Die Welt der Donna Rosita

15.10.2010
Das glitzernde TV-Italien erobert auch die Provinz. Traditionelle Handwerke sterben aus, Hirten und Landwirte finden keine Nachfolger. Doch Fabrizia Ramondino bleibt der mythisch geprägten, süditalienischen Mentalität auf der Spur.
Das Städtchen Acraia, Schauplatz von La Via, liegt an einer alten Handelsstraße Richtung Norden, die seit der Antike Rom mit Neapel verbindet. Vom historischen Kern des Ortes blieb kaum etwas übrig, weil hier die schwer umkämpfte Frontlinie des Zweiten Weltkrieges verlief.

Den alteingesessenen Bewohnern steckt die Erinnerung daran noch in den Knochen, als der Held und Ich-Erzähler Mitte der 90er Jahre auf Einladung seines Freundes Teodosio in Acraia Quartier nimmt, um sich von einer Krankheit zu erholen. Teodosio und sein Kompagnon Onofrio, die gemeinsam eine Autowerkstatt betreiben, versorgen den rekonvaleszenten Kapitän allabendlich mit einem köstlichen Mahl und breiten in langatmigen Erzählungen alles Wissenswerte über Acraia vor ihm aus.

La Via ist das letzte Buch der neapolitanischen Schriftstellerin Fabrizia Ramondino, Verfasserin des großartigen Neapel-Porträts Althénopis (1981), einer der schönsten italienischen Romane der vergangenen Jahrzehnte. Ramondino, 1936 geboren und 2008 beim Baden ums Leben gekommen, war Mitte vierzig, als sie ihre weit verzweigte Familiengeschichte zum Gegenstand ihres Debüts machte und begann, in zahlreichen Romanen und Erzählungen ihre Nomadenkindheit als Tochter eines Diplomaten zwischen Mallorca, Frankreich und Neapel heraufzubeschwören und den Geschichtenkosmos ihrer exzentrischen Verwandtschaft literarisch zu erforschen.

Auch ihr politisches Engagement, die Zeit als Lehrerin in den ärmsten Vierteln von Neapel, die Gründung eines Kindergartens und einer Arbeiterabendschule sowie die Erfahrungen eines Alkoholentzugs wurden zum Material ihrer Bücher.

Hinter Acraia verbirgt sich Itri, wo Ramondino seit Mitte der achtziger Jahre beheimatet war, und der Kapitän ist ein alter ego der Autorin, die ähnlich ungebunden und selbstbestimmt wie ihr Held gelebt hat und sich um Konventionen wenig scherte. Voller Skepsis beobachtet der Landgänger, wie das glitzernde TV-Italien auch die Provinz verändert: Traditionelle Handwerke sterben aus, Familienbetriebe schließen, Hirten und Landwirte finden keine Nachfolger. Stattdessen greift Grundstückspekulation um sich. Der Traum vom schnellen Geld erfüllt sich für den ehemaligen Barbier, der sich mit Heilkräutern und homöopathischen Behandlungsmethoden eine goldene Nase verdient.

Die Sympathien des Protagonisten gehören den marginalisierten Gestalten. Da gibt es den Schafhirten Bartolomeo, einen unverbesserlichen Anarchisten. Dann die drei Generäle, die mitnichten einen militärischen Rang bekleiden, sondern während des Krieges als Diebe durchkamen und inzwischen Experten für die Schlacht von Montecassino geworden sind. Und schließlich die Höhlenbewohnerin Maria, uneheliche Tochter einer Verrückten, die sich mit Hilfsdiensten über Wasser hält.

Über allem wacht Donna Rosita, eine mythische alte Dame und schwerreiche Wohltäterin. Ihren konsumverblendeten Kindern erteilt sie eine Lehre, indem sie sich in hohem Alter mit ihrem Liebhaber davon macht und ihnen das Erbe entzieht. Wie in ihrem letzten Erzählungsband Die Katze (2007) zieht Ramondino das Wunderliche und Unangepasste an. Es scheint der letzte Hort der uritalienischen Tugenden zu sein.

Besprochen von Maike Albath

Fabrizia Ramondino: La Via
Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug
Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2010, 318 Seiten, 24, 90 Euro