Die Sonne und ihre Rätsel

Der Stern, von dem wir leben

Als glutroter, lebensfeindlicher Feuerball präsentiert sich die 149,6 Millionen Kilometer von der Erde entfernte Sonne aus der Nähe: Das UV-Foto wurde vom EIT-Teleskop an Bord der Sonnen- und Heliosphären-Observationsraumsonde SOHO der NASA am 20.12.2000 aufgenommen. Die Fleckenstruktur ergibt sich durch die unterschiedlichen Temperaturen (zwischen 60000 und 80000 Grad) auf der Sonnenoberfläche. In der Korona, dem leuchtenden, äußersten Kranz um die Sonne, werden Temperaturen bis 1,5 Millionen Grad Celsius erreicht.
Die Sonne: Das UV-Foto wurde vom EIT-Teleskop an Bord der Sonnen- und Heliosphären-Observationsraumsonde SOHO der NASA aufgenommen © picture-alliance / dpa / SOHO
Von Dirk Lorenzen · 03.03.2016
Seit Jahrmilliarden ermöglicht sie mit ihrem Licht und ihrer Wärme das Leben auf der Erde. Noch immer rätseln Astronomen, was genau in der Sonne vor sich geht. Unklar ist auch, wieso sie alle elf Jahre besonders aktiv ist - mit weitreichenden Folgen.
"Die Sonne ist ein Kreis, einem Wagenrad ähnlich. Der Felgenkranz ist hohl und voll von Feuer. An einer Stelle kommt es durch eine Mündung zum Vorschein."
So erklärte der griechische Philosoph Anaximander das immerwährende Leuchten der Sonne. Er war, soweit bekannt, der erste Mensch, der Licht und Wärme der gelben Kugel am Himmel nicht als göttliche Gabe aufgefasst hat, sondern physikalisch zu erklären versuchte. Egal wie abwegig Anaximanders Vorstellung uns heute erscheinen mag: Sie war ein unerhörter Ansatz im sechsten Jahrhundert vor Christus.

Ein Stern der viele Geheimnisse birgt

Zwar wissen die Sonnenforscher heute, zweieinhalb Jahrtausende nach ihrem frühesten Vorgänger, viel mehr über das Gestirn, ohne das unsere Erde eine eisige, finstere Ödnis wäre. Doch auch wenn niemand mehr die Sonne für eine hohle Felge hält, so birgt sie noch immer zahlreiche Geheimnisse.
"Die Vorstellungskraft von Wissenschaftlern ist klein, gemessen an den Wundern der Natur. Wir haben diese Filme gesehen und konnten es einfach nicht glauben."
Alan Title lehrt an der Universität Stanford in Kalifornien. Eine von ihm geleitete Satelliten-Mission funkte vor einigen Jahren Bilder zur Erde, die den Experten die Sprache verschlugen: Die Oberfläche der Sonne brodelt wie kochendes Wasser auf dem Herd. Alle paar Sekunden schießen heiße Gasmassen empor, zucken erratisch, drehen sich und reißen auseinander. Immer wieder entkommen glühende Fetzen in den Weltraum, während andere Wolken zurück auf die Sonne stürzen. Gleichzeitig strömt auf der Oberfläche heißes Material wild hin und her:
"Es ist ein bisschen so, als ob wir bis dahin einen ausgestopften Kolibri in einem Museum gesehen hätten. Da kann man das Skelett und die schönen Federn untersuchen. Aber so lange man ihn nicht hat fliegen sehen, hat man keine Ahnung, was ein Kolibri ist. Plötzlich sehen wir die Sonne als Kolibri. Wir müssen viele vertraute Theorien aufgeben und uns etwas Neues einfallen lassen."
Jahrtausende lang galt die Sonne als gelber Ball, der wunderbar gleichmäßig leuchtet und tagein tagaus verlässlich, aber fast ein wenig langweilig seine Bahn über das Firmament zieht. Allenfalls die dunklen Sonnenflecken auf der Oberfläche signalisierten eine gewisse Veränderlichkeit. Doch seit einigen Jahren zeichnen vor allem die Satellitenteleskope, die vom Weltraum aus die Sonne rund um die Uhr im Blick haben, ein ganz anderes Bild: Unser Stern erscheint fast wie ein lebendiger Organismus. Als Alan Title diese Bilder vor einigen Jahren auf einer Tagung seinen geradezu schockierten Kollegen vorgeführt hatte, meinte ein Zwischenrufer konsterniert, im Foyer gäbe es einen psychologischen Notdienst:
"The best part of science is, when you don't understand it."
Der mit allen Wassern gewaschene Sonnenphysiker nimmt es sportlich: Für ihn ist Wissenschaft am schönsten, wenn man nichts versteht. In der Tat lassen sich die meisten Phänomene auf der Sonne bisher nur bestaunen, nicht aber im Detail erklären. Je mehr die Astronomen über die Sonne erfahren, desto interessanter erscheint der Stern vor unserer Haustür – aber auch um so rätselhafter. So ist die Sonnenforschung zu einem der dynamischsten Bereiche der Astronomie geworden.

Die Sonne als ein beständiger Brand

Man muss sich die Sonne als einen beständigen Brand vorstellen. Unabsehbare Feuermeere und Schlünde, feuerspeiende Berge bedecken die Oberfläche der Sonne und ungeheure Rauchwolken, viele größer als die Erde, wirbeln empor, bis sie sich endlich in Pech- und Schwefelergüssen wieder herabstürzen und dem Sonnenfeuer zur neuen Nahrung dienen.
So die weitverbreitete Vorstellung über die Sonne im 17. Jahrhundert. Gelehrte wie der Danziger Astronom Johannes Hevelius lagen gar nicht so falsch – auch wenn natürlich keine Berge das Feuer speien und es auf der riesigen Sonne nicht Pech und Schwefel regnet.
Die Sonne ist eine glühende Gaskugel mit einem Durchmesser von 1,4 Millionen Kilometern – würde man eine Perlenschnur quer durch die Sonne spannen, so könnte man auf ihr 109 Erden aneinanderreihen. Was auf der brodelnden Kugel passiert, wie sie strahlt und welche Ausbrüche es gibt, überwachen derzeit vor allem zwei Spezialteleskope im Weltraum, eines davon ist SOHO – das Sonnen- und Heliosphären-Observatorium.
"Wir sind hier in der SOHO Experiment Operations Facility, das ist der Raum von dem aus wir SOHO operieren."
Bernhard Fleck ist der wissenschaftliche Leiter von SOHO, das ein Gemeinschaftsprojekt der europäischen Weltraumorganisation ESA und der NASA ist. Sein Dienstsitz befindet sich in einem schmucklosen Gebäude des Goddard Space Flight Center der NASA in Greenbelt nahe der US-Hauptstadt Washington:
"Hier sind Computer, hier haben wir unsere Daily Meetings jeden Morgen, schauen uns an, was die Sonne gerade macht, um Ziele, die wir studieren wollen, zu diskutieren."
Um den großen Besprechungsraum herum sind mehrere kleine Büros angeordnet, aus denen die Wissenschaftler den Satelliten und seine Instrumente steuern:
"Gehen wir gerade mal in ein paar Räume rein. Das hier ist der Raum von EIT. EIT, das sind die wunderschönen Bilder von der Sonne. Grün, blau, orange von der Sonne. Und da werden die Command Loads für den heutigen Tag gerade vorbereitet."
Die "Command Loads" sind die Kommandos, die der Satellit in den folgenden Stunden abarbeiten wird. Das Instrument EIT liefert Bilder im Ultraviolett-Licht, die die Forscher bunt einfärben. Die Sonne zeigt im UV ein ganz anderes Gesicht. Statt als glatte gelbe Scheibe erscheint sie als sich ständig verändernde Kugel. Von der Oberfläche steigen Wirbel auf, aus hellen Bereichen laufen Gasfontänen entlang der Magnetfeldlinien nach außen, sehr aktive Regionen sind von ganz ruhigen dunklen Gebieten umgeben. Im Ultraviolettbereich ist die Dynamik der Sonne unmittelbar zu sehen:
"Man kann auch ganz kurzfristig reagieren. Bei SOHO ist das Besondere: Im Prinzip könnten wir jetzt mit einem Joystick die Instrumente steuern. Wenn irgendetwas auf der Sonne ist, ein Spektrometer genau dahin positionieren und genau diesen Event studieren."

Eine neue Ära der Sonnenphysik

Mit SOHO begann eine neue Ära der Sonnenphysik. Das Satellitenteleskop befindet zwischen Sonne und Erde, nahe dem Lagrange-Punkt 1, eineinhalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Dort sind die Anziehungskräfte von Sonne und Erde im Gleichgewicht – und SOHO kann ohne viel Treibstoffaufwand an dieser Position verharren und sich mit der Erde um die Sonne bewegen. Das Weltraumteleskop hat die Sonne ununterbrochen im Blick – anders als die Sternwarten auf der Erde, über denen unser Stern täglich auf- und eben auch wieder untergeht. Ursprünglich sollte die Mission nur zwei Jahre dauern. Jetzt ist SOHO bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten im Einsatz und somit ein Raumfahrt-"Dinosaurier". Die Sonne hat sich als so faszinierend herausgestellt, dass die NASA schon 2011 einen noch besseren Satelliten ins All geschickt hat, das Solar Dynamics Observatory.
"One of our slogans is: All the Sun. All the time."
Das Motto sei "Die ganze Sonne, zu jeder Zeit", erklärt Tom Woods von der Universität Boulder. SOHOs Kameras waren beim Bau in den 90er-Jahren der letzte Schrei – heute sind die 1000 mal 1000 Bildelemente völlig rückständig. Die Kameras des neuen Sonnensatelliten sind 16-mal größer, sehen wirklich fast alles – und sie lassen die Sonne allenfalls für kurze Momente unbeobachtet:
"Das Solar Dynamcis Observatory ist rund um die Uhr im Einsatz. Wir machen alle zehn Sekunden ein komplettes Bild der Sonne in verschiedenen Frequenzbereichen. Jeden Tag funken wir 1,5 Terabyte an Daten zur Bodenstation, das entspricht dem Herunterladen von 500.000 Musikstücken. Nie zuvor hatten wir eine Weltraummission mit einer so großen Datenmenge. Die vielen Bilder helfen hoffentlich zu verstehen, warum die Sonne so veränderlich und dynamisch ist."
Manche Kameras arbeiten im sichtbaren Licht, andere beobachten das ultraviolette Leuchten der Sonne oder untersuchen die magnetische Orientierung der Strukturen auf der Sonnenoberfläche und deren minimale Bewegungen.
Diese Magnetkarten haben es Bernhard Fleck besonders angetan:
"Das ist das Instrument, mit dem wir in die Sonne herein schauen. Mit dem machen wir, was der Gynäkologe mit einer schwangeren Frau macht. Wir studieren das Innere der Sonne, indem wir Echos, Schallwellen im Sonneninneren studieren. Die zeichnen wir auf. Mit Computermodellen kann man dann das Innere der Sonne rekonstruieren, sogar Bilder des Sonneninneren!"
Das dauernde Brodeln der Sonne lässt ständig Schallwellen entstehen, so wie auch das Blubbern von kochendem Wasser gut zu hören ist. Die Schallwellen laufen durch das Innere der Sonne und werden reflektiert und gebeugt. Die ganze Sonne schwingt wie eine riesige Glocke – hörbar gemacht für das menschliche Ohr.
Die Schallwellen schieben das Gas an der Sonnenoberfläche etwas auf den Beobachter zu oder von ihm weg – und zwar mit einer Periode von fünf Minuten. Dieses minimale Schwingen registrieren die Instrumente an Bord der Sonnensatelliten.
Bernhard Fleck: "Vereinfacht kann man es vergleichen mit einer Gitarrensaite, die man anstreicht. Die hat eine Grundschwingung und eine Oberschwingung. Die Oberschwingungen machen die Klangfarbe. Genauso hat die Sonne dreidimensionale Eigenschwingungen und die messen wir. Die Eigenschwingungen werden definiert durch die Temperaturverteilung im Sonneninnern, durch die Rotation im Sonneninnern, durch die Strömung im Sonneninnern. All das beeinflusst die Eigenschwingungen. Das heißt: Wenn wir die genauen Frequenzen dieser Eigenschwingungen messen, können wir Rückschlüsse über das Sonneninnere ziehen."

Sonnenflecken seit tausenden Jahren beobachtet

"Innerhalb der Sonne waren einige Schwalben und Elstern zu sehen, die nach ein paar Tagen wieder verschwanden, aber nach Wochen wieder auftauchten. Dies ist ein böses Omen für den Herrscher Huai."
Chinesische Sterndeuter hatten schon lange vor der Erfindung des Fernrohrs hin und wieder dunkle Flecken auf der Sonne wahrgenommen – und sie eben für hoch fliegende Schwalben oder Elstern gehalten. Wenn die Sonne vorübergehend ihr makelloses Antlitz verlor, galt dies stets als Zeichen nahenden Unglücks.
Tatsächlich gibt es auf der gut 5000 Grad heißen Sonnenoberfläche immer wieder etwas kühlere Bereiche. Wegen der Temperaturdifferenz erscheinen sie schwarz, als Sonnenflecken. Ein böses Omen sind die Flecken heute nicht mehr – doch die Forscher sind äußerst unglücklich, dass sie wieder einmal nicht recht vorankommen, so übermächtig erscheinen die vielen großen Rätsel.
Dabei blicken Bernhard Fleck und seine Kollegen der Sonne "unter die Haut" und entdecken so auch bei den Flecken ungeahnte Details:
"Wir kennen Sonnenflecken seit Hunderten, seit Tausenden von Jahren. Jetzt ist es erstmals möglich, zu sehen, was unter einem Sonnenfleck passiert, wie tief die sind. Da gab es Theorien, das die wie ein großer Baumstamm tief in die Sonne reichen. ... Das erste Mal sehen wir hier, wie das aussieht: Überraschenderweise sind die sehr flach. Sonnenflecken scheinen ein reines Oberflächenphänomen zu sein. Die sind nicht wie ein Baumstamm, der in die Sonne ragt, sondern eher wie eine 1-Euro-Münze, die auf der Sonnenoberfläche liegt."
Etwa alle elf Jahre gibt es besonders viele Sonnenflecken – zuletzt war dies 2013 der Fall. Derzeit geht die Sonne wieder einem Minimum ihrer Aktivität entgegen. Nur noch vereinzelt zeigen sich dunkle Gebiete auf der hellen Sonnenoberfläche.
Bernhard Fleck: "Diese Frage, woher kommen Sonnenflecken, wieso gibt es diesen elfjährigen Fleckenzyklus, ist eine der Schlüsselfragen in der Sonnenphysik. Was treibt diesen 11-Jahres-Zyklus? Denn die Sonne ist wirklich eine andere im Sonnenminimum als im Sonnenmaximum."
Das letzte Maximum war – entgegen allen Vorhersagen – ausgesprochen schwach. Fast scheint es, als schlummere die Sonne ein wenig ein. Die Forscher verfolgen fasziniert, was der Stern vor unserer Haustür tut. Aber meist müssen sie erstaunt bis verzweifelt feststellen, dass er sich ganz anders verhält als erwartet.

Ein Dilemma für frühere Forscher

"Das große Rätsel liegt jedoch darin, wie eine so ungeheure Verbrennung – wenn eine solche wirklich auf der Sonne stattfindet – unterhalten werden kann. Jede Entdeckung der Chemie lässt uns hier völlig um Stich und rückt die Aussicht auf eine Erklärung in weite Ferne."
Der englische Astronom John Herschel formulierte Mitte des 19. Jahrhunderts das Dilemma der Forscher. Damals war längst klar, dass die Sonne ein riesiges, glühend heißes Objekt ist – doch die Astronomen hatten nicht die leiseste Ahnung, woher unser Stern seine schier unerschöpfliche Energiemenge nimmt.
Neben den Flecken beschäftigt die Sonnenforscher seit Jahrzehnten ein weiteres "klassisches" Problem: Die Korona, die Sonnenatmosphäre. Sie erstreckt sich von der Oberfläche der Sonne Millionen Kilometer weit hinaus ins All. Mit bloßem Auge ist sie nur bei einer totalen Sonnenfinsternis zu sehen, wenn der Mond die gleißend helle Sonnenoberfläche abdeckt. SOHO hat eine Kamera an Bord, in der ständig eine künstliche Finsternis herrscht, sodass Bernhard Fleck und seine Kollegen die Korona immer im Blick haben – und über deren enorme Temperatur rätseln können:
"Das Sonneninnere hat eine Temperatur von ungefähr 15 Millionen Grad. Nach außen hin nimmt die Temperatur ab und die Oberfläche der Sonne, so wie wir sie sehen mit unseren Augen, hat ungefähr 5000 Grad. Soweit alles gut. Wenn man aber nach außen geht, in die Korona, steigt die Temperatur auf einmal schlagartig auf über eine Million Grad. Wie kann das sein?"
Die Forscher wissen nur, dass die Lösung dieses Problems irgendetwas mit dem Magnetfelds der Sonne zu tun hat:
"Man muss die Korona nur anschauen, dann sieht man, dass Magnetfelder eine Rolle spielen müssen. Denn alle diese Strukturen, die man hier sieht, sind magnetische Strukturen. Man sieht aktive Gebiete, diese wunderschönen Schleifen, Loops, wie wir sie nennen, die geheizt werden, unglaublich dynamisch sind, miteinander wechselwirken etc."

Wenn subatomare Energie befreit wird

Die Wärmezufuhr, welche im Inneren der Sonne die von ihr in den Raum ausgestrahlte Wärme immer wieder ersetzt, kann nur aus der Verwandlung anderer Energieformen in Wärme herstammen. Es handelt sich wohl um eine Befreiung subatomarer Energie.
Was der Brite Arthur Eddington in den 1920er-Jahren nur ahnen konnte, ist inzwischen Gewissheit: Die Kernfusion. Das Kraftwerk der Sonne sitzt im Zentrum unseres Sterns. Dort verschmelzen in jeder Sekunde rund 600 Millionen Tonnen Wasserstoff zu 596 Millionen Tonnen Helium. Die fehlenden 4 Millionen Tonnen werden in Licht und Wärme umgewandelt. Diese Strahlung wandert an die Sonnenoberfläche und sorgt dort für eine Vielzahl skurriler Phänomene.
Bernhard Fleck: "Die Magnetfelder werden durch die Konvektion hin- und hergeschoben. Irgendwann kommt es zum Bruch. Gummibänder werden gespannt und irgendwann ist die Spannung so groß, dass sie schnappen und dann wird das Plasma ins Weltall geschossen. Das sind diese Massenauswürfe, die das Space Weather, also Weltraumwetter, machen."
Mit Weltraumwetter bezeichnen die Astronomen die sich ständig verändernde Situation, wie viel Teilchenstrahlung die Erde erreicht. Die Sonne pustet ununterbrochen Materie und Strahlung ins All – mal erreicht uns nur ein laues "Lüftchen", mal fegt ein Sturm über unseren Planeten. Die Sonnenphysiker wollen solch kosmisches Ungemach möglichst frühzeitig erkennen. Daher hat die NASA das milliardenschwere Projekt "Living with a star" aufgelegt – "Leben mit einem Stern".
Doch für Barbara Giles, Leiterin des NASA-Sonnenforschungsprogramms, hätte der Titel durchaus noch prägnanter sein können:
"Es müsste eigentlich "Leben in einem Stern" heißen. Denn natürlich befindet sich unsere Erde noch in der Atmosphäre der Sonne. Die Sonne spuckt ständig Materie und Strahlung aus. Uns pfeift immer ein himmlischer Wind um die Ohren. Dieser Teilchenstrom von der Sonne hat starken Einfluss auf die Erde. Satelliten und Stromnetze fallen aus, Passagiere auf polnahen Flugrouten sind hoher Strahlenbelastung ausgesetzt, es gibt starke Polarlichter etc. Mit diesem Programm wollen wir erforschen, wie die Sonne das Leben auf der Erde beeinflusst."

Die Sonne ist nicht immer nur freundlich

"Wir unterbrechen unser Programm für eine Unwetterwarnung des NASA-Weltraumzentrums: Heute früh haben sich auf der Sonne starke Eruptionen ereignet, bei denen große Mengen geladener Teilchen ins All geschleudert wurden. Diese Wolken rasen mit mehr als zweitausend Kilometern pro Sekunde auf die Erde zu. In den kommenden Stunden ist daher mit schweren Sonnenstürmen zu rechnen."
Die Sonne ist ein nicht immer nur freundlicher Nachbar. Zwar versorgt sie die Erde zuverlässig mit Licht und Wärme. Doch zu diesen Gaben gesellen sich hin und wieder Unmengen energiereicher Teilchen.
In Deutschland ist Volker Bothmer von der Universität Göttingen einer der führenden Experten für Sonnenstürme:
"Wir wissen aus den Satellitenmessungen, dass wir zum Beispiel in den letzten elf Jahren, im letzten Zyklus, 10.000 Sonnenstürme beobachtet haben. Und dank der Weltraumsonde SOHO wissen wir, dass 40 in Frage gekommen wären, um solche massiven Störungen auszulösen. Meistens haben wir aber einfach Glück, dass die Stürme nicht Richtung Erde laufen oder das Magnetfeld nicht die richtige Richtung hat. Aber theoretisch ist das jeden Tag möglich."
Daher arbeiten Volker Bothmer und seine Kollegen in aller Welt an verbesserten Prognosen. Bald sollen Weltraumwettervorhersagen genauso selbstverständlich sein wie der Ausblick auf Sonnenschein oder Regen am kommenden Wochenende.
Meist gehen die Sonnenstürme an der Erde vorbei, nur hin und wieder treffen sie uns frontal. Das hat aber nur dann fatale Folgen, wenn das Magnetfeld in der Materiewolke genau entgegengesetzt zum Magnetfeld unserer Erde verläuft:
Volker Bothmer: "Dann entsteht ein magnetischer Kurzschluss, werden Ströme erzeugt um die Erde herum, die sich bis auf den Erdboden auswirken. Polarlichter entstehen, großräumige Dichteänderungen in der Atmosphäre in 100 km Höhe entstehen, die den Funkverkehr und die Satellitenkommunikation stören und die Ströme können sich dann auch in Elektrizitätswerken bemerkbar machen und Effekte auf Transformatoren haben."

Sonnenstürme und ihre Folgen

Dies sind keine Horrorszenarien. Der letzte große Sonnensturm fand 2003 statt, als gleich zwei Gaswolken hintereinander über die Erde hinweg gefegt sind. In Schweden gab es etliche Stunden Stromausfall und das europäische Flugradar war ebenfalls stark eingeschränkt. Dutzende Flüge auf Pol nahen Routen mussten am Boden bleiben. Die EU-Kommission hat sich jetzt das Forschungsprogramm Affects drei Millionen Euro kosten lassen, um die Auswirkungen von Sonnenstürmen genauer zu untersuchen, erklärt Volker Bothmer:
"In diesem Fall bestand ein Schwerpunkt darin, die Auswirkungen auf Satellitenkommunikation und -navigation zu untersuchen und da ein Vorhersagesystem zu entwickeln. Das beinhaltet aber im Grund genommen auch die Vorhersage des Sonnensturms global in jeder Hinsicht. Es ist auch keine Frage, dass einer kommt, sondern nur wann. Daran arbeiten wir, dann auch die nötigen Vorkehrungen zu treffen."
Wenn sich durch die Sonnenstürme die obere Schicht unserer Erdatmosphäre stark verändert, liefern die GPS-Empfänger falsche Koordinaten. Die Abweichungen liegen im Bereich von fünfzig bis hundert Metern. Für die meisten mag das zu verschmerzen sein, aber auf See oder in der Luft wird es gefährlich: Im dichten Nebel könnten Schiffe auf Grund laufen und Flugzeuge die Landebahn verfehlen. Für uns am Boden sind die energiereichen Teilchen keine direkte Gefahr, weil das Erdmagnetfeld sie abhält. Aber die starken Ströme in der Atmosphäre legen dennoch hin und wieder ganze Stromnetze auf der Erde lahm.
Volker Bothmer: "Wenn man sich das anschaut in der Statistik, pro elf Jahre, pro Sonnenzyklus, einmal ein gravierender Effekt auf Stromnetze, dann müsste also in diesem Zyklus, obwohl er ausgeprägt schwach ist, noch ein starker Sturm erfolgen. Dann muss man natürlich, wie es auch getan wird in diesen Risikostudien, die Folgeeffekte durchrechnen, Das kann man dann auf die Milliarden-Kosten treiben. Kein Strom, viele Systeme funktionieren nicht. Dann bricht die gesamte Infrastruktur zusammen."
Milliarden Jahre lang war für das Leben auf der Erde nur wichtig, dass die Sonne schien und Licht und Wärme spendete. Die großen Sonneneruptionen aber spielten keine Rolle. Die Urmenschen haben allenfalls über das zauberhafte Polarlicht gestaunt – mehr haben sie von der Sonnenaktivität nicht mitbekommen. Doch die moderne Gesellschaft ist abhängig von Stromnetzen und GPS, Telekommunikation und Echtzeitbeobachtungen der Erde, Wetteranalysen und vielem mehr. Das Meiste davon ist nur dank zahlreicher Satelliten in den Umlaufbahnen möglich. Dort oben sind sie den Launen der Sonne ausgeliefert. Zwar ist bisher noch nicht einmal eine Handvoll Satelliten durch Weltraumwetter ausgefallen. Doch die Sonne kann auch ganz anders zuschlagen.

Was passiert bei einem Supersturm?

"Vor 40 Minuten hat die Explosionsfront eines solaren Superflares die Erde erreicht. Durch diese stärkste bisher beobachtete Sonneneruption ist die Elektronik zahlreicher Kommunikations-, Wetter-, Erderkundungs- und Navigationssatelliten zerstört worden. Nach dem Ausfall vieler Aufklärungssatelliten wurde der NATO-Krisenstab einberufen. In den USA, Europa und Russland haben zahlreiche Kurzschlüsse die Stromversorgung lahmgelegt."
Ein gigantischer Strahlungsausbruch, bei dem alle negativen Effekte unglücklich zusammenkommen, könnte weite Teile der Erde für einige Zeit in einen vorindustriellen Zustand zurückversetzen. So ein Ereignis träfe uns alle mehr oder weniger unvorbereitet, erläutert Volker Bothmer – denn so ein Supersturm würde sich bestenfalls einen Tag vorher abkündigen:
"So etwas lässt sich nur begrenzt vorhersagen. Man kann auch keine wirklichen Statistiken aufstellen: Es wird so gesagt, ja alle 500 Jahre. Wenn wir zurückgehen, hatten wir den letzten stärksten Sturm 2003 im Oktober mit diversen Effekten auf Flugverkehr, auf Stromsysteme und Strahlenbelastung für Astronauten und so weiter. Aber der stärkste Sturm, den wir in der Geschichte kennen, der ist 1859 aufgetreten, von dem Astrophysiker Richard Carrington beobachtet."
Der britische Forscher hatte zufällig eine gleißend helle Explosion auf der Sonne beobachtet. Stunden später schmorten Telegrafenleitungen durch und selbst über Nordafrika und der Karibik waren tagelang extrem helle Polarlichter zu sehen. Damals war das vor allem ein kosmisches Kuriosum – doch heute würde so ein Ereignis wirtschaftlichen Schaden in Höhe von vielen Milliarden Euro anrichten.
Daher setzen Volker Bothmer und die Sonnenforscher weltweit alles daran, den Stern vor unserer Haustür endlich besser zu verstehen:
"Wir werden jetzt zwei Missionen ab 2018 fliegen haben. Das eine ist der Solar Orbiter mit starker deutscher Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung in Göttingen und zwar wird sich diese Sonde bis auf Merkurnähe an die Sonne nähern, das sind so etwa 50 Millionen Kilometer und dann in situ Messungen von Teilchen des Sonnenwinds machen und auch Kameras an Bord haben."

Auf dem Weg in die Sternatmosphäre

Solche Missionen sind eine technische Meisterleistung, denn die Sonden müssen so gebaut werden, dass sie in der starken Sonnenhitze nicht schmelzen. Eine zweite Raumsonde wird für die Forschung dann buchstäblich durchs Feuer gehen.
Volker Bothmer: "Dann bin ich selber beteiligt an einem Konzept, den ersten Besuch der Menschheit einer Sternatmosphäre zu realisieren. Das geschieht auch mit Start 2018 mit der Solar Probe Plus Mission der NASA und die wird die Sonne bis auf 6 Millionen Nähe umfliegen."
Die Solar Probe Plus-Mission wird bei der engsten Annäherung nicht einmal fünf Sonnendurchmesser von der glühenden Oberfläche entfernt sein. Wenn sie tatsächlich der Hitze standhält, wird sie einzigartige Informationen über die Sonne liefern. Jenes Kraftwerk, das uns zuverlässig mit aller lebenswichtigen Energie versorgt – das aber mit seinen unberechenbaren Ausbrüchen noch immer voller Geheimnisse steckt.
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