Die Suche nach der neuen Chance

22.06.2007
Der Roman erzählt von vielen Lebensentwürfe - ineinander verschachtelt, verrätselt, verwoben. Die Hauptfigur in Walter Kappachers Werk "Der lange Brief" ist einer, der viele Leben lebt oder sie sich erfindet. Und wer die Aufzeichnungen liest, wird angesteckt vom Aufbegehren des so aufrechten wie ziellosen Fantasten gegen die bestehende Welt.
Zwei Männer, drei Geschichten oder vielleicht sind es auch mehr. Mehr Männer und mehr Geschichten. Viele Lebensentwürfe jedenfalls - ineinander verschachtelt, verrätselt, verwoben. Als sollte der Ausruf widerlegt werden, der auf Seite176 steht: "Dass wir nur ein einziges Leben leben können, einen einzigen Weg gehen, alle die unendlich vielen anderen Möglichkeiten, Verzweigungen hinter uns lassen müssen!"

Hier lebt einer viele Leben oder erfindet sie sich -und wer die Aufzeichnungen liest, wird angesteckt vom Aufbegehren des so aufrechten wie ziellosen Fantasten gegen die bestehende Welt.

Der Ich-Erzähler – vielleicht sind es auch zwei - ist Angestellter in der Salzburger Pensionsversicherungsanstalt. Der Gedanke, dort hängen zu bleiben, bedrückt ihn. In seiner freien Zeit liest er Stellenanzeigen.

Bis er von S. hört. Der vor ihm auf seinem Platz saß. Einer, der Heimito von Doderer las und eines Tages verschwand. Keiner weiß, wo er geblieben ist. Auch seine Freundin Eva vermutlich nicht, die Sekretärin in der Direktionsetage ist und an die sich Rofner heranpirscht, weil er mehr erfahren will über S. Dieser S. wird seine Obsession. Er muss wissen, wie der es anstellte auszubrechen. "Hoffte ich, bei S. das wahre Leben zu finden?"

Bei Eva findet er Aufzeichnungen, die von S. sind. Allerdings heißt S. darin Simon und ist Amerikaner, seine Freundin heißt Eve, und von der Pensionsversicherungsanstalt ist nirgends die Rede. Dafür von einem Krieg in Detroit. Einem Aufstand der Menschen gegen die Lebens-Beherrschung und Welt-Zerstörung durchs Auto, von denen sie so viele anzünden und verbrennen bis kein Alltag mehr funktioniert.

Der Aufstand misslingt. Und Simon flieht nach Australien, wo er seine Freundin wie nebenbei aus den Augen verliert und selber als elendes Bündel aufgelesen wird von einer alten Doctora, die tief im australischen Busch lebt - in Nachbarschaft zu den Aborigines - mit ihren Gesängen, Felszeichnungen und ihrem durch die moderne Welt gefährdeten Ur-Wissen.

Man sollte vielleicht, wenn man dieses Buch beginnt, nicht den letzten Roman von Kappacher noch im Kopf haben – "Selina", diesen wunderbar ereignislosen Roman, in dem ganz beiläufig vom Sinn des Seins erzählt wird, von Ameisenstraßen, Nachbarn, dem Sternenhimmel und frischem Ziegenkäse.

In diesem neuen Buch (das eigentlich ein altes ist) wird gekämpft, geschossen und überlebt. Es ist –selbst im australischen Busch- eher ein Buch der Unruhe als der Ruhe. Aber auch hier geht es um die Suche nach einem anderen Leben, nach einer anderen Chance. Es geht um die Kluft zwischen jenen, denen es gefällt in der Welt wie sie ist und den anderen, die in ihr verzweifeln.

Walter Kappacher hat den Roman schon vor 25 Jahren geschrieben. Doch das andere Leben ist noch immer ein fernes Utopia, und noch immer bedroht uns der so genannte Fortschritt der Welt.

Es ist ein seltsam lockendes Buch, das irritiert und berührt und rätselhaft bannt, das fern jeglicher literarischer Gefälligkeit eine Art Seelenwanderung ganz bodenständig bildhaft beschreibt - vom Alptraum zum Trugbild, vom Chaos in die Ödnis und womöglich wieder zurück; Ankunft unerwünscht.

Schließlich geht es um Sehnsucht. Es gibt keine Antworten. Nirgends im Buch droht eine heilsbringende Botschaft. Kappacher ist ein wundersam eigenwilliger Schriftsteller, "ein ganz Seltener", wie Peter Handke ihn einmal nannte, den es wahrlich zu entdecken lohnt.

Rezensiert von Gabriele v. Arnim

Walter Kappacher: Der lange Brief
Deuticke Verlag, Wien 2007, 191 Seiten, 17,90 Euro