Die SPD in der Krise

Fundamental orientierungslos

Der SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz verlässt am 21.01.2018 beim SPD-Sonderparteitag in Bonn (Nordrhein-Westfalen) das Podium.
Martin Schulz verlässt die politische Bühne. Die SPD verliert weiter in der Wählergunst. © Oliver Berg / dpa
Von Stephan Hebel · 17.02.2018
Mit Ach und Krach hat die SPD die Nachfolge von Martin Schulz organisiert. Aber weiß die Partei überhaupt, wohin sie schreiten will? Eher nicht, meint Stephan Hebel. In einer Gesellschaft von Individualisten habe die SPD ihre Rolle noch nicht gefunden.
Wenn es Parteien schlecht geht, melden sich die älteren Herren zu Wort. Und vollkommen überraschend empfehlen sie dann das, was sie schon immer empfehlen. Das gilt in der CDU, wo Roland Koch, Volker Rühe und Friedrich Merz die Wiedergeburt des wahren Konservatismus aus der Asche des Merkelismus herbeizureden versuchen.
Und es gilt in der SPD: Gerade hat Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi seinen Genossen empfohlen, sich mit derselben Politik aus der Krise zu befreien, mit der sie in die Krise marschiert sind. Stichwort: große Koalition.
Das Dumme ist nur: Die Welt hat sich verändert. Aber weder die politisch Handelnden noch deren Ratgeber aus der Vergangenheit scheinen zu verstehen, wie weit ihre eingeübten Routinen und Reflexe sich von der Gesellschaft entfernt haben, die sie repräsentieren sollen.

Siechtum der Sozialdemokratie

Besonders augenfällig wird das in diesen Tagen bei der SPD. Hinter ihrem Streit um Führungspersonal, Koalitionsfragen und Wahlverfahren dürfte sich etwas viel Tiefergehendes verbergen: eine fundamentale Orientierungslosigkeit, was die Rolle der Partei unter den Bedingungen einer individualisierten und flexibilisierten Gesellschaft betrifft. Klaus von Dohnanyi hatte ja nicht unrecht, als er jetzt das Siechtum der Sozialdemokratie mit einem Zitat aus der Parteihymne illustrierte: "Eine Woche Hammerschlag, eine Woche Häuserquadern zittern noch in unsern Adern", heißt es da.
Das ist Proletarierlyrik, wie sie zum Arbeiterstolz der Industriegesellschaft passt, aber nicht ins Zeitalter der Digitalisierung – wer wollte Dohnanyi da widersprechen?
Allerdings: Wie auch die Führungsspitze der Partei hat der Hamburger Altbürgermeister nichts Besseres zu empfehlen als eine Rückkehr in die große Koalition. Die Politik der Ära Merkel, verbunden mit einem schönen Schuss Sozialdemokratie im Koalitionsvertrag, sei das Beste für unser Land, so lautet die These.
Das aber darf bezweifelt werden. Nicht, weil die Behauptung unzutreffend wäre, dass die SPD eine Reihe von Reformvorhaben durchgesetzt hat. Das hat sie. Andererseits: Wer diese Vereinbarungen auch nur am sozialdemokratischen Wahlprogramm misst, wird wie die Jungsozialisten zu einem anderen, einem negativen Ergebnis kommen.

Eine Gesellschaft von Individualisten

Aber wie auch immer die SPD die Koalitionsfrage beantwortet: Zum Kern des Problems wird sie damit so wenig vordringen wie die anderen Parteien. Sie alle scheinen noch nicht die Sprache und die Inhalte gefunden zu haben, die zur "Selbstverwirklichungsgesellschaft", wie der Soziologe Andreas Reckwitz sie nennt, passen. Das gilt sowohl für die sogenannten Etablierten als auch für die Nationalisten von ganz rechts.
Sicher: Was die Gesellschaft der Individualisten zusammenhalten könnte, ist nicht mit ein paar Parteitags-Anträgen zu beantworten. Aber dem Land wäre langfristig gedient, wenn eine auf Reformen eingeschworene Partei wie die SPD sich diese Frage einmal klar und deutlich stellen würde, im Zweifel aus der Opposition heraus.

Individuelle Freiheit und kollektive Sicherheit

Ganz zaghaft haben einige Sozialdemokraten, darunter Sigmar Gabriel, in der Vergangenheit einen Weg angedeutet: Man könne dem Anspruch der individuellen Freiheit einen neuen, modernen Begriff von kollektiver Sicherheit zur Seite stellen. Da könnte es darum gehen, an der Wiederherstellung funktionierender sozialer Sicherungssysteme festzuhalten, aber eben nicht mit Instrumenten aus der Ära der Industriegesellschaft – Stichwort Rente mit 63. Zugleich könnte es darum gehen, den Aspekt der Sicherheit vor Kriminalität und Gewalt aus freiheitlicher Perspektive zu besetzen, statt ihn der konservativen Konkurrenz zu überlassen.
Nichts davon ist derzeit auf der Bühne zu hören, wo sich Katastrophe und vermeintlicher Aufbruch in immer kürzeren Abständen abzuwechseln scheinen. Jetzt sollen der mittig-blasse Olaf Scholz und die großkoalitionär gewendete Ex-Linke Andrea Nahles die Rettung sein. "Mann und Weib und Weib und Mann sind nicht Wasser mehr und Feuer", auch diese Zeilen stammen aus der Parteihymne "Wenn wir schreiten Seit' an Seit'". Aber damit ist nicht die Spitze der Partei gemeint. Schön, wenn die beiden sich vertragen. Aber sie müssen schon aufpassen, dass noch jemand mit ihnen schreitet.
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