"Die Zeit der Wölfe bestimmen die Täter mit"

Von Hans-Jörg Modlmayr · 12.12.2009
Hans Keilson, der heute seinen 100. Geburtstag feiert, ist der letzte noch lebende Vertreter des literarischen Exils. Er wohnt in der Nähe von Amsterdam und kommt immer wieder über die Grenze in das Land, aus dem er 1936 fliehen musste. Genau hinzuschauen und sein Gegenüber wie sich selbst zu ermutigen, sich zu erinnern – das ist es, was er in seinem Beruf als Arzt und Psychotherapeut über Jahrzehnte hinweg geleistet hat. Hans Keilson gründete nach dem Krieg in den Niederlanden eine Hilfsorganisation für jüdische Waisenkinder. Seine Dissertation, die er erst im Alter von 70 Jahren veröffentlichte, bildet weltweit die Grundlage für die therapeutische Arbeit mit traumatisierten Kindern. Inzwischen ist Hans Keilsons Literatur auch wieder dort angekommen, wo das allererste Werk des Trompete spielenden Medizinstudenten einst veröffentlicht wurde: beim S. Fischer Verlag.
Heute vor 78 Jahren klingelte bei den Eltern des Berliner Medizinstudenten Hans Keilson das Telefon. Oskar Loerke, der Cheflektor des S. Fischer Verlages, war am Apparat. Er, Loerke, habe das Romanmanuskript "Das Leben geht weiter" ihres Sohnes dem Verlag zur Veröffentlichung empfohlen. Punktgenau zum Ende der Weimarer Republik erschien Anfang 1933 dann Hans Keilsons Erstlingsroman, in dem er am Beispiel eines kleinen, sich redlich mühenden Kaufmannes den unaufhaltsamen Niedergang des Systems Weimar schildert und dieser Ära unserer Geschichte ein eindrucksvolles Denkmal setzt. Lange währte allerdings Keilsons Freude über sein Debüt bei S. Fischer nicht, denn schon bald wurde sein Buch - weil er Jude ist - verboten.
(Bildnis eines Feindes)
In deinem Angesicht bin ich die Falte
eingekerbt um deinem Mund,
wenn er spricht: Du Judenhund.
Und du spuckst durch deiner Vorderzähne schwarze Spalte.
In deiner Stimme, wenn sie brüllt, bin ich das Zittern,
Ängste vor Weltenungewittern,
Die vom Grund wegreissen und zerstreuen.
Deine Hände würgen. Deine Enkel werden es bereuen.


Bis heute versteht Hans Keilson nicht, warum Menschen Menschen hassen, sie ausgrenzen, vernichten. Schon als Kind erlitt er Ausgrenzung, wusste aber nicht, warum ihn die anderen Kinder ausstießen - er hatte ihnen ja nichts zuleide getan. Bis heute kann er es nicht übers Herz bringen, seine Feinde zu hassen. Spätestens mit dem Verbot seines ersten Buches, das erst in den 80er Jahren wieder aufgelegt wurde, und seit dem Verbot, seinen Arztberuf auszuüben, spürte er existenziell die Gefahr, vom Grund seiner deutschen Heimat weggerissen zu werden, wie es in seinem 1936 im holländischen Exil geschriebenen Gedicht "Bildnis des Feindes" heißt:
In deinem Angesicht bin ich die Falte
eingekerbt um deinem Mund,
wenn er spricht: Du Judenhund.


Warum dieser Hass im Angesicht seines Feindes, den er persönlich eigentlich gar nicht kennt - oder doch? Mit einer fast schon halsbrecherischen Ehrlichkeit spürt Keilson seit der Machtergreifung Hitlers der unheimlichen Frage nach der tiefenpsychologischen Verstrickung von Verfolger und Verfolgtem nach. Schon früh hatte er die Vorahnung gehabt, 'B.', wie er Hitler in seinem großen Roman der "Tod des Widersachers" nennt, sei irgendwie mit ihm verbunden, sei die dunkle zerstörerische, die unerlöste Seite seines Ich. Und aus seiner furchtlosen Ehrlichkeit und seiner Unfähigkeit zu hassen heraus, versucht Keilsons Protagonist in "Der Tod des Widersachers" (1959 erstmals erschienen), dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu entrinnen indem er sich mental weigert, seinen Widersacher umzubringen - eine Weigerung, die letztendlich der Erkenntnis entspringt, dass der Verfolger im Grunde seine eigene Auslöschung vorantreibt. Unter der deutschen Besatzung fing Keilson seinen Roman "Der Tod des Widersachers" an, vergrub aber, als der deutsche Terror immer stärker wurde, die ersten 50 Seiten im Garten seines Hauses und nach der Befreiung der Niederlande grub er das etwas feucht gewordene Manuskript wieder aus und vollendete es. Vor 50 Jahren erschien der Roman dann bei Westermann, wurde nicht beachtet, denn noch interessierte sich in Deutschland kaum jemand ernsthaft für eine differenzierte Ursachenerforschung der psychischen Grundlagen der deutschen "Urkatastrophe". Ins Konzept der den Buchmarkt beherrschenden Gruppe 47 passte Hans Keilsons Ansatz nicht. Es ging Hans Keilson so wie vielen anderen Exilautoren. Ihre aus der Perspektive der Überlebenden geschriebene Literatur passte nicht in das Klima der deutschen Nachkriegsliteratur - sehr zum Schaden der Leserschaft, der diese andere Perspektive und Erkenntnismöglichkeit eigentlich bis heute vorenthalten wurde.
Im Kern von Keilsons Roman "Der Tod des Widersachers" steht die Parabel von den Elchen und den Wölfen. Der russische Zar schenkte dem deutschen Kaiser eine Vorzeigeherde von Elchen, die aber unter deutscher Obhut - trotz vorbildlicher Hege und Pflege - langsam eingeht. Der Grund: Diesen Elchen fehlten die Wölfe. Als Keilsons "Tod des Widersachers" 1962 in den USA auf den Markt kam, reagierte die Kritik begeistert. Dies sei, so hieß es in "Time Magazine", das Schlüsselbuch zum Verständnis der Wechselbeziehung von Verfolgern und Verfolgten, die sich so unendlich schwer aus der psychischen Abhängigkeit von den Tätern lösen können.