Die Sicht auf den anderen
"Das Simple hat seinen Reiz, es kann süchtig machen", beschreiben die amerikanischen Kulturhistoriker Stuart und Elizabeth Ewen die Wirkungsmächtigkeit von Vorurteilen. In Typen & Stereotype untersuchen sie die pseudo-wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Mechanismen des "Typecastings", dessen mörderischste Konsequenzen in Sklaverei, Rassenwahn und Eugenik sichtbar werden.
Der Fokus wandert von Europa in die USA, wo noch im Jahr 2005 Harvard-Präsident Summer die Geschlechterungerechtigkeit mit "Fragen der inneren Befähigung" der Frau zusammenbrachte. Das Werk der Ewens – angelegt als "Reihe ausgewählter Abrisse" – besticht durch Anschaulichkeit und Materialbeherrschung. Dank vieler Originalzitate und Abbildungen teilt sich die geistige Atmosphäre mit, in der seit dem 17. Jahrhundert zum Zweck der Menschenhierarchisierung Schädel vermessen, Gesichter gemalt, fotografiert und Idiome erforscht wurden. Theoretische Hintergründe fehlen indessen, eine Systematik von Vorurteilen ist nicht intendiert.
Schon über die Herkunft von Eva berichten die zur Bibel zusammengefassten Schriften etwas anderes als die Schriften, die bei der Kanonisierung unberücksichtigt blieben: Nach diesen wurde Eva gleichberechtigt geschaffen, nach jenen aus einer Rippe Adams gemacht… wobei sich die Rippen-Geschichte weit besser eignete, die Vorherrschaft des Mannes im Christentum zu begründen. Elizabeth und Stuart Ewen untersuchen jeweils beides: Sowohl Methoden und Medien zur Durchsetzung von Stereotypen, als auch die Machtverhältnisse, die so zementiert werden sollen. Ihre Studien reichen von den frühen Naturkundemuseen bis zur Physiognomik als der Wissenschaft des ersten Eindrucks, vom Rassismus auf der Grundlage von Schädelvermessungen bis zum klischeetriefenden Hollywood-Streifen "King Kong", von der verächtlichten Vorführung der Saartjie Baartman als "Hottentotten-Venus" und Jahrmarktattraktion in London 1811 bis zu den amerikanischen "Rassenverbesserungswochen" Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen der weiße, tatkräftig-tugendhafte Mann bedenkliche Triumphe feierte.
Die Ewens vermeiden übermäßige Moralisierung und wohlig-schaurigen Voyeurismus, die bei der Behandlung des spektakulären Themas im Milieu selbsternannter Herrenmenschen und ihrer entwürdigten Objekte mitsamt Kuriositäten, Perversitäten und Verbrechen stets drohen. Der unheimliche Subtext des Buches entsteht dadurch, dass an der Geschichte der Stereotype mit ihren oft blutigen Zügen nicht nur (heute) verdächtige Köpfe wie der Naturforscher Sir Francis Galton und der Statistiker Louis Adolphe Bertillon mitgeschrieben haben, sondern auch ein Thomas Jefferson, ein Goethe und die Hollywood-Industrie sowieso. Dass die Ewens im zweiten Teil des Buches vor allem Ereignisse in den USA behandeln, hat für deutsche Leser den Vorteil, die Funktion rassistischer Stereotype außerhalb des bekannten NS- und Holocaust-Rahmens kennenzulernen. Aktualisierungen etwa mit Blick auf das deterministische Menschenbild einiger Neurobiologen zeigen, dass die Geschichte der Vorurteile auf hohem Niveau weitergeht.
Die Stärke von "Typen & Stereotype" liegt in einzelnen Kapiteln und Episoden. Der zwischen Essay, Wissenschaft und Erzählung pendelnde Stil langweilt nie. Zum ganz großen Wurf fehlt es an einer klarer Gesamtgestaltung und der geschmeidigen Komposition der amerikanistischen, historischen und filmwissenschaftlichen Elemente … Ein Urteil, das angesichts der Materie aber vielleicht nur ein weiteres Vorurteil ist. Auch Fragmente haben ihren Anteil an der Erkenntnis.
Besprochen von Arno Orzessek
Stuart und Elizabeth Ewen: Typen & Stereotype. Die Geschichte des Vorurteils
Aus dem Amerikanischen von Dominik Fehrmann und Ulrike Seith
Parthas Verlag, Berlin 2009
582 Seiten, 28 Euro
Schon über die Herkunft von Eva berichten die zur Bibel zusammengefassten Schriften etwas anderes als die Schriften, die bei der Kanonisierung unberücksichtigt blieben: Nach diesen wurde Eva gleichberechtigt geschaffen, nach jenen aus einer Rippe Adams gemacht… wobei sich die Rippen-Geschichte weit besser eignete, die Vorherrschaft des Mannes im Christentum zu begründen. Elizabeth und Stuart Ewen untersuchen jeweils beides: Sowohl Methoden und Medien zur Durchsetzung von Stereotypen, als auch die Machtverhältnisse, die so zementiert werden sollen. Ihre Studien reichen von den frühen Naturkundemuseen bis zur Physiognomik als der Wissenschaft des ersten Eindrucks, vom Rassismus auf der Grundlage von Schädelvermessungen bis zum klischeetriefenden Hollywood-Streifen "King Kong", von der verächtlichten Vorführung der Saartjie Baartman als "Hottentotten-Venus" und Jahrmarktattraktion in London 1811 bis zu den amerikanischen "Rassenverbesserungswochen" Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen der weiße, tatkräftig-tugendhafte Mann bedenkliche Triumphe feierte.
Die Ewens vermeiden übermäßige Moralisierung und wohlig-schaurigen Voyeurismus, die bei der Behandlung des spektakulären Themas im Milieu selbsternannter Herrenmenschen und ihrer entwürdigten Objekte mitsamt Kuriositäten, Perversitäten und Verbrechen stets drohen. Der unheimliche Subtext des Buches entsteht dadurch, dass an der Geschichte der Stereotype mit ihren oft blutigen Zügen nicht nur (heute) verdächtige Köpfe wie der Naturforscher Sir Francis Galton und der Statistiker Louis Adolphe Bertillon mitgeschrieben haben, sondern auch ein Thomas Jefferson, ein Goethe und die Hollywood-Industrie sowieso. Dass die Ewens im zweiten Teil des Buches vor allem Ereignisse in den USA behandeln, hat für deutsche Leser den Vorteil, die Funktion rassistischer Stereotype außerhalb des bekannten NS- und Holocaust-Rahmens kennenzulernen. Aktualisierungen etwa mit Blick auf das deterministische Menschenbild einiger Neurobiologen zeigen, dass die Geschichte der Vorurteile auf hohem Niveau weitergeht.
Die Stärke von "Typen & Stereotype" liegt in einzelnen Kapiteln und Episoden. Der zwischen Essay, Wissenschaft und Erzählung pendelnde Stil langweilt nie. Zum ganz großen Wurf fehlt es an einer klarer Gesamtgestaltung und der geschmeidigen Komposition der amerikanistischen, historischen und filmwissenschaftlichen Elemente … Ein Urteil, das angesichts der Materie aber vielleicht nur ein weiteres Vorurteil ist. Auch Fragmente haben ihren Anteil an der Erkenntnis.
Besprochen von Arno Orzessek
Stuart und Elizabeth Ewen: Typen & Stereotype. Die Geschichte des Vorurteils
Aus dem Amerikanischen von Dominik Fehrmann und Ulrike Seith
Parthas Verlag, Berlin 2009
582 Seiten, 28 Euro