Die vatikanische Totalitarismus-Theorie

Moderation: Anne Françoise Weber · 24.03.2012
In mehreren Enzykliken stellte sich Papst Pius XI. 1937 gegen die Nazis und den atheistischen Kommunismus. Ein Gespräch mit dem Historiker Thomas Brechenmacher über den Kampf der Kirche gegen innerweltliche Heilsversprechen und totalitäre Ideologien.
Anne Françoise Weber: Am 21. März 1937 wurde in den katholischen Kirchen Deutschlands ein Text verlesen, in dem sich Papst Pius XI. entschieden gegen den Nationalsozialismus stellte, die Enzyklika mit brennender Sorge. Darin wurde unter anderem als Wahnprophet bezeichnet, wer irgendeinen Sterblichen neben Christus zu stellen wage – eine klare Verurteilung des Führerkults.

Doch in diesem März 1937 stellte sich der Papst nicht nur gegen Hitler und die nationalsozialistische Ideologie, er veröffentlichte auch noch zwei weitere Enzykliken. Am 19. März die gegen den atheistischen Kommunismus gerichtete Enzyklika Divini redemptoris und am 28. die Enzyklika Firmissimam constantiam, die an die Kirche in Mexiko adressiert war.

Welche inhaltlichen Zusammenhänge es zwischen diesen Enzykliken gibt, das hat Thomas Brechenmacher erforscht. Er ist Professor für neuere Geschichte an der Universität Potsdam, und ich habe ihn bei unserem Gespräch vor der Sendung zunächst gefragt, wie sich denn diese Häufung von Enzykliken im März 1937 erklärt.

Thomas Brechenmacher: Ja, die Häufung der Enzykliken ist natürlich bis zu einem gewissen Grad Zufall gewesen, denn es hätte ja gut sein können, dass die eine oder andere früher oder später gekommen wäre. Aber es gibt natürlich einen inneren Zusammenhang, und dieser Zusammenhang ergibt sich aus einem längeren Prozess an der Kurie, der sich befasste mit der Frage der Stellung der Kirche zu den totalitären Ideologien.

Und in diese totalitären Ideologien fallen eben neben dem Nationalsozialismus auch der Kommunismus, und damit ist nicht nur der Sowjet-Kommunismus gemeint, sondern eben auch sind sozialistische Systeme gemeint, die kirchenfeindlich agieren, wie zum Beispiel seinerzeit in Mexiko. Also beides spielt zusammen, eine gewisse zufällige Komponente, aber auch eine gewisse innere Logik der zeitgenössischen Auseinandersetzung der Kirche mit den totalitären Ideologien.

Weber: Und wie muss man sich das vorstellen? Saß der Papst da und dachte, jetzt muss ich mal was schreiben zu Deutschland, zu Mexiko und zum Kommunismus, oder kamen da Bischöfe aus den Ländern auf ihn zu?

Brechenmacher: Ja, es gab natürlich äußere Anlässe – was Deutschland betraf, ging diese Geschichte mit der Enzyklika im Grunde aus von einer Aufforderung der deutschen Bischöfe an Papst Pius XI., die im August 1936 an ihn die Bitte stellten, er möge ein Wort zur Situation in Deutschland sprechen. Und was die Mexiko-Enzyklika betraf, hing das wiederum zusammen mit einer Bitte mexikanischer Bischöfe um Audienz bei Kardinalstaatssekretär Pacelli, der im Herbst 1936 die USA besuchte.

Und das haben diese mexikanischen Bischöfe zum Anlass genommen, dort mit einem Anliegen an ihn heranzutreten – also das waren dann eben sozusagen diese äußeren Anlässe, die dann zu beiden Enzykliken führen. Was die Dritte betrifft, Divini redemptoris, dort gab es einen unmittelbar äußeren Anlass jetzt nicht, aber dies hängt wiederum zusammen mit einem Prozess, der schon länger beim heiligen Offizium geführt wurde und der dann auch in die Aufforderung des heiligen Offiziums mündete an den Papst, eine Enzyklika auszuarbeiten.

Weber: Das heilige Offizium, kann man vielleicht erklärend sagen, ist der Vorläufer der Glaubenskongregation und die Nachfolgerin der heiligen Inquisition.

Brechenmacher: Ja, sozusagen die oberste dogmatische Behörde des heiligen Stuhls, die also immer dann in Aktion tritt, wenn es um lehramtliche und dogmatische Fragen geht.

Weber: Wenn sich nun dieses Lehramt mit Nationalsozialismus oder Faschismus und Kommunismus beschäftigt, das läuft ja hinaus auf so eine Art vatikanische Totalitarismus-Theorie, oder? Dass diese beiden Ideologien da parallel vielleicht gesetzt wurden und geschaut wurde, wie sich das Christentum und die katholische Kirche dagegen positioniert?

Brechenmacher: Ja, das könnte man wohl so sagen. Diese Parallelsetzung ist ganz deutlich, es wird nicht von heute auf morgen, aber über die Zeit hinweg beim Heiligen Stuhl immer deutlicher, dass man es hier mit Systemen zu tun hat, die im Grunde abzielen auf eine innerweltliche Heilsideologie. Das heißt, ob nun Nationalsozialismus oder Kommunismus, die Lehre eines innerweltlichen Heilszustandes predigen, die gleichzeitig untermauert wird mit einem Absolutheitsanspruch.

Und das lässt sich – ob nun in der kommunistischen oder in der nationalsozialistischen Variante – nicht mit dem Menschenbild der Kirche vereinbaren. Und deswegen befassen sich vor allem die beiden Enzykliken gegen den Kommunismus als auch gegen den Nationalsozialismus sehr stark mit Fragen des kirchlichen Menschenbildes, vor allem mit der Würde jedes einzelnen Menschen, die theologisch naturrechtlich hergeleitet wird als von Gott gegeben.

Und Menschen dürfen sich nicht anmaßen, die Würde jedes einzelnen zu bestreiten oder zu beschneiden um einer innerweltlichen Heilsutopie willen. Und das ist sozusagen der inhaltliche Kern, der dogmatische Kern, der hinter dieser Auseinandersetzung steht. Und er richtet sich auf gleiche Weise gegen den Nationalsozialismus als auch gegen den Kommunismus.

Weber: Und was kann die Kirche aber nun, abgesehen von ihrem Menschenbild, ganz praktisch dem entgegensetzen? Gibt es da irgendwelche Handlungsanleitungen für gläubige Katholiken in diesen Enzykliken?

Brechenmacher: Diese Problematik, die da dahintersteckt, wird sehr deutlich anhand dieser Mexiko-Enzyklika, weil ja gerade hier die Bitte katholischer Funktionäre, auch Kleriker, zugrunde liegt, der Papst möge mehr oder minder ihnen einräumen oder gestatten, eine Art heiligen Krieg, eine Art Guerillakrieg in Mexiko gegen das System zu führen.

Und hiergegen wendet sich der Papst ganz deutlich, er sagt, wir können als Katholiken nicht auf Gewalt mit Gewalt antworten, das ist völlig unzulässig. Aber was können wir stattdessen tun? Und die Vorstellung Pius XI. ist gewesen, dass man die Gesellschaft sozial durchdringt mit katholischem Glauben, mit katholischen Sozialvorstellungen, auch mit katholischer Organisation, und sein Schlagwort, das ist ein Schlagwort der Zeit, ist gewesen die sogenannte katholische Aktion. Also er plädiert dafür, die katholische Aktion zu stärken.

Katholische Aktion bedeutet ein Laienapostolat. Laien sind organisierte, nicht politische, aber soziale Gruppierungen, die ihrerseits wiederum erfüllt sind von der katholischen Lehre, und so wird in diesem System katholischer Laienorganisationen – das ist die Vorstellung des Heiligen Stuhls gewesen – die Gesellschaft von innen heraus katholisch durchdrungen. Und eine ganz wichtige Rolle spielt dabei natürlich die katholische Schulausbildung, vor allem die elementare Grundschulausbildung, aus der heraus dann der katholische Sinn des Einzelnen wächst.

Weber: Das heißt aber auch, dass die Leute wirklich dazu aufgerufen wurden, sich innerhalb der katholischen Kirche zu engagieren, und jetzt nicht darüber hinaus für Menschenrechte oder für Freiheit sich in anderen Organisationen einzusetzen – das ist sogar ganz klar benannt, soweit ich weiß, in dieser Mexiko-Enzyklika.

Brechenmacher: Ja, das muss man so sehen, das ist sicherlich ein Denken, das dem heutigen Denken auch der Kirche wohl nicht mehr so entspricht. Da hat die Kirche auch einen Lernprozess durchgemacht, gerade durch die historischen Erfahrungen dieser Zeit, auch des Zweiten Weltkrieges. Für die Zeit der 30er-Jahre ist noch sehr deutlich zu sehen eben diese Konzentration auf die eigene Sphäre.

Also das Entscheidende war, das eigene System zu festigen, die eigenen Reihen zu schließen, um die Kirche durch die Zeit zu bringen. Das Bewusstsein der Carita universale gab es natürlich zu dieser Zeit auch schon, ist aber gerade durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges noch mal in einen ganz anderen Zusammenhang gerückt worden, und das Bewusstsein der Kirche auch eben, für Nichtkatholiken sich einsetzen zu müssen, hat in dieser Zeit auch aufgrund schmerzlicher Erfahrungen zugenommen.

Weber: Sie sagten, in der Mexiko-Enzyklika sei ganz klar benannt, wir können hier Gewalt nicht mit Gewalt vergelten und natürlich kein heiliger Krieg. Dennoch muss man ja sagen, die katholische Kirche hat in den Jahrzehnten danach durchaus auch sehr gewaltsame Diktaturen in Lateinamerika zumindest mitgetragen und auch Gewalt mitgetragen. Ist diese Enzyklika in Vergessenheit geraten, oder ist das eine ganz andere Dimension?

Brechenmacher: Ja, in Vergessenheit geraten ist sie wohl nicht, und es ist auch keine andere Dimension. Die Dilemmatik, die hier bezeichnet ist, kann man ja sehr deutlich sehen an dieser Frage oder dieser Haltung der Kirche zum Franco-Regime. Es ist zwar nicht Lateinamerika, aber dieses spanische Thema ist ja auch sehr stark. Hier war der Pendelschwung gegen die radikal laizistische Republik gewesen, und Franco ist eben auch angetreten unter der Maßgabe, er wird die katholische Kirche wieder in ihre alten Rechte zurückführen.

Und es war auch eine Erfahrung zu sehen, dass Franco das zwar bis zu einem gewissen Maße gemacht hat, aber eben doch auf der anderen Seite dann eine Vielzahl von Verbrechen ausgeübt hat. Die Unterstützung der Kirche war nicht so unbedingt gegeben, wie es den Anschein hatte. Also hier gab es mit dem Franco-Regime auch erhebliche Auseinandersetzungen, und Ähnliches galt übrigens auch für die lateinamerikanischen Staaten der Nachkriegszeit. Dort haben wir ja dann so eine Art Aufspaltung der Kirche, weil ja gerade unter diesen Militärdiktaturen auch eine andere Bewegung von der Basis her gewachsen ist, die sozusagen untermauert war von der sogenannten Befreiungstheologie.

Weber: Genau diese Befreiungstheologie wird ja aber von Rom bis heute abgelehnt. Ist das auch eine Nachwirkung der Enzyklika Divini redemptoris, dass man sich einfach damals gegen den Kommunismus positioniert hat und jetzt selbst Elemente des Kommunismus, die einfach eine sozialistische Gesellschaftsordnung bedeuten, und wenn die von kirchlicher Seite, befreiungstheologischer Seite aufgegriffen werden, dass die weiterhin abgelehnt werden?

Brechenmacher: Völlig klar, die kirchliche Soziallehre ist eine Lehre, die sich mit sozialistischen Vorstellungen nur sehr bedingt in Einklang bringen lässt. Und hier, in dieser Wende gegen die Befreiungstheologie war natürlich noch diese Angst vor dem Kommunismus mit versteckt. Dieses Verdikt gegen den Kommunismus war extrem stark, und überall dort, wo Politiker angetreten sind mit kommunistischen, sozialistischen Utopien, hat sich im Grunde die Kirche dagegen ausgesprochen. Und hier im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie gab es natürlich eine ganz starke Kollision dieser Vorstellungen.

Weber: Es war ja eigentlich auch noch eine Enzyklika gegen Rassismus geplant von Pius XI. Die kam aber nie zustande. Kennt man da die Gründe dafür?

Brechenmacher: Wir können nur spekulieren, denn wir haben dazu zurzeit noch keinen Quellenzugang, die Archive für die Zeit ab 1939 sind ja noch gesperrt. Wir wissen soviel, dass Pius XI. geplant hat, eben auch eine Enzyklika gegen den Rassismus auszuarbeiten, und da sind auch Entwürfe gemacht worden von drei Jesuitenpatres, diese Entwürfe sind uns bekannt, und wir wissen weiterhin, dass Pius XII. dieses Projekt nicht mehr weiterverfolgt hat.

Jetzt ist die Frage, was steckt da dahinter und was könnten die Gründe gewesen sein? Meine Position oder meine Hypothese zu dieser Frage ist gewesen, dass in diesen Entwürfen der drei Jesuitenpatres gegenüber dem Judentum eine theologische Position entwickelt worden ist, die die alte theologische Position der Kirche, die ja von stark antijudaistischen Verdikten geprägt war, weitertransportiert hat. Also im Grunde war in diesen Entwürfen zu lesen ein Zwiespalt: Man lehnt den rassistischen Antisemitismus ab, man rückt aber auch nicht ab von dem theologisch begründeten Antijudaismus.

Und ich glaube, dass Pius XII., also Pacelli, im Grunde gesehen hat, dass diese Theologie nicht mehr tragfähig ist, und er hat gemerkt, wenn er so was als Wort des Papstes veröffentlicht, wird er sofort die Zustimmung von Joseph Goebbels bekommen, des deutschen Propagandaapparates, sodass er davon abgesehen hat, weil es war nämlich keine neue Theologie vorhanden. Also das ist eine komplizierte Geschichte, und es würde lange dauern, das auseinanderzusetzen. Es war keine neue Theologie vorhanden, und in dieser Kriegssituation, in der Zeit 1939 folgende, konnte auch die neue Theologie nicht ausgearbeitet werden. Und insofern glaube ich, dass Pacelli von diesem Vorhaben einer Rassismus-Enzyklika aus diesen Gründen abgerückt ist.

Weber: Und wenn wir jetzt noch kurz in die Gegenwart blicken, Papst Benedikt XVI. ist seit Freitag in Mexiko, das wird ja heute auch von einem wirklich blutigen Krieg zwischen Drogenmafia und Militär erschüttert. Wäre es denkbar, dass er nach seiner Reise auch so eine Enzyklika formuliert, in der er der dortigen Kirche eine Handlungsrichtung vorgibt?

Es gibt ja durchaus auch Kritik an der Position der Kirche dort. Es wird gesagt, sie würde sich nicht genug distanzieren von Menschenrechtsverletzungen, eben auch durch die Polizei, oder sie würde sogar Gelder der Drogenmafia akzeptieren – das wären vielleicht schon Gründe auch für ein Papstwort zu Mexiko.

Brechenmacher: Denkbar ist es sicher, aber ich kann in das Herz und in das Haupt des Papstes nicht hineinsehen, und ich denke, er wird dazu die richtige Entscheidung treffen. Man muss ja auch dazu sagen, dass die Form der Enzyklika nicht die einzige Art und Weise ist, wie sich ein Papst äußern kann, und dass es also eher im Bezug auf konkrete politische Fragen eine ungewöhnlichere Form ist. Also es gibt auch andere Möglichkeiten, sich zu äußern, und ich denke, wir können nur abwarten, was letztendlich geschehen wird. Auf die eine oder andere Weise wird er sich mit Sicherheit äußern.

Weber: Vielen Dank, Thomas Brechenmacher, Professor für neuere Geschichte an der Universität Potsdam!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Mehr zum Thema bei dradio.de:
Mehr zum Thema