herr Shapiro, welche Bedeutung hat die Öffnung dieses Archivs für Sie.

Shapiro: Dies ist ein sehr wichtiger Schritt. Das Archiv in Bad Arolsen ist ja unter der Leitung von neun Staaten, die als Signatarstaaten die Verwaltung dieses Archivs übernommen haben. Und die Stockholmer Erklärung von 2000 sieht vor, dass dieses Material frei zugänglich sein soll. Die elf Staaten, die diesem Suchdienst ITS angehören, haben damit also, unter ihnen übrigens die USA und Deutschland und neun weitere Staaten, ihre Selbstverpflichtung eingelöst, die es ermöglichen soll, das Schicksal der Holocaustopfer nachzuvollziehen.

Hanselmann: Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, den wir vor kurzem hier im Deutschlandradio Kultur befragt haben, sagte, er freue sich zwar auch über die Öffnung des Archivs, er sei aber zugleich auch sauer darüber, dass man deutsche Wissenschaftler jahrelang habe abblitzen lassen und es dann, wenn in Amerika mit dem Finger geschnipst wird, offenbar, ich zitiere, "brachiale Entscheidungen in Hochgeschwindigkeit" gäbe. Können Sie den Missmut von Herrn Knigge verstehen?

Shapiro: Ich kann natürlich seine Frustration durchaus verstehen. Aber ich glaube, dieser Schritt verdankt sich der vereinten Anstrengung von Wissenschaftlern und Überlebenden in ganz unterschiedlichen Ländern. Ich weiß, dass der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald sich sehr mutig dafür eingesetzt hat, dass das Archiv geöffnet werden sollte. Und gleiches gilt auch für den Präsidenten des Zentralrats der deutschen Juden. Sie beide haben sich sehr engagiert dafür eingesetzt. Aber es waren darüber hinaus eben viele andere Gruppen, es waren Wissenschaftler und Überlebende in Frankreich, es waren Wissenschaftler und Überlebende in den USA, die immer wieder diesen Schritt, diese Öffnung gefordert haben.

Ich meine also, dieser Schritt, gerade zum jetzigen Zeitpunkt, hat eine enorme Wichtigkeit. Vielleicht darf ich das noch etwas ausführen. Wir leben ja in einer Zeit, wo wir immer mehr Fälle beobachten können, dass der Holocaust geleugnet wird, ja der Präsident eines Staates, Irans, hat gesagt, na ja, wenn es hoch kommt, haben einige Tausend Juden gelitten. Angesichts dieser Geschehnisse ist es von enormer Bedeutung, dass das Archiv geöffnet wird, denn hiermit lässt sich belegen, dass mindestens 17,5 Millionen Menschen als Opfer der Nazis im KZ oder auch als Zwangsarbeiter gelitten haben. Es ist also ein ganz wichtiges Belegmaterial, um den Holocaustleugnern entgegenzutreten.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Paul Shapiro, dem Chefhistoriker des Holocaust Memorial Museum in Washington. Herr Shapiro, glauben Sie, dass die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust umgeschrieben werden muss, wenn die Daten aus Bad Arolsen der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden?

Shapiro: Nun, diese Frage wird sich erst in einigen Jahren beantworten lassen, wenn die Wissenschaftler das gesamte Material ausgewertet haben. Stellen wir uns doch vor, das sind 30 bis 50 Millionen Seiten an Belegen, so weit wir das bisher einsehen, behandelt das vor allem Opfergeschichten aus dem KZ, dann Zwangsarbeiter und Sklavenarbeiter, so wie das Schicksal der Vertriebenen. Wir kennen mittlerweile doch die Grundzüge des Nazi-Regimes, aber wir werden nach der Auswertung dieses Materials sehr viel besser verstehen, was dieses System über Europa gebracht hat, vor allem, was die menschlichen Schicksale sind, die dahinter stehen, und was das Regime insgesamt für die Geschichte Europas bedeutet hat.

Hanselmann: Die Daten, das sind unter anderem Deportationslisten, das sind Sterbebücher und Karteikarten, auf denen sehr persönliche, sehr sensible Informationen über die Opfer des Holocaust notiert sind. Wie uns die Bundesjustizministerin sagte, sollen diese Informationen digitalisiert, den elf Ländern zur Verfügung gestellt werden, die die Arbeit des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes überwachen. Herr Shapiro, halten Sie das für eine gute Lösung?

Shapiro: Ja, ich glaube, es ist eine sehr gute Lösung, denn sie achtet die Gebräuche und auch die Gesetzeslage in den elf Staaten, die mit der Verwaltung dieses Archivs betraut sind. Und sie sichert zugleich auch, dass dieses ganze Material sowohl für die Überlebenden wie auch für die Forscher zugänglich gemacht wird. Und zwar in den größeren Forschungszentren, die in diesen elf Ländern eingerichtet werden.

Es gibt jedoch eine Frage, die ich hier noch anfügen möchte, einen Kommentar. Es wird ja immer wieder gesagt, dass sind hochpersönliche, sehr sensible Daten, die man eigentlich gar nicht herausgeben sollte, was dort in Bad Arolsen verwaltet wird. Nun, dazu ist zu sagen, diese Daten spiegeln in der übergroßen Mehrzahl einfach den Alltag, die Routine des täglichen Lebens unter dem Nazi-Regime wider. Ein Alltag, der durch das KZ geprägt war, einschließlich der Krankheiten, einschließlich des Sterbens unter dem Einfluss von Zwangsarbeit, viele Fälle von Mord und Totschlag sind auch dort dokumentiert, alles Dinge, die damals zur alltäglichen Routine gehörten.

Die übergroße Mehrzahl dieser Informationen sind in dieser oder ähnlicher Art durchaus auch in anderen, kleineren Archiven zugänglich. Aber weil das geringere Mengen sind in den anderen Archiven, haben sie für den Forscher weniger Wert als die Archive, das Archiv von Bad Arolsen. Gut, es stimmt schon, dass diese Daten personenbezogen, sensitiv, heikel sind, aber sie werden eben unser Wissen über die alltäglichen Abläufe in den nazibedrohten Ländern und in den Ländern, die die Nazis besetzt hielten, enorm verbessern.
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