"Die Situation ist in jeder Bibliothek anders"

Annette Gerlach im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 31.10.2008
In vielen Bibliotheken liegt bis heute Raubgut aus der Nazi-Zeit. So sind auch in die Berliner Stadtbibliothek 2000 Bücher durch eine Übernahmeaktion 1943 gekommen, wie Annette Gerlach, Leiterin der Historischen Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, bestätigte.
Klaus Pokatzky: Ich bin nun am Telefon verbunden mit Doktor Annette Gerlach, der Leiterin der Historischen Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Guten Tag, Frau Gerlach!

Annette Gerlach: Guten Tag!

Klaus Pokatzky: Frau Gerlach, warum hat es fast ein halbes Jahrhundert gedauert, bis sich unsere Bibliothekare und Bibliothekarinnen für diese zweifelhaften Bücher in ihren Regalen interessiert haben?

Gerlach: Das ist sehr schwierig zu beantworten, die Motivation der Vorgängergenerationen unseres Berufsstandes zu beurteilen. Zum einen ist die Situation schwierig gewesen, dieses alles überhaupt zu recherchieren, zum anderen hat man lange Zeit wohl doch die Fragen nach der eigenen Bibliotheksgeschichte – nicht nur die des Dritten Reiches – auch zurückgestellt angesichts anderer, vermeintlich wichtigerer Fragen. Aber letztlich kann ich die Frage nicht beantworten.

Klaus Pokatzky: Wissen Sie denn, ob Ihre Vor-Vor-Vorgänger sozusagen, die zur Nazizeit in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin gearbeitet haben, ob die ganz offen damals mit diesem geraubten Eigentum umgegangen sind? Wussten die, woher die Bücher kamen, die ihnen da die Reichstauschstelle beschert hat?

Gerlach: Die Berliner Stadtbibliothek hat sehr wohl gewusst, um was es ging. Die Berliner Stadtbibliothek hat weniger von der Reichstauschstelle Bücher bekommen, sondern man hat sich 1943 bemüht, Bücher, die vorher Juden weggenommen worden sind und die in der städtischen Pfandleihanstalt zusammengetragen worden sind, zu erhalten. Und in unserem Archivmaterial, in dem vorhandenen, allerdings nicht vollständigen Briefwechsel und auch in den Wirtschaftsbüchern ist völlig ungeschönt von den Büchern der Juden die Rede. Da ist offensichtlich keinerlei Unrechtsbewusstsein vorhanden gewesen.

Klaus Pokatzky: Wenn wir mal auf sämtliche unserer Bibliotheken gehen – kann man irgendwie schätzen, um wie viele Bücher es insgesamt geht?

Gerlach: Nein, ich glaube, das wäre vermessen, eine Gesamtzahl zu benennen.

Klaus Pokatzky: Was haben Sie denn jetzt ganz persönlich in Ihrer Zentral- und Landesbibliothek Berlin in Ihren Regalen und den Kellern?

Gerlach: Was wir bisher nachweisen konnten, sind Bücher aus den Beständen sozialdemokratischer oder gewerkschaftlicher Bibliotheken und Archive, auch einige Titel von Freimaurerlogen sind bisher gefunden und einige tausend Bücher, die ganz offensichtlich im Zusammenhang dieser Übernahmeaktion 1943 in die Berliner Stadtbibliothek gekommen sind, die also jüdischen Privatpersonen gehören. Wir haben bisher um die 2000 Bücher aus dieser Übernahmeaktion identifizieren können, das sind also auf jeden Fall schon einmal 70 Meter, aber wir gehen davon aus, dass es weit mehr ist. Wir vermuten, dass wir noch sicherlich mindestens 150.000 Bücher überprüfen müssen.

Klaus Pokatzky: Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, dass Sie solche Bücher in Ihren Beständen haben? War das ein Zufallsfund oder wie ging das?

Gerlach: Zum einen denke ich, dass jede Bibliothek grundsätzlich einen Verdacht haben muss. Nun war unsere Ausgangssituation sehr schwierig, weil auch das eigene Bibliotheksarchiv nicht gut genug erschlossen war, um wirklich auch wissenschaftlich forschen zu können, um Quellen untersuchen zu können, und zum anderen stehen unsere Bücher nicht nach Zugang, nach Jahren geordnet, sondern nach ganz normalen fachlichen, inhaltlichen Ordnungskriterien.

Also war es auch schwierig, Stichproben zu machen. Aber erste Stichproben haben dann schon auch manche Zweifel wachsen lassen, aber letztendlich war die Initialzündung ein Zufallsfund in unbearbeiteten Beständen, da haben wir vor einigen Jahren drei Bücher entdeckt mit dem Stempel des Karl-Marx-Hauses Trier. Und eine Nachfrage dort hat ergeben, dass es ganz, ganz klar von den NS-Behörden enteignete Bücher waren. Diese Bücher haben wir natürlich längst dem heutigen Eigentümer zurückgegeben, das ist die Friedrich-Ebert-Stiftung.

Klaus Pokatzky: Ich spreche mit Annette Gerlach von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin über Naziraub-Bücher in unseren Büchereien. Zitieren wir noch einmal Goethe: "Niemand weiß, wie lang er es hat, was er ruhig besitze." Sie haben jetzt geschildert, an die Friedrich-Ebert-Stiftung haben Sie bereits Bücher zurückgegeben. Wie lange werden Sie denn noch andere zweifelhafte Bestände haben? Was soll damit passieren?

Gerlach: Sofern wir die Erben, Nachkommen, Eigentümer identifizieren können, werden wir zurückgeben. Das ist allerdings sehr, sehr schwierig, denn wir haben in den letzten Jahren zunächst keine Spur gehabt, wo diese 1943 übernommenen Bücher denn überhaupt geblieben sind in unserem Haus. Das ist im Zuge eines Projektes in diesem Jahr erstmals entdeckt worden, und Sie können sich vorstellen, dass mehr als sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Suche nach den Eigentümern sehr, sehr schwer werden wird. Wir arbeiten mit dem Landesarchiv Berlin und anderen da auch zusammen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wann es uns gelingen wird und ob es uns gelingen wird, alle Eigentümer und alle Nachkommen zu identifizieren. Aber klar ist: Wenn uns das gelingt, dann ist die Rückgabe eine Selbstverständlichkeit.

Klaus Pokatzky: Frau Gerlach, auch wenn wir keine richtig harten Zahlen nennen – können wir das jetzt doch mal umrechnen auf alle deutschen Bibliotheken? Da muss es sich ja doch um Millionen Bücher handeln, wenn allein in Berlin ja schon 150.000 sind, die da in Zweifel stehen.

Gerlach: Die Situation ist in jeder Bibliothek anders. Wenn Sie sehen, welche Recherchemöglichkeiten in Bremen zum Beispiel waren, wo gerade ganz viele Bücher ja auch weggenommen worden sind, bevor Juden auch noch auswandern konnten, dann ist das schon eine etwas andere Situation als wenn Sie Bibliotheken haben, die auch ganz gezielt ganz bedeutende Gesamtsammlungen einer Person weggenommen haben beziehungsweise Nutznießer gewesen sind von der Enteignung. Das lässt sich sehr, sehr schwer hochrechnen. Die Frage "Was ist eigentlich mit unserem Bestand?" muss sich letztendlich jede Bibliothek stellen.

Klaus Pokatzky: Sie haben einmal gesagt, Frau Gerlach, zu diesem Thema: "Wir haben unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht." Ist Ihre kritische Haltung, wie Sie ja wirklich versuchen, das aufzuarbeiten, schon überall angekommen in deutschen Bibliotheken?

Gerlach: Wir können nur die Fakten benennen: Nicht jede Bibliothek ist schon dabei, dieses Thema der Geschichte intensiv zu bearbeiten. Wir könnten es allerdings auch positiver sagen: Immer mehr Bibliotheken bemühen sich inzwischen sehr intensiv um diese Frage, und ich hoffe, dass diejenigen, die sich noch nicht damit beschäftigen, dieses nun auch tun werden.

Klaus Pokatzky: Vielen Dank, Annette Gerlach, Leiterin der Historischen Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Dort gibt es ab dem 25. November eine Ausstellung mit und zu den geraubten Büchern.