"Die Schulden merken wir heute schon"

Kai Konrad im Gespräch mit Ulrike Timm · 29.07.2010
Zwischen 15 und 20 Prozent der Staatseinnahmen muss Deutschland nur für die Zinsen auf geliehenes Geld ausgeben. Noch sei das Vertrauen der Gläubiger hoch, aber dies könne früher oder später kippen, warnt der Münchner Professor Kai Konrad.
Ulrike Timm: Deutschland hat heute rund 1700 Milliarden Schulden, das ist eine dreizehnstellige Zahl, und um die ein klein wenig anschaulicher zu machen, rechnet man gerne pro Kopf. Das hieße dann: Vom Neugeborenen bis zum Greis beträgt die Verschuldung pro Kopf rund 20.000 Euro. Aber bei wem genau ist der Staat denn nun eigentlich wirklich verschuldet, bei wem steht der öffentliche Haushalt tatsächlich in der Kreide?

Weil die ganz einfachen Fragen oft am schwersten zu beantworten sind, hat Professor Kai Konrad, Direktor am Max-Planck-Institut für Wettbewerbs- und Steuerrecht, jetzt ein Buch vorgelegt, "Schulden ohne Sühne?", das die Mechanismen und Zusammenhänge von Schulden und Finanzkrisen dem Laien verständlich machen will. Mal sehen, ob ihm das bei uns gelingt. Professor Konrad, ich grüße Sie!

Kai Konrad: Ja, guten Tag!

Timm: Herr Konrad, diese unermesslichen Schulden – bei wem hat der Staat die eigentlich genau? Die paar Bundesschatzbriefe, die die meisten von uns angehäuft haben, werden diesen Betrag doch nicht erbringen.

Konrad: Im Großen und Ganzen und in der Summe schon. Also Schulden hat der Staat bei denen, die ihm Geld geliehen haben. Das sind teilweise wir Bürger direkt, das sind teilweise Pensionsfonds, das sind Finanzinstitute, das sind auch Leute im Ausland, die gerne ihr Geld dem deutschen Staat leihen.

Timm: Gut, aber letztlich leben wir immer noch auf ziemlich hohem Niveau, wir haben Schwimmbäder, wir haben Theater, wir haben Straßenbau, und auch, wer in Deutschland arm ist, lebt – verglichen mit wirklich armen Ländern – mit einer Grundversorgung immer noch recht gut. Wann kippt denn das, wann wird jeder von uns diese Schulden auch merken, die der Staat bei uns hat?

Konrad: Also ich denke, die Schulden merken wir heute schon, weil ein Großteil der Steuereinnahmen, die der Staat von uns empfängt, eben nicht mehr für Straßen, Schulen und so weiter zur Verfügung stehen, sondern für die Zinsen.

Timm: Wie viel sind denn das?

Konrad: Also für den Bund ungefähr ist es eine Größenordnung von 15 bis 20 Prozent der Einnahmen.

Timm: Das heißt, das Grundproblem ist: Ein Großteil des Haushaltes ist ausgegeben, bevor man sich überhaupt überlegen kann, was machen wir mit dem Geld. Gibt es da eine Größe, wann man sagen kann, das kippt jetzt, das wird sozial gefährlich, das wird finanziell gefährlich, das geht, ja, in den Abgrund sozusagen?

Konrad: Ja, in den Abgrund geht es dann, wenn diejenigen, die dem Staat heute Geld leihen, dem Staat nicht mehr trauen, wenn sie das Gefühl haben, der Staat ist nicht mehr in der Lage, in der Zukunft seine Zinsen und seine Schulden zurückzuzahlen. Dann kommt der Staat wirklich in Probleme.

Timm: Na gut, aber das hatten wir gerade: Finanzkrise ist im Grunde darauf aufgebaut, dass Leute, die Kredite bekommen haben, die nicht mehr zurückzahlen konnten. Es war eine schwere Niederlage, vielleicht auch fürs ganze Finanzsystem, schwerer Einschnitt, aber anscheinend ist man doch halbwegs ordentlich durchgeschlittert?

Konrad: Also zu trennen, denke ich, ist die Finanzkrise, die ja in erster Linie zunächst mal die Banken, Kreditinstitute und eben die Funktionsfähigkeit des Zahlungsverkehrs betrifft, und die Staatsschuldenkrise. Die Staatsschuldenkrise ist eben eine, die sichtbar geworden ist im Zusammenhang mit dem Garantieschirm, den die Europäische Union aufgespannt hat, die in Deutschland noch nicht in dem Sinne sichtbar ist, weil im Moment ist das Vertrauen, das die Kreditgeber Deutschland entgegenbringen, noch sehr hoch.

Timm: Das klingt so, als würden Sie meinen, das würde aufgezehrt und sei irgendwann nicht mehr da?

Konrad: Also die Staatsschulden pro Kopf, auch im Verhältnis zu der Wirtschaftskraft des Landes in Deutschland, die steigen eben sukzessive seit eigentlich der Währungsreform 1948 immer weiter an, in so kleinen Treppchen und so weiter. Und wie gesagt, im Moment ist das Vertrauen der Bürger und der Kreditgeber in den deutschen Staat und seine Zahlungsfähigkeit, seine Zahlungswilligkeit auch, noch sehr hoch. Das kann aber irgendwann kippen, und das kann früher oder später kippen.

Timm: Sie sprechen von kleinen Treppchen, in denen die Verschuldung gestiegen ist. In den letzten zehn Jahren waren das große Stufen, denn von 2000 bis 2010 haben sich die Schulden fast verdoppelt. Wie kann das sein, dass das plötzlich in diesem Maße ansteigt?

Konrad: Der Staat hat phasenweise konsolidiert in dem Sinne, dass er in bestimmten Phasen hohen Wirtschaftswachstums relativ wenig Neuverschuldung aufgenommen hat, und dann kamen eben immer wieder negative Nachrichten, negative Schocks – das Platzen der Internetblase, die deutsche Wiedervereinigung, und jetzt eben jüngst die Finanzkrise. Und immer in diesen Negativphasen, da kam es praktisch zu diesem treppenartigen Anstieg der Staatsverschuldung in Deutschland.

Timm: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Kai Konrad, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wettbewerbs- und Steuerrecht. Herr Konrad, Island, nach der Finanzkrise kurz vor dem Staatsbankrott, hat in diesem Frühjahr per Volksabstimmung beschlossen: Knapp vier Milliarden Euro zahlen wir französischen und britischen Sparern nicht zurück. Und wenn ich das richtig weiß, mussten die das akzeptieren. Ist ja eine interessante Perspektive, so seine Schulden zu vermindern. Lassen Sie uns mal ein Gedankenspiel machen: Wenn der Schuldenberg so groß ist, dass eigentlich niemand mehr weiß, wie er ihm Herr werden soll und wenn es die Lösung als solche gar nicht gibt – könnte man nicht sagen, wir stellen alles auf null und fangen von vorne an, so à la Monopoly, gehe zurück auf Los?

Konrad: Ja, solche Aktionen, den Zähler auf Null zu stellen, hat es in der Geschichte ja auch gegeben. Also die Hyperinflation hat beispielsweise in Deutschland die Staatsverschuldung seinerzeit, 1923, massiv entwertet.

Timm: Ich flechte mal ein, Hyperinflation heißt: 50 Prozent Inflation pro Monat. Davon sind wir weit entfernt.

Konrad: In der Weimarer Republik hat es mal eine erhebliche Entwertung der Staatsschulden, so eine Art Zähler-auf-Null-Stellung gegeben, eine weitere hat es gegeben im Zuge der Währungsunion. So was kann die Politik im Grunde entscheiden. Das Problem ist, dass dann eben auf der anderen Seite die, die dem Staat Geld geliehen haben und auf den Staat vertraut haben, um ihre Mittel geprellt werden, und das ist eine politische Abwägung, die man da treffen muss. Also ich meine, normalerweise sind eben Verträge einzuhalten, und wenn man den Zähler auf Null stellt, wenn man die Staatsschulden nicht zurückzahlt, dann ist das eben so eine Art Vertragsbruch.

Timm: Und dann hätte man die Vertrauenskrise in dieser scheinbaren Lösung mit drin?

Konrad: Das würde sicher sich auch auf das Vertrauen der Kreditgeber für die Zukunft auswirken, in der Tat. In Island, wenn ich das noch bemerken darf, ist die Situation etwas anders gewesen. Das waren nämlich eigentlich private Sparer, die privaten Kreditinstituten Geld geliehen haben. Und dann sind diese privaten Kreditinstitute in Schwierigkeiten geraten und vom Staat gerettet worden. Das ist also nicht eigentlich in erster Linie der isländische Staat, der nun sagt, ich zahle die Schulden, die ich bei den Ausländern habe, nicht zurück, sondern zunächst mal sind es eigentlich die privaten Kreditinstitute, die da im Obligo waren.

Timm: Staatsbankrott ist immer so ein Schreckgespenst, das, ja, von einigen auch beschrieben wird, wenn die Schulden überhand nehmen. Aber gibt es den Staatsbankrott in globalen Zeiten wirklich, könnte es ihn geben? Denn am Beispiel Griechenlands wird doch auch klar: Es gibt immer einen, der einen rettet, einfach weil die Interessen so miteinander verflochten sind, dass das schlicht nötig ist?

Konrad: Also Staatsbankrott klingt ja immer fürchterlich dramatisch und in Wahrheit geht es eigentlich nur darum, dass der Staat beschließt oder feststellt, dass er die Verpflichtungen, die er eingegangen ist, nicht erfüllen kann, insbesondere die Kreditverpflichtungen, also die Schulden kann er nicht zurückzahlen oder will er nicht zurückzahlen. Wenn er das tut, dann nennt man das, diese Situation, auch Staatsbankrott. Sogar in diesem Jahrhundert, das ja noch nicht so alt ist, hat es einige Staatsbankrotte gegeben, nicht typischerweise in den Eurostaaten, ja, und jetzt müssen wir uns eben mit dem Gedanken anfreunden, dass es so was auch innerhalb der Eurozone geben kann.

Timm: Aber wie würde man einen Staatsbankrott innerhalb der Eurozone abwickeln?

Konrad: Nehmen wir mal das Beispiel Griechenland, das war ja nun kurz davor, da hätte eben Griechenland gesagt: Liebe Gläubiger, wir können oder wollen unsere Schulden nicht zurückzahlen. Dann hätte es im Prinzip eine Verhandlung zwischen den Gläubigern und dem Schuldner geben müssen, und die hätten an einen Tisch kommen müssen und hätten verhandeln müssen. Und dann wäre eben rausgekommen, wie viel Prozent der Staatsschulden Griechenland bereit gewesen wäre, zu zahlen oder nicht, und dann wäre, wie Sie vorhin gesagt haben, der Zähler wieder auf Null gestanden.

Timm: Aber zurück zu dem Staatsbankrott in globalen Zeiten: Gerade beim Beispiel Griechenland hätten so viele Staaten mit dringehangen – das konnte sich doch niemand leisten!

Konrad: Das ist in der Tat ein Problem, dass der Bankrott oder der Zahlungsausfall, die Insolvenz eines Staats von der Größe Griechenlands eine Verwerfung auf den internationalen Finanzmärkten herbeiführt. Das war wohl auch einer der Gründe, weshalb die europäischen Staatenlenker dann gesagt haben: Nein, wir retten Griechenland. Aber im Grunde ist das keine zwingende Notwendigkeit, sondern es ist eigentlich ein Systemfehler. Eigentlich sollte ein Staat und die Personen, die in dem Staat leben, sollte eigentlich für die Schulden, die er macht, zur Rechenschaft gezogen werden und dafür selbst verantwortlich sein.

Timm: Und was machen wir jetzt in Deutschland mit unseren 1700 Milliarden, von denen wir ja realistisch nicht mehr runterkommen?

Konrad: Ja, ich würde mal sagen: Wir sollten hoffen und versuchen, dass es nicht noch mehr wird, das ist die eigentliche Problematik. Also wenn es dabei heute bleiben würde, wir würden es einfach einfrieren bei diesem Stand, dann würde sich dieser Schuldenbestand im Verhältnis zu der Wertschöpfung, die wir in Deutschland haben, einfach über die Zeit, der würde zu einer vernachlässigbar kleinen Größe werden. Also diese Schulden würden uns nicht mehr drücken in zehn Jahren, wenn wir sie einfrieren könnten, aber davon sind wir weit entfernt.

Timm: Kai Konrad, Direktor am Max-Planck-Institut für Wettbewerbs- und Steuerrecht, hat ein Buch vorgelegt, "Schulden ohne Sühne?", das dem Laien die Zusammenhänge von Schulden und Finanzkrisen erklären möchte, und während wir hier zehn Minuten geredet haben, sind in Deutschland zwei Millionen an Schulden hinzugekommen, sagt die Website des Bundes der Steuerzahler. Da tickt die Uhr. Vielen Dank fürs Gespräch!

Konrad: Ja, vielen Dank!
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