Die Unterwelt von Gerhard Roth

31.05.2011
Nach 32 Jahren, 15 Büchern und knapp 6000 Seiten steigt der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth abschließend in die Unterwelt hinab: "Orkus. Reise zu den Toten" nennt er die Conclusio seiner beiden großen Romanzyklen.
Die "Neugierde auf das Unglück" habe ihn von Beginn an geleitet, heißt im ersten Kapitel, in dem der Ich-Erzähler nüchtern die eigene Befindlichkeit in den Blick nimmt und Vincent van Gogh als erste Identifikationsfigur beschreibt. In einem virtuosen Hin und Her zwischen Versatzstücken seiner Biografie und dem Personal seiner Romane entwirft Gerhard Roth in "Orkus" die Geschichte seines Lebens. Hatte der 1942 in Graz geborene Schriftsteller in dem Band "Das Alphabet der Zeit" (2007), angeregt von Fellinis Film "Amarcord", seine Kindheits- und Jugenderinnerungen wie in einer klassischen Autobiografie nachgezeichnet und sich stärker auf die emotionale Entwicklung bezogen, geht es hier um einen Abriss des intellektuellen Werdegangs – individueller Gedächtnisraum und geistige Entwicklung stehen im Mittelpunkt.

Gegenstand der Recherche sind Geschwister, Eltern und Kindheitsfreunde, frühe Lektüren, prägende Begegnungen. Von Anfang an übten Gerichtsakten und Krankengeschichten eine große Faszination auf Roth aus. Auf Wunsch des Vaters, der Arzt war, studierte er Medizin ein, sezierte tagsüber Leichen und arbeitete nachts heimlich an literarischen Texten. Die Literatur bot eine Gegenwelt zur Enge der Kleinstadt, wo strikter Katholizismus herrschte und untergründig das Erbe des Nationalsozialismus gärte. "Orkus" mündet in eine Vision von Roths Alter ego Sonnenberg, einem imaginären Schulfreund und Untersuchungsrichter.

"Orkus" ist also ein Buch darüber, wie der Ich-Erzähler zum Schriftsteller wurde, und deshalb ist nichts nahe liegender, als erfundene Figuren wie reale Weggefährten einzuführen. In der fiktionalen Überhöhung tatsächlicher Begebenheiten liegt der Reiz dieses facettenreichen Schlusssteins: Roths Beziehungen zu den Helden seiner früheren Romane wie Sonnenberg, Viktor Gartner oder Jenner sind ebenso prägend wie tatsächlich statt gefundene Begegnungen mit dem ruhelosen Aufklärer nationalsozialistischer Verbrechen Simon Wiesenthal, dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky oder dem Schriftsteller Elias Canetti. In "Orkus" ist Roth am Anfang seiner literarischen Laufbahn angekommen: in den inneren Bezirken seines Kopfes, in der Unterwelt seines Bewusstseins, das er mit anatomischer Präzision zu sezieren versucht. Das Gravitationszentrum des Buches – und des Gesamtwerks von Gerhard Roth – ist das Vermächtnis des Nationalsozialismus. Gerade das spezifisch österreichische Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit treibt ihn um. Auch seine eigene Familie, in der wie in der Umgebung Verdrängung und erstickendes Schweigen herrschten, ist Gegenstand der Betrachtungen. Der Widerspruch, dass der Vater liebevoll und fürsorglich war, gleichzeitig aber ein Parteibuch besaß, ist nicht aufzulösen. Linderung bringt nur das Erzählen.

Besprochen von Maike Albath

Gerhard Roth: "Orkus", Reise zu den Toten, Roman
Hanser Verlag, München 2011
173 Seiten, 17,90 Euro