Die Unvernunft ist eine Göttin

Rezensiert von Susanne Mack · 05.07.2006
Der niederländische Philosoph und Theologe Erasmus von Rotterdam war einer der größten Gelehrten der Renaissance. Er stritt für ein neues Bildungsideal und kritisierte die Zustände in der römisch-katholischen Kirche. 1509 veröffentlichte er das schmale Bändchen "Lob der Narrheit" und nannte es "das Kind einer launigen Muse", das später zur "Weltliteratur" geadelt wurde.
" Ein Gelehrter schreibt ein Loblied auf die Narrheit . Wie dürfen wir das verstehen? "

Zunächst als ein Echo. Als eine Antwort auf das Buch seines Freundes Thomas Morus, dem späteren Lordkanzler von England. Thomas Morus hatte nämlich ein Büchlein "Lob der Weisheit" geschrieben, und nun wollte sein holländischer Freund Erasmus ein bisschen sticheln und hat ein "Lob der Narrheit" dagegengesetzt.

" Ist das Ironie? "

Ja und nein. Für Erasmus gibt es nämlich zwei Arten von Narrheit: Es gibt erstens eine Art Narrheit, eine Art Unvernunft, die Erasmus begrüßt, ja sogar bewundert. Er nennt sie die "himmlische, die göttliche Narrheit " und singt ihr tatsächlich ein Loblied – und dann gibt es zweitens eine Narrheit von einer ganz anderen Art: die "höllische Narrheit": eine himmelschreiende Unvernunft unter den Menschen, die Erasmus verabscheut – und das Loblied, welches er hier anstimmt, da liegen Sie richtig, dieses Loblied steckt voller Ironie.

" Wie ist das Buch konstruiert? Zwei Teile vermutlich? "

Nein, das ist ein einziger, fortlaufender Text – und dieser Text ist schlau gemacht. Die Narrheit hält eine Lobrede auf sich selbst. Erasmus hat sie nämlich personifiziert und natürlich ist die Narrheit eine Frau, genauer gesagt: eine Göttin. Diese göttliche Unvernunft steht also vor dem Spiegel, prostet sich zu. Und hält einen Monolog. Motto : Wie langweilig wäre die Welt ohne mich …


" Was erfahren wir da? Wieso ist die Welt langweilig ohne die "Göttin Unvernunft"? "

Die Unvernunft ist eine selbstbewusste Göttin, sie sagt: "Ich bin das Leben selbst!" Und alle Menschen, die Respekt oder gar Bewunderung verdienen, sind meine Kinder: alle Künstler, alle Liebenden, alle besessenen Forscher, blutvollen Politiker, mutigen Entdecker, Reformatoren: das alles sind keine staubtrockenen Gelehrten, keine Wissens-Wiederkäuer und Akten-Entstauber. Und vor allem keine Typen, die mit ängstlichem Verstand Kosten und Nutzen gegeneinander aufrechnen.

Meine geliebten Kinder, sagt die Göttin namens Narrheit: das sind die Träumer, voller Sehnsucht und Leidenschaft. Und sie tun Dinge, von denen die so genannten vernünftigen Menschen sagen: "Der ist ein Narr, der ist vollkommen verrückt, der bringt sich um Kopf und Kragen!" – Und da hat der vernünftige Mensch vollkommen recht, sagt Erasmus: Christus war verrückt, Paulus war verrückt, Columbus war auch verrückt – und hoffentlich bin ich es auch.

Also, das hier ist eigentlich eine Schmähschrift gegen den Durchschnitts -Intellektuellen: auch gegen den Durchschnitts-Universitäts-Professor, wie Erasmus ihn beschreibt: blutleer, feige und humorlos. Der sich, anstatt zu leben, aufs Grübeln verlegt und anderer Leute Bücher wiederkäut. Solche Leute kennt Erasmus anscheinend zur Genüge, und er kann sie nicht leiden. Er schwärmt lieber für die kreativen Verrückten, für ihre "himmlische Narrheit".

" Und was ist mit dem zweiten Teil der Rede? Mit der "höllischen Narrheit" – gegen wen geht’s da? "

Zuerst gegen den Aberglauben, der sich in der Kirche breit gemacht hat. "Unser christlicher Glauben ist verkommen zur Götzenanbetung", schreibt Erasmus. Statt Christus zu verehren, fällt man auf die Knie vor den Bildern ungezählter Heiliger: einer soll gegen Zahnweh helfen, ein anderer gegen eine böse Schwiegermutter, ein dritter soll eine kalte Geliebte erwärmen. – Da regt sich Erasmus mächtig auf. Auch über die Anbetung einer "Heiligen Mutter Gottes", die ihren Sohn angeblich als Jungfrau zur Welt gebracht hat. – Ein solches Dogma erscheint dem Erasmus vollkommen "närrisch". Genauso wie der Ablasshandel.

" Das war eine revolutionäre Schrift , damals um 1500 … "

Ja, unbedingt, und es war gefährlich, so zu reden. Da konnte man schnell auf dem Scheiterhaufen landen. Erasmus kritisiert gar vieles, was Martin Luther später auch aufs Korn genommen hat, er war ja anfangs auch pro Luther, hat sich aber dann mit ihm zerstritten. Er wollte keine Kirchenspaltung und vor allem keinen Glaubenskrieg, den hat er vorausgesehen.

" Wer soll das Buch lesen? "

Das ist was für Leute mit Interesse an Geistesgeschichte. Für Leser, die schon immer mal wissen wollten, wie ein Renaissance-Mensch den Typus "Rennaissance – Mensch" beschreibt. Und außerdem für Leute, denen es nicht egal ist, welche Ausgabe eines Textes sie lesen. Das hier ist nämlich ein besonderes Buch.

" Wie sieht das Buch aus? "

Vornehm. Es steckt in einem Schmuckschuber und ist in feinem Regent-Leinen gebunden. Vorn ist eine Tuschzeichnung drauf: Erasmus beim Schreiben. Von Gabrielle Mucchi , einem italienischen Künstler. Das Buch lebt auch von seinen Zeichnungen: köstlich, spöttisch, lebensnah – die haben Klasse. Für Freunde mit Interesse an Geistesgeschichte und einem Sinn für schöne Bücher ist das hier sicher ein willkommenes Geschenk.

Erasmus von Rotterdam
Lob der Narrheit. Mit Zeichnungen von Gabriele Mucchi

Faber & Faber. Leipzig 2005
Leinenband im Schmuckschuber
224 Seiten,
EUR 35,–