Dienst für die Gemeinschaft

Ein soziales Jahr in Europa stärkt den Zusammenhalt

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Eine Person trägt hochgezogene Socken im Design der europäischen Flagge.
Ein "Wertdienst" für alle jungen Menschen in der EU würde „Europa eine Seele geben“, meint Christoph Quarch. © eyeem/Garry Freeman
Überlegungen von Christoph Quarch · 12.02.2020
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Annegret Kramp-Karrenbauer hatte im letzten Jahr die Idee eines verpflichtenden Dienstjahres für junge Menschen in Deutschland. Der Philosoph Christoph Quarch denkt weiter und meint, in ganz Europa sollte solch ein Sozialdienst geleistet werden.
"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." So sagte einst der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieses Wort gilt ungebrochen in einer Zeit, da der demokratische Rechtsstaat durch Populismus und Radikalismus bedroht ist. Nur stellt sich die Frage: Um welche Voraussetzungen handelt es sich?

Demokratien leben vom Gemeinsinn der Bürger

Schon die antiken Begründer der Demokratie wussten, dass ein Gemeinwesen vom Gemeinsinn seiner Bürgerschaft lebt – und dass sich dieser Gemeinsinn in gemeinsamen Werten manifestiert. Wer um den Erhalt eines Gemeinwesens besorgt ist, tut deshalb gut daran, dessen Wertefundament zu pflegen; und zwar, indem er dafür sorgt, dass die Werte gelebt werden. Denn Werte gelten nur solange, wie Menschen bereit sind, ihnen zu dienen. Dienst an den Werten eines Gemeinwesens ist der wichtigste Beitrag zu seiner Verteidigung. Wichtiger als Mauern, Grenzzäune oder Armeen.

Verpflichtendes soziales Jahr für Mädchen und Jungen

Deshalb war es ein Vorstoß in die richtige Richtung, als CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer anregte, ein verpflichtendes Dienstjahr für junge Männer und Frauen in Deutschland einzuführen. Nur war ihr Vorschlag schlecht begründet und nicht weit genug gedacht. So wurde nicht deutlich, dass es nicht um eine Wiedereinführung des Wehrdienstes gehe, sondern um die Etablierung eines neuartigen Wertdienstes. Vor allem aber verkannte AKK, welches Gemeinwesen es heute durch einen Wertdienst zu verteidigen gilt: die Europäische Union.
Dass Europa in Gefahr ist, lehrt nicht erst der Brexit. Auch von innen her drohen der EU Zerrissenheit und Auseinanderfallen. Denn wir haben es versäumt, Europa zu dem zu machen, was es de facto ist, auch wenn es sich oft darüber täuscht: eine Wertgemeinschaft. Wenn wir danach fragen, wie Europa vor Zerfall und Erosion geschützt werden kann, ist es nicht die schlechteste Idee, Kramp-Karrenbauers Vorstoß aufzugreifen und auf Europa auszudehnen.

Europäischer Wertdienst fördert Zusammenhalt

Wie wäre es, wenn die Bürgerinnen und Bürger Europas sich dazu entschließen, gemeinsam ihren geteilten Werten zu dienen? Wie wäre es, wenn sich die Mitgliedsstaaten der EU darauf verständigen, einen Europäischen Wertdienst zu etablieren, den zu absolvieren für junge Männer und Frauen die Eintrittskarte ins politische Europa bedeutet.
Wir würden viel gewinnen, wenn sie eine Zeit des Lebens darauf verwendeten, Dienst an den Werten Europas zu verrichten: in sozialen, ökologischen und zivilgesellschaftlichen Projekten, gemeinsam mit Menschen aus anderen EU-Staaten, in einem Land, das nicht das eigene Heimatland ist. Nach nur einer Generation hätten wir länderübergreifende Netzwerke junger Menschen quer durch die EU. Ein in gelebten Werten gründender europäischer Bürgersinn würde einlösen, was Jacques Delors schon in den 1980er-Jahren forderte: Europa eine Seele geben.

Sozialdienst als Teil des europäischen Bildungswesens

Darüber hinaus könnte man die Lebenschancen junger Menschen in ganz, vor allem aber in Südeuropa, erheblich steigern, wenn sich ihnen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch der ganze Kontinent als Zukunftsraum öffnet. Auch entstünden infolge der allgemeinen Verpflichtung zum Dienstjahr für niemanden Nachteile auf dem Arbeitsmarkt. Und wende niemand ein, das Gemeinwesen dürfe niemanden zu einem Dienst verpflichten!
Haben wir nicht eine allgemeine Schulpflicht, weil wir davon ausgehen, dass die Demokratie auf Bildung und Mündigkeit ihrer Bürgerschaft angewiesen ist? Doch lebt sie nicht allein von Stimmabgabe und Diskurs; sondern vor allem von gelebten Werten. Sie durch einen verpflichtenden Sozialdienst in anderen Ländern zum Bestandteil des europäischen Bildungswesens zu machen, schränkt unsere Freiheit nicht ein, sondern hilft sie bewahren.

Christoph Quarch ist Philosoph, Referent und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm "Das große Ja: Ein philosophischer Wegweiser zum Sinn des Lebens". 2019 gründete er die "akademie_3" zur Entwicklung eines geistigen Paradigmas für das digitale Zeitalter.


Der Philosoph Christoph Quarch vor einer sauber gertrimmten grünen Hecke.
© Ulrich Mayer
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