Die SPD als roter Faden der Demokratie

Von Winfried Sträter · 23.05.2013
Einen kompakten Überblick über den Aufstieg der SPD von der Arbeiterbewegung zur Volkspartei liefern Peter Brandt und Detlef Lehnert. Der Parteienforscher Franz Walther hingegen rückt den Niedergang der Sozialdemokratie seit den 1970er-Jahren in den Fokus. Er bescheinigt der Partei, dass sie sich mehr und mehr von den unteren Gesellschaftsschichten entfremdet habe.
Am Ende ist die Partei zwischen alle Fronten geraten, auf der Suche nach dem verloren gegangenen Milieu. Eine ehemalige Volkspartei, die heute nur noch als "Querschnittspartei" bezeichnet wird, weil sie "in sämtlichen zahlenmäßig relevanten Sozialmilieus relativ ausgeglichen vertreten" ist.

Vertreten ja, aber nicht mehr allzu stark. Seit 150 Jahren gibt es die Sozialdemokratie in Deutschland, aber die Bestandsaufnahme fällt auch bei parteinahen Autoren im parteinahen Verlag ernüchternd aus. Zu tief und existenziell ist die Krise, als dass sie noch schöngeredet werden könnte.

Brandt, Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers, und Lehnert haben kein Jubiläumsbuch geschrieben, aber sie haben im Vorfeld des Jubiläums einen kompakten Überblick über die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie geliefert. Ist er lesenswert? Ja. Ist er lesbar? Naja.

Lesenswert ist das Buch, weil die Autoren offen mit den kritischen Punkten und heiklen Phasen der SPD-Geschichte umgehen und kein geschöntes Geschichtsbild zeichnen – 1916, 1918/19, 1933. Sie schreiben dies allerdings in einem für Laien zuweilen schwer zugänglichen, allzu nüchtern wissenschaftlichen Stil. Wer da nicht bewandert ist, wird kaum wahrnehmen, wie deutlich sie zum Beispiel die Politik eines Friedrich Ebert kritisieren, dessen Führungsqualitäten sie gering schätzen.

Man sehnt sich nach der erzählerischen Qualität angelsächsischer Geschichtsschreibung, wenn man sich durch den Text arbeitet – und fragt sich bisweilen, ob aus der SPD-Geschichte so sehr die Luft raus ist, dass sie mit so wenig Leidenschaft dargestellt wird.

"Mehr Demokratie wagen": Eigentlich ist es eine gute Idee, dass die Autoren dieses epochale Leitmotiv Willy Brandts in seiner Regierungserklärung 1969 zum Leitmotiv ihrer SPD-Geschichte machen. Leider wird daraus kein Konzept für die Gesamtdarstellung, der Gedanke wird nur am Ende jedes Kapitels kurz aufgegriffen, eher bemüht als inspiriert und inspirierend.

Und doch bietet das Buch, wenn man fachlich interessiert ist, auch lohnende Lektüre. Es zeichnet den Aufstieg der sozialdemokratischen Bewegung ab 1830 nach, den Übergang von Arbeitervereinen zu sozialdemokratischen Parteien in den 1860er-Jahren, die Verfolgung während der Bismarck´schen Sozialistengesetze 1878-90, den Aufstieg zur Massenpartei bis zum Ersten Weltkrieg.

Die großen politischen Kontroversen stellen die Autoren in den Kontext der politischen Situation und der Partei-Entwicklung – vom berühmten Revisionismusstreit um 1900 bis zum Godesberger Programm von 1959. Schritt für Schritt mussten sich die Sozialdemokraten von alten Überzeugungen verabschieden, weil sie von der Realität überholt waren. Der Kapitalismus brach nicht gesetzmäßig zusammen, woraus Eduard Bernstein die ebenso vernünftige wie verteufelte Schlussfolgerung zog, dass die SPD ihr Programm und ihre Politik revidieren müsse – die wohl heftigste Debatte, die die Partei je geführt hat.

Bemerkenswert kritisch gehen die Autoren mit der Politik der Parteiführung unter Friedrich Ebert nach 1914 um: Die Spaltung der SPD 1916/17 war für sie ein vermeidbares Verhängnis. Auch die Ebert-Politik in der Novemberrevolution sehen sie kritisch – erstmals regiert die Sozialdemokratie, in einer extrem schwierigen Situation, aber am Ende sind es politische Fehlentscheidungen, die zu der desaströsen Entwicklung 1919/20 beitragen, durch die die SPD sofort wieder die Macht verliert. Die nächste Chance, nach der Erschütterung über den Rathenau-Mord 1922 die Republik zu stärken und die SPD wieder ins Spiel zu bringen, wird erneut von Ebert vergeben. Die Autoren schreiben es nicht so, aber man liest es aus ihrer nüchternen Bestandsaufnahme heraus: Regieren war nicht die große Stärke der deutschen Sozialdemokraten. Erst Willy Brandt 1969 hat bewiesen, dass sie auch in Regierungsverantwortung einer historischen Herausforderung gerecht werden können.

Trotz allem ist die SPD so etwas wie der rote Faden der deutschen Demokratie, wenn man an ihren Kampf um politische Mitwirkungsrechte für alle und den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft als Grundlage der Demokratie denkt. Der Faden scheint gerissen, seitdem sich das traditionelle SPD-Milieu aufgelöst hat und die Schröder-Regierung die "kleinen Leute" nachhaltig verprellt hat. Die in den 1980er-Jahren befürchtete Zweidrittelgesellschaft ist nach Ansicht der Autoren Wirklichkeit geworden, und die SPD hat bisher keine Antwort auf die politische Apathie des unteren Drittels, die sie als Partei trifft, perspektivisch aber auch die Demokratie gefährdet.

Das ist ein großes Thema am Ende dieses Buches, und es lohnt sich, danach ein anderes zur Hand zu nehmen, um die Dramatik zu begreifen: "Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie", 2010 in der Edition Suhrkamp erschienen. Mit ungeheurer Wucht und Leidenschaft analysiert der Parteienforscher Franz Walter darin den epochalen Niedergang der SPD seit 1973, besonders seit den Regierungsjahren nach 1998. Systematischer als in dem kürzlich von ihm und Stine Marg erschienen Bändchen zeichnet Walther ein düsteres Bild nicht nur der Entwicklung der Sozialdemokratie, sondern der Demokratie, wenn die Ausgrenzung des unteren Drittels der Gesellschaft weiter fortschreitet.

Peter Brandt / Detlef Lehnert: "Mehr Demokratie wagen" – Geschichte der Sozialdemokratie 1830-2010
Vorwärts Buch, Berlin 2012
296 Seiten, 20 Euro

Franz Walter: Vorwärts oder abwärts? Zur Tranformation der Sozialdemokratie
Suhrkamp Verlag, Frankfurt / Main 2010
142 Seiten, 12 Euro (Taschenbuch)

Stine Marg / Franz Walter: Von der Emanzipation zur Meritokratie. Betrachtungen zur 150-jährigen Geschichte von Arbeiterbewegung, Linksintellektuellen und sozialer Demokratie
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
160 Seiten, 19,90 Euro