Die "Taube" warf die Bombe ab

Von Armin M. Brandt · 01.11.2011
Im italienisch-türkische Krieg wurde erstmals eine Bombe aus einem Flugzeug abgeworfen. Das Königreich Italien und das Osmanischen Reich führten um die Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer Krieg. Das nationalistische Italien propagierte die Idee, durch koloniale Expansion die sozialen Probleme zu lösen.
Das Königreich Italien war 1911 noch ein junges Land, gerade fünfzig Jahre alt. Die Nationalisten wollten die massenhafte Auswanderung nach Amerika stoppen und suchten deshalb zur Lösung der sozialen Probleme nach Kolonien. Die Wahl fiel auf Libyen mit seinem fruchtbaren Küstenstreifen.

Nach der Kriegserklärung an das Osmanische Reich landeten im September bis zu 150.000 Italiener in Tripolitanien und in der Cyrenaika mit der Hauptstadt Bengasi. Überraschenderweise leisteten nicht nur die 8.000 türkischen Soldaten, sondern auch 20.000 Beduinen erbittert Widerstand. Sieger der Schlacht um Tobruk war ein Hauptmann namens Mustafa Kemal, später Atatürk genannt.

Das erste italienische Fliegerkorps bestand aus elf Piloten, 30 Helfern und neun Flugzeugen. Aus Neapel schrieb der 39-jährige Leutnant Gavotti einen Brief an seinen Vater in Genua:

Heute sind zwei Kisten voller Handgranaten eingetroffen, die wir aus unseren Flugzeugen werfen sollen, obwohl wir keinerlei Anweisungen erhalten haben. Wir nehmen sie mit größter Vorsicht an Bord. Wie werden die Türken wohl darauf reagieren?

Die ebenfalls in Kisten verstauten Flugzeuge trafen per Schiff am 15. Oktober 1911 in Tripolis ein. Leutnant Gavotti übernahm eine "Taube", die der österreichische Flugpionier Ignatz Etrich entwickelt hatte.

1. November 1911: In den frühen Morgenstunden klart das Wetter auf und ich kann das Flugzeug startklar machen. Sorgfältig lege ich drei runde Handgranaten, jeweils eineinhalb Kilo schwer, in eine kleine gefütterte Ledertasche. Eine weitere 'Cipelli'-Granate stecke ich in die vordere Jackentasche.

Angriffsziel war Ain Zara bei Tripolis. Dort sollten sich arabische Kämpfer und türkische Soldaten aufhalten.

Nach einer Weile sehe ich die dunklen Umrisse der Tagiura Oase. Mit einer Hand halte ich das Lenkrad, mit der anderen greife ich nach einer Granate und lege sie auf meinen Schoß. Ich bin bereit. Das Ziel ist noch rund einen Kilometer entfernt. Ich kann die arabischen Zelte gut erkennen.

Die "Taube", die Gavotti flog, war ein Eindecker. Der Rumpf bestand aus Holz, das Leitwerk und die Tragfläche aus Bambus und der Überzug aus Baumwollstoff. Die Spannweite betrug 14,35 Meter, ein 6-Zylinder wassergekühlter Reihenmotor brachte 100 PS.

Ich nehme die Granate mit meiner rechten Hand, ziehe den Sicherheitsring mit den Zähnen heraus und werfe die erste 'Cipelli' aus dem Flugzeug. Ich sehe das Geschoss einige Sekunden durch die Luft fallen, ehe es verschwindet. Nach einer Weile steigt eine kleine dunkle Wolke aus der Mitte des Lagers auf. Ich habe das Ziel getroffen!

Wegen ihrer Tragflächenform flog die "Taube" äußerst stabil. In über 400 Metern Höhe war sie nur schwer vom Boden auszumachen. Man nannte die Etrich-"Taube" auch "das unsichtbare Flugzeug".

Ich werfe weitere zwei Granaten ab, die die Tagiura Oase verfehlen. Ich habe noch immer einen Sprengsatz übrig. Ich beschließe, auf dem Rückflug die letzte Granate über dem Militärlager Ain Zara abzuwerfen. Nach der Landung in Tripolis erstatte ich direkt unserem Oberbefehlshaber, General Carlo Caneva, Bericht. Alle sind zufrieden.

Im italienisch-türkischen Krieg 1911/1912 um die Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer konnten die italienischen Piloten noch mit einem Dutzend weiterer fliegerischer Neuheiten aufwarten; Leutnant Gavotti selbst absolvierte beispielsweise am 4. März 1912 den ersten Nachtflug der Geschichte. Zum ersten Luftkampf kam es nur deshalb nicht, weil das Osmanische Reich nicht über Flugzeuge verfügte.

Nach dem ersten Nachtflug teilte mir General Caneva mit, dass die Türken gegen den kriegerischen Einsatz von Flugzeugen protestiert hatten. Schließlich verbot die Haager Konvention von 1899 den Abwurf von Granaten aus Luftschiffen.
Mit seiner kleinen Bombe richtete Leutnant Gavotti nur wenig Schaden an bei seinem Überfall auf eine einsame Oase in der staubigen libyschen Wüste. Tote oder Verletzte waren gottlob nicht zu beklagen. Er hatte jedoch zum ersten Mal den Beweis erbracht, dass Luftschläge von einem Flugzeug aus durchgeführt werden können.

Der italienische Pilot, der im Oktober 1939 in Rom starb, hatte sich niemals vorstellen können, dass Fliegerbomben ganze Städte in Schutt und Asche legen werden. Namen wie Guernica, Coventry, Dresden und Hiroshima sind schreckliche Beispiele dafür.