Die Welt bietet viel mehr Möglichkeiten

22.12.2011
Langsam und aufmerksam muss man Hans-Peter Dürrs Buch lesen. Er erklärt, dass Materie nicht aus etwas Eindeutigem besteht und wendet diese Theorie auf alle Lebensbereiche von Arbeit bis Zukunft an. Am Ende hat auch der Nicht-Physiker das Gefühl, etwas gelernt zu haben.
"Materie ist nicht aus Materie aufgebaut". In der Quantenwelt jedenfalls gibt es nichts konkret Greifbares, eindeutig Nachweisbares mehr. Man entdeckt als Ursprung vielmehr etwas‚ "das mehr dem Geistigen ähnelt:... eine Potenzialität, eine Kann-Möglichkeit der Realisierung".

Für Nichtphysiker wie den Rezensenten ist das eine verwirrende Erkenntnis, denn sie widerspricht allem Anschein und unserem mechanischen Weltbild aus Dingen, die man sehen, benutzen und anfassen kann. Hans-Peter Dürr, Schüler der Physiknobelpreisträgers Werner Heisenberg und 20 Jahre lang dessen Nachfolger als Chef des Max-Planck-Instituts für Physik gelingt es allerdings in den ersten beiden Kapiteln seines Buches, auch Laien diese Grunderkenntnis der modernen Physik verständlich zu machen. Sie verändert seiner Ansicht nach unser Denken. In stark verknappter Kurzform: Wenn es auf der untersten Ebene der Materie, in der Quantenwelt, keine klare Ursache/Wirkung- Beziehung gibt, sondern sowohl/als auch-Beziehungen, dann heißt das, dass wir keine eindeutigen Voraussagen treffen können.

Hans-Peter Dürr vergleicht die Quantenwelt mit Gefühlen, die ebenfalls nie eindeutig sind. Dennoch verstehen wir Gefühle und können mit ihnen umgehen. Die Vieldeutigkeit der Quantenphysik birgt für den Autor die optimistische Erkenntnis, dass die Welt viel mehr Möglichkeiten bietet, als wir uns derzeit vorstellen können. Er schlussfolgert:

"Unsere westliche Konsumkultur stellt nur eine winzige Nische innerhalb unserer Möglichkeiten da."

Der Einstieg des Buches hat es in sich. Lässt man sich erst einmal auf diese neue Gedankenwelt ein, das heißt auch, langsam und sehr aufmerksam zu lesen, dann versteht man erheblich besser, warum unsere Welt chaotisch und instabil ist, obwohl der Anschein das Gegenteil zu beweisen scheint. Das Gehen ist dafür ein Beispiel. Ginge man mit einem Bein, würde man umfallen. Das zweite stabilisiert den Körper. Zwei Instabilitäten stabilisieren sich gegenseitig. Die Biosphäre ist für Hans-Peter Dürr eine ungeahnte Kooperation von Instabilität, in die wir fahrlässig eingreifen, ohne sie verstanden zu haben.

Im zweiten Teil des Buches wendet der Autor das neue Denken dann auf zwölf gesellschaftliche Schlüsselbegriffe an. Das beginnt bei A wie Arbeit und endet mit Z wie Zukunft. Nicht alle Einsichten sind neu, nur oftmals erfrischend anders formuliert. So fordert er eine poetische Sichtweise der Wirklichkeit, um besser zu begreifen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.

Als Beispiel führt er ein Goethe-Gedicht an. Man muss es ganz lesen, um es zu verstehen. Die Naturwissenschaften aber, so Dürr, zerlegen es in seine Einzelteile, zählen die Buchstaben, sortieren sie, bringen sie in eine Ordnung und zerstören so praktisch die Komplexität des Gedichts. Es lässt sich aus den zerlegten Einzelteilen nicht wiederherstellen.

Das Buch lebt von solchen anschaulichen Vergleichen und das macht er zu einer wenn auch bisweilen anstrengenden, so doch ausgesprochen lehrreichen Lektüre. Man verlässt es mit dem angenehmen Gefühl, etwas begriffen und dazugelernt zu haben.

Besprochen von Johannes Kaiser

Hans-Peter Dürr: "Das Lebende lebendiger werden lassen – Wie uns neues Denken aus der Krise führt"
oekom Verlag, München 2011
165 Seiten, 17,95 Euro
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