Die Wunden sind längst nicht verheilt

Von Peter Kujath · 06.09.2011
Vor einem halben Jahr am 11. März erschütterte eine dreifache Katastrophe den Nordosten Japans: ein Erdbeben, ein Tsunami und in der Folge die Havarie im AKW Fukushima. Die Japaner sind erschüttert über die Unfähigkeit der Politik, die Krise in den Griff zu bekommen. Die betroffenen Menschen haben essenzielle Sorgen: Ein halbes Jahr danach sieht man entlang der Küste noch immer die Zerstörung.
"Ich habe niemals zuvor ein so starkes Erdbeben erlebt. Dort, wo ich arbeite, sind überall Risse an den Wänden aufgetreten."

Das Beben vom 11. März war mit 9,0 auf der nach oben offenen Richterskala das stärkste, das Japan seit Beginn der Aufzeichnungen erleben musste. Aber die meisten Häuser hielten Stand - zumindest, bis eine halbe Stunde später die nächste Katastrophe über die Küstenregion im Nordosten hereinbrach.

"Aus dem Hubschrauber heraus kann man sehen, wie das Meer über die Felder fließt und die Autos mit sich nimmt. Das sind Bilder aus der Nähe der Stadt Sendai etwa fünf Kilometer entfernt vom Meer. Auch große Gebäude sind betroffen."

Der Tsunami mit einer Höhe von bis zu 30 Metern verwüstete ganze Städte, ließ nichts zurück als die Grundmauern. Über 20.000 Menschen kamen ums Leben. Einige Tausend davon werden wohl niemals gefunden werden. Mit einer Höhe von 15 Metern traf der Tsunami auch das Atomkraftwerk Fukushima 1. Die Stromversorgung wurde unterbrochen, weil man nur auf eine Welle bis zu 5,7 Metern vorbereitet war. Das war der erste entscheidende Fehler bei der Sicherung des AKWs.

Die Brennstäbe in drei der sechs Reaktorblöcke konnten nicht mehr gekühlt werden und es kam zur Katastrophe.

Yukio Edano: "Wir haben die Evakuierung angeordnet und die Menschen in einem Umkreis von drei Kilometern gebeten, sich in Sicherheit zu bringen als Vorsichtsmaßnahme. Bitte bleiben Sie ruhig und kooperieren sie mit den lokalen Polizei- und Feuerwehrkräften."

Es war nur die erste Notfallmaßnahme einer zu Beginn relativ hilflos agierenden Regierung. Wenig später wurde die Evakuierungszone auf zehn und dann auf 20 Kilometer ausgedehnt. Mittlerweile ist klar, dass einige Bereiche in der Nähe des havarierten AKWs über Jahre unbewohnbar seien werden.

Der zweite Punkt, der ein äußerst bedauerlicher Fehler war, betrifft die Stromversorgung. Die Notstromaggregate lagen im Keller und wurden überflutet. Die zusätzlichen Notstromleitungen funktionierten ebenfalls nicht. Als Fukushima 1 Anfang der 70er-Jahre in Betrieb genommen wurde, entsprach die Anlage den damaligen Sicherheitsanforderungen.

Aber Tepco hätte später die Anlage nachrüsten müssen. Warum hatte die Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe nicht die gleichen, verheerenden Folgen für das nahegelegene Kernkraftwerk Fukushima 2?

Hajimu Yamana: "Dort war anders geplant worden. Der Staat hat den Betreiber allerdings auch nicht gezwungen nachzurüsten. Die Regelungen waren nicht verschärft worden. Tepco hatte das für Fukushima 2 von sich aus gemacht. Warum hat der Energiekonzern nicht auch in die Sicherheit von Fukushima 1 investiert?"

Hajimu Yamana ist Professor an der Kyoto-Universität und leitet die staatliche Kommission zur Stilllegung und Entsorgung des havarierten AKWs. Die Frage der Verantwortlichkeit wird von einem anderen unabhängigen Gremium untersucht. Aber schon jetzt ist klar, dass die Sicherheitsvorkehrungen mangelhaft waren und keine echte Kontrollbehörde existierte. Staat, Konzerne und Aufsichtsorgane waren im übertragenen Sinn eine große Familie, die sich in der Förderung der Atomenergie einig waren. Das hat sich mittlerweile geändert.

Haruki Madarame: "Die japanischen Atomexperten lebten in ihrer eigenen kleinen Welt und haben es nicht geschafft, die Dinge frei und ohne Vorbedingungen zu diskutieren. Das stellte ein großes Problem dar. Manche Menschen glauben, dass das Naturereignis wie der Tsunami für die Katastrophe verantwortlich ist, aber ich glaube, es war menschliches Versagen","

räumte Haruki Madarame, Chef der Nuklearen Sicherheitsagentur, mittlerweile ein.

Seine Einrichtung wird mit der Atomaufsichtsbehörde zusammengelegt und künftig beim Umweltministerium angesiedelt sein. Ob das reicht, um die Verflechtungen aufzubrechen, ist fraglich. In den ersten Stunden nach der Atomkatastrophe herrschte Chaos, fehlte eine ordentliche Abstimmung zwischen den zuständigen Stellen und der Regierung. Der Chef der Anlage entschied damals eigenständig als Notfallmaßnahme, Dampf aus der Druckkammer abzulassen. Diese Aktion war zwar richtig, führte im weiteren Verlauf aber zu den Wasserstoff-Explosionen vom 12. und 14. März. Die Wucht zerstörte Teile der Reaktorgebäude 1, 3 und 4 und es wurden große Mengen radioaktiver Partikel freigesetzt.

Mittlerweile ist klar, dass man an die Möglichkeit einer Wasserstoff-Explosion in dem Moment nicht gedacht hatte. Den Zustand der Reaktorkerne beschreibt der Atom-Experte von der Kyoto-Universität, Hajimu Yamana, wie folgt:

""Der Reaktor 1 ist sehr nahe an einer kompletten Kernschmelze. Nummer 2 und 3 sind teilweise geschmolzen, aber nicht zu einem geringen Teil. Ich denke, es ist klar, dass sich das geschmolzene Material im Block 1 bereits durchgefressen hat und auf den Boden des Behälters zur Eindämmung gefallen ist. Bei 3 und 2 bin ich mir nicht sicher. Es gibt noch keine verlässlichen Daten dazu, aber die Möglichkeit ist ziemlich hoch."

Ein halbes Jahr danach gibt es zum Glück erste Erfolge bei der Stabilisierung der Anlage durch den Betreiber und Energiekonzern Tepco. Die Kühlung zuerst mit Salzwasser, dann mit Frischwasser und aktuell mit wiederaufbereitetem Wasser brachte die Temperatur im Reaktor 1 unter 100 Grad. Die Situation in den Abklingbecken für die gebrauchten Brennstäbe ist wieder normal – sieht man einmal davon ab, dass die Behälter aufgrund des Erdbebens und der Explosionen kreuz und quer in den Becken liegen.

Auch nach einer endgültigen Stabilisierung Anfang nächsten Jahres, so Professor Hajimu Yamana, werden die Arbeiten noch mehr als ein Jahrzehnt andauern. Erst dann werden die gebrauchten Brennstäbe und die geschmolzenen Kerne fachgerecht entsorgt sein.

Dafür muss die japanische Politik eine Reihe von Entscheidungen treffen – zum Beispiel wohin mit all dem radioaktiven Müll, der von Gebäudeteilen über radioaktiven Boden oder Klärschlamm bis eben zu den stark strahlenden Kernen selbst reicht. Kurz vor seinem Rücktritt als Premierminister bat Naoto Kan den Gouverneur von Fukushima, dem Bau einer vorübergehenden Deponie in seiner Präfektur zuzustimmen.

Die einst für ihr Gemüse und Obst bekannte Region ist in einer schwierigen Lage, räumt dieser Ladenbesitzer ein:

"Die Kunden achten mittlerweile sehr auf die Herkunft, wo die Produkte angebaut werden. Ich denke, das liegt daran, dass es immer klarer wurde, dass die Beteuerungen der Regierung nicht glaubwürdig sind. Es spielt keine Rolle mehr, wenn die Behörden versichern, dass die Belastung unter dem Grenzwert liegt. Die Kunden haben entschieden, auf Nummer sicher zu gehen, und ich habe das Gefühl, sie suchen gezielt Produkte aus weit entfernten Anbaugebieten."

Für die Einkommensausfälle steht den betroffenen Bauern in Fukushima eine Entschädigungszahlung zu. Tepco hat nach einer ersten Abschlagszahlung mittlerweile die weiteren Sätze bekannt gegeben. Evakuierte erhalten pro Tag bis zu 8000 Yen und bis zu 120.000 Yen pro Person und Monat für die psychische Belastung. Das sind umgerechnet etwa 1100 Euro.

Entschädigungen sind aber nur das eine. Denn die Verunsicherung hat weite Teile der Bevölkerung ergriffen. Viele messen lieber selbst und kaufen ihre Lebensmittel woanders, wenn sie es sich leisten können:

"Meeresprodukte besorge ich mir auch lieber aus Osaka. Ich bitte einen Fischhändler dort, uns einmal im Monat Fische zu liefern. Die friere ich dann erst einmal ein. So habe ich ein gutes Gefühl, wenn wir Fisch essen."

Cäsium 137 hat eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren. Die Langzeitfolgen zum Beispiel im Meer vor der Küste Fukushimas sind noch nicht absehbar. Am Boden vor dem havarierten AKW und in einigen der am Grund lebenden Fische in der Präfektur sind erhöhte Werte gefunden worden. Über die Gefahr, die von diesen erhöhten Werten ausgeht, wird auch unter Experten heftig gestritten.:

"Ich habe an verschiedenen Informationsveranstaltungen teilgenommen, die in den Schulen abgehalten wurden. Aber die Meinungen über die Folgen der Strahlenbelastung sind unter den Experten so unterschiedlich, dass ich nicht wirklich weiß, was ich glauben soll."

Der andere wichtige Bereich, um den sich Tepco wie die japanische Regierung kümmern müssen, ist die Dekontaminierung. Das gilt vor allem für die stark belastete Gegend nordwestlich der Anlage Fukushima 1. Wenn im Boden eine erhöhte Strahlenbelastung gemessen wird, soll eine Reinigung oder das Abtragen der obersten Schicht stattfinden. Zum Teil hat dieser Prozess bereits begonnen, aber er wird lange dauern und der Erfolg ist keineswegs garantiert.

Der Ende August zurückgetretene Premierminister, Naoto Kan, hatte am Ende eingeräumt:

"Es wird voraussichtlich drei, fünf, zehn Jahre, wenn nicht sogar mehrere Jahrzehnte dauern, bis die atomare Katastrophe endgültig abgeschlossen ist. Es ist daher dringend nötig, erneut eine Diskussion innerhalb der japanischen Bevölkerung anzustoßen, wie es mit der Atom- und Energiepolitik des Landes weitergehen soll."

Sein Nachfolger, Yoshihiko Noda, will die erneuerbaren Energien fördern und hat zu Beginn seiner Amtszeit betont, dass keine neuen Atomkraftwerke gebaut werden sollen, von einem baldigen Ausstieg sprach er jedoch nicht. Die Einstellung der Bevölkerung Japans gegenüber der Kernenergie hat sich aber deutlich verändert:

"Nach Meinungsumfragen im März war etwa die Hälfte der Bevölkerung gegen Atomkraft. Das hat sich dann langsam im April, Mai, und Juni gesteigert. Mittlerweile können wir sagen, dass die Anti-Atomkraft-Bewegung mehr als die Hälfte der Menschen hinter sich weiß. Erst durch die Katastrophe von Fukushima sind wir so richtig aufgewacht und haben begriffen, dass es mit der Atomkraft einfach nicht mehr so weitergehen kann."

Die jüngsten Umfragen zeigen, dass sich die Menschen langfristig einen Umstieg hin zu erneuerbaren Energien wünschen, aber nur 10 Prozent für einen sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie sind. Bis Ende August wollte die japanische Regierung all die Menschen, die durch die 3-fache Katastrophe ihr Zuhause verloren hatten, in vorübergehende Wohneinheiten untergebracht haben. Das hat nicht ganz geklappt.

Noch immer leben einige Hundert in Turnhallen in den Präfekturen Miyagi und Fukushima. Dabei gäbe es genügend freie Wohnblocks.

"Ich muss oft zum Krankenhaus hier in der Nähe der Notunterkunft. Weil ich nur ein Fahrrad habe, kann ich nicht irgendwohin weit wegziehen."

Einige der neu gebauten Quartiere liegen abseits im Landesinneren, weil der Tsunami kein sicheres Bauland zurückgelassen hatte. Aber das ist nur ein möglicher Grund. Andere bleiben lieber in der Gemeinschaft der Turnhalle, weil sie sich vor der Einsamkeit fürchten:

"Viele ältere Menschen fühlen sich sehr verunsichert durch die Katastrophe. Und wenn sie jetzt allein in einer kleinen Wohnung leben sollen, dann haben sie noch mehr Angst vor der Zukunft. Deshalb ziehen sie es vor, in der Gemeinschaft hier unter den Älteren zu bleiben."

So einer der Betreuer in einer Notunterkunft in Fukushima. Schon vor der Katastrophe vom 11. März war das Problem der zunehmend älter werdenden Gemeinden im Nordosten Japans bekannt. Viele der jungen Menschen sind in die Ballungszentren, nach Tokio oder Osaka gegangen. Zurück blieben die Alten, die durch den verheerenden Tsunami alles verloren haben.

"Von meinem Haus aus konnte ich sehen, wie eine Woge Rokku Nobori überschwemmte. Ich bin sofort ins Auto gesprungen und landeinwärts nach Wakabayashi gefahren. Es war eine schwarze Welle, auf deren Oberfläche ich weißen Rauch aufsteigen sah. Es war ein erschreckender Anblick. Deshalb bin ich gleich mit dem Auto weg."

Es war dem Gemeindevorsteher wichtig, zumindest zu versuchen, die Menschen zusammenzuhalten. Deshalb haben sie die Turnhalle erst geräumt, nachdem alle zusammen in eine Einheit mit vorübergehenden Wohnblocks ziehen konnten. Die Küstenstadt Miyako weiter im Norden hatte sich diese Idee zum Prinzip gemacht, so Katsunori Konari:

"Wer in die bereits fertiggestellten Häuser einziehen darf, wird in Miyako nicht per Los entschieden. Wir haben festgelegt, dass die Gemeinde, die Nachbarschaft immer als Ganzes dort einziehen soll. Damals beim großen Kobe-Beben 1995 gab es viele alte Menschen, die in die vorübergehenden Wohneinheiten gezogen und dann an Vereinsamung gestorben sind. Solche Probleme wollen wir auf jeden Fall vermeiden. Deshalb hat sich die Stadt Miyako für diese Vorgehensweise entschieden."

Auf einer Anhöhe am Rande Miyakos gelegen stehen rund 40 dieser Fertighäuser aufgereiht. Davor wurde ein Spielplatz errichtet und Bänke aufgestellt. Ine Okura und Kikuno Hoshiba sitzen zusammen, um ein bisschen zu reden. Sie sind schon über 70 Jahre alt und froh, endlich aus der Notunterkunft heraus zu sein:

"Jetzt haben wir wieder Hoffnung. Das ging nicht per Los, sondern uns wurden von der Stadt diese Einheiten zugeteilt."

Die beiden wohnten früher in der gleichen Nachbarschaft, ehe der Tsunami alles mit sich riss. Für den Verlust ihres Hauses haben die beiden jeweils eine Million Yen, knapp 9 000 Euro, an staatlicher Entschädigung erhalten:

"Es heißt, wir dürfen hier zwei Jahre ohne Miete leben. Aber zwei Jahre ist viel zu kurz für uns. Wir sind ja bereits ziemlich alt und genügend Geld haben wir auch nicht. Wir können unsere Häuser nicht wieder aufbauen und wir haben auch keine Angehörigen mehr. Wir haben also keine andere Chance, als auch über die zwei Jahre hinaus hier wohnen zu bleiben."

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