Die Vorhölle kann nicht die Lösung sein

Vorgestellt von Florian Felix Weyh · 18.02.2007
Ein Sohn schreibt ein Buch über das, was ihm mit dem hoch betagten Vater widerfährt. Obwohl seit Jahren Handlungsbedarf droht, platzt die Situation wie eine Bombe ins normale Leben von zwei auch nicht mehr ganz jungen Kindern samt ihren Familien. "Wohin mit Vater?" Nach vielen verzweifelten Anläufen findet sich eine Lösung, die in Deutschland illegal ist, weswegen der Sohn seinen Bericht als Anonymus veröffentlicht.
"Das Erste war dieser Geruch. Eine schwer definierbare Mischung aus allem Möglichen, aus dem aber zwei Komponenten ganz deutlich hervorstachen, Putzmittel und Urin. Der Geruch steckte überall, obwohl mehrere Fenster geöffnet waren, er steckte im Flur, er steckte im Gemeinschaftsraum, in den sie zunächst geführt wurden, er steckte auch in dem Zimmer, das das des Vaters sein sollte."

So fühlt er sich an, der befremdende, schockartige erste Eindruck beim Betreten eines Pflegeheims. Das Grauen ergreift den Gast umso stärker, als er eben kein neutraler Besucher ist, sondern Kundschafter auf der Suche nach jenem Ort, an dem ein Elternteil seinen Lebensabend verbringen kann. Doch welcher Euphemismus: Lebensabend!

"Zwei hoch betagte Männer, die sich nie im Leben kannten, zwei Wildfremde, sollten nun, da sie alt und gebrechlich waren, den Rest ihrer Tage gemeinsam auf ein paar Quadratmetern verbringen. (…) Und, wenn es darauf ankam, den anderen mit dem Tod ringen sehen und sterben – im Bett nebenan. Unvorstellbar, dachte der Sohn, völlig unvorstellbar."

Der Sohn schreibt ein Buch über das, was ihm mit dem hoch betagten Vater widerfährt. Obwohl seit Jahren Handlungsbedarf droht, platzt die Situation wie eine Bombe ins normale Leben von zwei auch nicht mehr ganz jungen Kindern samt ihren Familien. Denn die Mutter, die den kaum gehfähigen Vater die letzten Jahre über betreut hat, stirbt mit 83 Jahren über der Last der schweren Aufgabe. Im großen Haus kann der Vater nicht alleine weiterleben.

"Wohin mit Vater?" Nach vielen verzweifelten Anläufen findet sich eine Lösung, die in Deutschland illegal ist, weswegen der Sohn seinen Bericht als Anonymus veröffentlicht. Doch dafür gibt noch einen zweiten Grund. In seinen stärksten Passagen ist das Buch aufrecht selbstkritisch, eine Abrechnung mit der eigenen Vertuschungsmentalität, die unter dem Schutzmantel der Anonymität leichter fällt:

"Pflege ist eines der größten Tabus dieser Tage. Natürlich gibt es darüber keine statistischen Erkenntnisse. Das haben Tabus so an sich: Sie sind schwer messbar. Aber wer in Familien hineinhört, den Erzählungen der Söhne und Töchter lauscht, wer in den Ratgeberbüchern blättert, der versteht: Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist kein Einzelfall. Sie ist keine Ausnahme, sie ist die Regel."

Mit dem Altern gibt es zwei Probleme. Das eine, vordergründig kleine, ist mental bedingt, nämlich zeitlebens nicht davon betroffen sein zu wollen und damit den richtigen Punkt für selbst bestimmte Veränderungen zu verpassen. Darauf folgt zwangsläufig das große Problem, irgendwann zum Notfall zu werden, den die eigenen Anverwandten im Pflegesystem unterbringen müssen.

Als Journalist beherrscht der Anonymus-Autor sein Handwerk; was er aus eigener Erfahrung, aus Lektüre und Interviews zusammenträgt, hat man zwar hie und da schon gelesen, doch der mea-culpa-Tonfall schuldbewusster Anerkenntnis eigener Versäumnisse dringt tiefer in die Haut als ätzende Polemik oder nur sachliche Neutralität. Schön ist seine Botschaft naturgemäß nicht: Im Gegensatz zu Säuglingspflege, mit der sie im Aufwand verglichen werden kann, verspricht die physisch wie psychisch zermürbende Altenpflege kein strahlendes Lächeln bei den Betreuten.

Man wird im Gegenteil ständig an sein Ende erinnert und nicht an den eigenen, hoffnungsvollen Beginn. Wo dieser Motivationsfaktor fehlt, müsste die Arbeit wenigstens gut beleumundet sein, das Arbeitsklima angenehm – beides ist in unserem Pflegesystem keineswegs üblich. Denn es erlaubt privaten Betreiber, also Kapitalgebern, die Pflege renditeorientiert zu betrachten. Damit sind Zeittakt, Kostenminimierung, enge Personalschlüssel vorgezeichnet und der institutionalisierten Inhumanität freie Bahn geräumt.

Bei denen, die das Pflegeheim bezahlen, stehen trotzdem horrende Summe auf der monatlichen Rechnung. Mit diesem Geld kann man zu angemessenen Löhnen hervorragende Pflege leisten, aber man darf dann zu keinen Zins- und Renditediensten verpflichtet sein. Im fränkischen Städtchen Karlstadt steht ein solches Pflegeheim einer Stiftung, das der Autor in warmen Worten preist.

Für ihn kommt es allerdings nicht in Frage, denn der Vater lebt anderswo in Deutschland. Anonymus praktiziert nach etlichen Besuchen in der Vorhölle schließlich jenes Verfahren, das mittlerweile hunderttausenden Betroffenen als letzte Rettung erscheint: Er belässt den Vater in der alt vertrauten Umgebung und engagiert eine osteuropäische Pflegerin.

"Gäbe es die Hilfstruppen der Osteuropäerinnen nicht, das deutsche Pflegesystem würde sofort zusammenbrechen, der Kollaps wäre unvermeidlich. Auch der finanzielle: Hätten die 100.000 deutschen Haushalte nicht mehr ihre Pflegerinnen aus dem Osten, wäre die jetzt schon hochdefizitäre Pflegeversicherung von einem Moment auf den anderen bankrott."

Schwarzarbeit. Ohne die von keinen Nebenkosten belastete Arbeit, ohne zwischengeschaltete Bürokratien und renditeorientierte Veranstalter funktioniert die Hilfe – mit schlechtem Gewissen – auf Basis einer bürgerlichen Abmachung ohne Staat. Der Staat, sagt Anonymus, muss umgangen werden, weil er andere Lösungen unmöglich macht.

Denn solche osteuropäischen "Haushaltshilfen" wenigstens als Dienstboten zu legalisieren – pflegen dürften sie trotzdem nicht –, setzt einen grotesk bürokratischen, total insuffizienten Akt in Gang, an dessen Ende dennoch hohe Kosten für die Betroffenen stehen.

Wenn Recht den Verhältnissen hinterher hinkt, wird es so lange gebrochen werden, bis es sich ändert. Bücher wie das vorliegende tragen dazu bei; schlimm, mag der Jurist sagen. Zum Glück, sagt der Menschenfreund. Denn schlimm sind die Verhältnisse, nicht diejenigen, die sich dagegen zur Wehr setzen.


Anonymus: Wohin mit Vater?
Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
Anonymus: "Wohin mit Vater?"
Anonymus: "Wohin mit Vater?"© S. Fischer Verlag
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