Die Welt ist keine Kinderstube

Von Ulrike Ackermann · 23.10.2005
In "Die Zukunft einer Illusion" widmet sich Sigmund Freud 1927 den Sehnsüchten und Wünschen des Menschen nach einer behaglichen, gerechten Welt, in der für ihn gesorgt wird, seinem Schutzbedürfnis entsprochen und damit seine eigene Hilflosigkeit erträglich wird. In der Religion, bei Gott-Vater findet der Mensch diese tröstlichen Versicherungen.
"Der Vater hat das schwache, hilflose, allen in der Außenwelt lauernden Gefahren ausgesetzte Kind beschützt und bewacht; in seiner Obhut hat es sich sicher gefühlt. Als Erwachsener mag er auch jetzt nicht auf den Schutz verzichten, den er als Kind genossen hat. Längst hat er aber erkannt, daß sein Vater ein in seiner Macht eng beschränktes, nicht mit allen Vorzügen ausgestattetes Wesen ist. Darum greift er auf das Erinnerungsbild des von ihm so überschätzten Vaters der Kindheit zurück, erhebt es zur Gottheit und rückt es in die Gegenwart und in die Realität." An anderer Stelle heißt es bei Freud: "Wenn wir die religiösen Lehren als Illusionen erkannt haben, erhebt sich die Frage, ob nicht auch anderer Kulturbesitz, den wir hochhalten und von dem wir unser Leben beherrschen lassen, ähnlicher Natur ist. Ob nicht die Voraussetzungen, die unsere staatlichen Einrichtungen regeln, gleichfalls Illusionen genannt werden müssen?"

Zu diesen Besitzständen zählt zweifellos auch das deutsche Verständnis vom traditionsreichen Sozialstaat, das nun einem zähen und schmerzhaften Desillusionierungsprozess unterworfen ist. Ein Großteil der Bevölkerung hegt immer noch die Sehnsucht, Vater Staat möge für eine soziale und gerechte behagliche Welt sorgen - eine Illusion, die seit Jahren nicht nur zu Wahlkampfzeiten von der politischen Klasse bedient wird. Aber Vater Staat ist bankrott, er ist überdimensional verschuldet und wir haben die höchste Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Republik. 48 Prozent des staatlichen Budgets sind Sozialausgaben, 14 Prozent werden für die laufende Tilgung der Verschuldung verwendet. Der Leugnung dieser Realität entsprechen die immensen Widerstände in der Bevölkerung gegen grundlegende Reformen.

Die Parolen der beiden Volksparteien über soziale Gerechtigkeit oder "Sozial ist, was Arbeit schafft", nähren weiterhin die große Illusion, eine Regierung könne Arbeitsplätze schaffen und die Vollbeschäftigung aus alten Zeiten herbeizaubern. Neben Globalisierung und Wirtschaftkrise ist aber mit der Wiedervereinigung nicht nur der realexistierende Sozialismus der alten DDR, sondern auch das alte BRD-Modell des rheinischen Kapitalismus untergegangen. Doch das seit Bismarck währende Kontinuum staatlicher Sozialpolitik hat sich tief in die deutsche Mentalität eingegraben. Hitlers nationaler Sozialismus bediente die Sehnsüchte nach staatlicher Fürsorge ebenso wie später die Sozialistische Einheitspartei in der DDR. Den Deutschen ist die von der Französischen Revolution und später der amerikanischen Verfassung postulierte Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz zusammengeschmolzen auf die soziale Gleichheit.

Sie definieren sich nicht politisch als Staatsbürger einer Demokratie, sondern beziehen ihre Identität aus dem Sozialstaat. Sozialetatismus und Arbeitskorporatismus, Erbschaften aus beiden deutschen Diktaturen, sorgen dafür, dass Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft immer noch höhere Güter sind als die Freiheit. Eigenverantwortlichkeit der Bürger, Wettbewerb und weniger Staat, als Komponenten tätiger Freiheit, die Raum gibt, unterschiedliche Optionen eigenständig wählen zu können, werden bis heute als "Neoliberalismus" beschimpft. Es muss schon zu denken geben, dass der Liberalismus in Deutschland trotz der Diktaturerfahrungen keine Tradition hat und negativ besetzt bleibt.

Am grundlegenden Umbau des Sozialstaats wird keine zukünftige Regierung vorbeikommen. Die Veränderungen, Revisionen und Dekonstruktionen werden schmerzvoll und von Angst begleitet sein. Aber man könnte diese Krise, in die Gesellschaft und Staat geraten sind, auch als Herausforderung begreifen: ein Aufbruch in eine Politik, in der sich Freiheit und Demokratie nicht nur im so lieb gewonnenen Sozialstaat erschöpfen. Es bedeutet schlicht, endlich unabhängig vom großen Vater, erwachsen und realitätstüchtig zu werden. Denn: "Die Welt ist keine Kinderstube", wie Sigmund Freud 1932 voraussagte.


Dr. Ulrike Ackermann, geb. 1957, Studium der Politik, Soziologie und Neueren Deutschen Philologie in Frankfurt/Main. Ab 1977 Zusammenarbeit mit der Charta 77, dem polnischen KOR, der Solidarnosc und anderen Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa. Fünf Jahre lang verantwortliche Redakteurin der "Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft". 1995 bis 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seit 1998 freie Autorin. Gründerin und Leiterin des Europäischen Forums an der Berlin-Brandenburgischen Akademie für Wissenschaften. Buchveröffentlichungen u. a.: "Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute" und zuletzt "Versuchung Europa" (Hg.), Frankfurt am Main 2003, Humanities Online.