"Die tragischste Entscheidung"

Moderation: Liane von Billerbeck · 17.10.2007
Das Bundesverfassungsgericht hatte es vor 30 Jahren abgelehnt, inhaftierte RAF-Gefangene gegen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer auszutauschen, der sich in der Gewalt der RAF befand. Auch wenn das Gericht nicht den Weg gegangen sei, das Leben von Schleyer zu retten, sei die Entscheidung kein Todesurteil gewesen, sagte Jutta Limbach, ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts.
Liane von Billerbeck: In München am Telefon ist jetzt die Juristin Jutta Limbach. Sie leitet heute das größte deutsche Kulturinstitut, das Goethe-Institut, und war von 1994 bis 2002 selber Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes. Guten Tag, Frau Limbach!

Jutta Limbach: Guten Tag, Frau von Billerbeck!

Von Billerbeck: Wie haben Sie diesen Tag vor 30 Jahren in Erinnerung?

Limbach: Ähnlich, wie es hier geschildert worden ist. Bedrückend, und man war natürlich selbst Jurist, gespannt, wie das Gericht in diesem Falle entscheiden würde. Wie es also hier das individuelle Leben, um das es ging, abwägen würde im Verhältnis zur Gesamtheit der Sicherheit der Bürger. Aber ich muss sagen, dass ich schon damals angenommen habe, dass das Gericht so entscheiden würde, wie es das auch getan hat. Denn wir Bürger der Bundesrepublik und Bürgerinnen haben ja damals in dieser Frage schon hin- und herdiskutiert, als die Verantwortung allein bei der Bundesregierung und den anderen politischen Organen lag. Und waren der Meinung, jedenfalls offensichtlich die Mehrheit, dass die Regierung in sich in richtiger Weise entschieden hat, hier der Erpressung der Geiselnehmer nicht nachzugeben.

Von Billerbeck: Der Antrag des Sohnes von Hanns Martin Schleyer, also Hanns-Eberhard Schleyer, der berief sich auf ein anderes Karlsruher Urteil, nämlich das Abtreibungsurteil von 1975. Worum ging es da und wo liegen die Parallelen?

Limbach: Die Parallelen sind da eigentlich ganz gering. Nur hat damals das Gericht bei dieser Entscheidung die Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben aus dem Grundgesetz entwickelt. Und auf diese Schutzpflicht, die damals sozusagen für das werdende Leben entwickelt worden war, hat sich Hanns-Eberhard Schleyer berufen. Und hat gesagt, bleibt euch jetzt treu. Der Staat hat eine Schutzpflicht. Er muss die Inhaftierten herausgeben, freilassen, um das Leben meines Vaters zu retten. Und das Gericht hat deutlich gemacht, es geht hier nicht nur um die Schutzpflicht gegenüber dem Einzelnen, gegenüber dem Hanns Martin Schleyer. Sondern es geht auch um die Schutzpflicht gegenüber der Gesamtheit der Bürger.

Von Billerbeck: Zwei Jahre zuvor, also auch 1975, da war das Bundesverfassungsgericht und damit der deutsche Staat auf die Forderung von Entführern eingegangen. Als nämlich entschieden wurde, fünf inhaftierte Terroristen gegen den CDU-Politiker Peter Lorenz auszutauschen. Warum ist damals anders entschieden worden?

Limbach: Ja, jedenfalls hat man darüber sehr nachgedacht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass, wenn man diesen Erpressungen der Entführer nachgibt, man im Grunde genommen die Gewaltspirale einfach nur fortschreibt. Denn es hat sich ja gerade an diesem Fall gezeigt, dass die Freigelassenen noch die Politik erpressenden Terroristen nach der Freilassung in den Ruhestand gehen, sondern sich zu Camps begeben, wo sie sich erholen und weiter in terroristischen Anschlägen üben. Das Gericht hat bei der Schleyer-Entscheidung treffend eine Folgenabwägung angestellt. Hat gesagt, was bedeutet es, wenn wir hier der Bitte, dem Antrag des Sohnes stattgeben, der ihn ja stellvertretend für den Vater gestellt hat. Da hat das Gericht sehr deutlich gesagt, die Politik darf nicht von vornherein auf ein bestimmtes Mittel festgelegt werden. Denn wenn die Reaktionen des Staates von den Terroristen von vornherein kalkulierbar sind, dann ist im Grunde genommen der Staat nicht mehr in der Lage, seiner Aufgabe nachzukommen, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren.

Von Billerbeck: Die Todesstrafe ist ja in Deutschland abgeschafft. Aber man hat damals in Karlsruhe quasi ein Todesurteil über Hanns Martin Schleyer gefällt.

Limbach: Dieser Wortgebrauch gefällt mir überhaupt nicht. Das haben sowohl Sie als auch Herr Detjen gesagt. Beide sagen Sie allerdings, es kommt quasi auf ein Todesurteil.

Von Billerbeck: Quasi. Ja.

Limbach: Nicht das Bundesverfassungsgericht, nicht die Bundesregierung, nicht die Politik hat Hanns Martin Schleyer durch einen Genickschuss zu Tode gebracht. Sondern das waren die vier anderen, die ihn bewacht und (…) umgebracht haben, die Terroristen der zweiten Generation.

Von Billerbeck: Trotzdem war es natürlich eine sehr schwierige Entscheidung. Sonst hätten sich die Richter damit auch nicht so gequält mit diesem Urteil?

Limbach: Ja. Aber dass eine Entscheidung schwierig und tragisch ist, und dass das Bundesverfassungsgericht wie auch die Bundesregierung nicht diesen Weg gegangen ist, das Leben von Schleyer zu retten, macht ihre Entscheidung noch nicht zu einem Todesurteil. Wenn auch die Folge, und das haben die Richter durchaus auch abgewogen und in Rechnung gestellt, die war, dass die Terroristen Schleyer umgebracht haben.

Von Billerbeck: Wie tief sitzt denn dieses Trauma in Karlsruhe? Ist das ein Trauma unter Bundesverfassungsrichtern? Und haben Sie in der Zeit, als Sie selber dort Präsidentin waren, ab und zu an dieses Urteil denken müssen?

Limbach: Wir haben vor allem, als wir die 50-Jahr-Feier begangen haben, daran gedacht. Da hatten wir eine Ausstellung konzipiert, die so die großen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes demonstrierte, illustrierte. Und da haben wir aber auch diese im Grunde tragischste Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht getroffen hat, nicht vergessen. Der damalige Präsident und Vorsitzende des Senats war ja unter uns und hat uns auch in dieser Zeit, wo ein allgemeines Rückdenken auch im Gange war, immer wieder die Situation geschildert, wie eben der Richter Simon, in der sie sich damals befunden haben. Und wie die Ausweglosigkeit, in der sie sich eigentlich befunden haben, auf sie gewirkt hat. Aber das hat einmal gezeigt, dass dieses großes Ordnungsgefüge von Verfassungsorganen in einer schwierigen Situation dann auch zu einer gemeinsamen Entscheidung führt. Und ich denke, das hat sehr viel, so traurig und tragisch dieser Akt war, das hat sehr viel zur Stabilität der Bundesregierung und zum Vertrauen der Bürger beigetragen.

Von Billerbeck: Auch heute gibt es Geiselnahmen, Afghanistan, Irak. Wäre eine solche Unnachgiebigkeit, wie die von 1977, bei politischen Forderungen, sage ich mal, auch heute richtig? Und würde die heute genauso getroffen werden diese Entscheidung?

Limbach: Ich denke, im Prinzipiellen würde ich ja auch gar nicht von einer Unnachgiebigkeit sprechen. Es sei denn gegenüber den Entführern und Terroristen.

Von Billerbeck: Der einzelnen Person?

Limbach: Da haben Sie völlig recht. Aber wenn ich von der abstrakten Situation ausgehe, würde ich Ihre Frage bejahen. Denn dieses Urteil ist auch weitgehend positiv aufgenommen. Sowohl von der Bürgerschaft als auch von den anderen politischen Organen. Aber das Gericht hat auch sehr deutlich gesagt, und das muss man immer auch im Hinterkopf haben, dass es jeweils auch auf die besonderen Umstände des Einzelfalles ankommt. Und die hat eine Bundesregierung, die haben die anderen Verfassungsorgane, wie das Gericht auch, immer in Rechnung zu stellen.

Von Billerbeck: Vor 30 Jahren lehnte das Bundesverfassungsgericht ab, den Entführern Hanns Martin Schleyers nachzugeben und sein Leben dadurch zu retten. Darüber sprachen wir mit Jutta Limbach, der ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Ich danke Ihnen!

Limbach: Auf Wiedersehen!