Die Schuld abtragen

Rezensiert von Richard Szklorz · 20.02.2011
In seinen Erinnerungen verführt Pavel Kohout den Leser dazu, ihn als in den Nachkriegsjahren irrenden jungen Mann mit dem altersmilden Blick des Autors von heute zu betrachten. Ein schlauer Bericht über sein lebenslanges Bemühen, die eigene Schuld abzutragen
Die Wiener sind im Grunde nichts anderes als deutsch sprechende Tschechen, in vielem ähneln sie besonders den Pragern, auch in ihrer Hinterhältigkeit und Gemeinheit. Was sich bei Pavel Kohout zunächst wie Ablehnung anhört, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Ausdruck eines überraschten Vertrautheitsgefühls. Ein "hier ist es nicht so viel anders als da, wo ich herkomme". Ein Wiedererkennen der durch Kriege und den Eisernen Vorhang überlagerten kulturellen Gemeinsamkeit von Ländern, die einst auf den Trümmern des Habsburger – Reichs entstanden waren! Für Kohout der Trost des Emigranten!

Das Leben des Schriftstellers und Dramatikers Pavel Kohout war das eines Draufgängers, eines Erfolgsmenschen, den ein Glücksstern zu begleiten schien bei allem, was er anpackte. Schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit war es nicht anders, als er sich nach der Machtergreifung durch die Kommunistische Partei, im Februar 1948, mit jugendlicher Tatkraft in den Dienst der stalinistischen Diktatur stellte. Der ehrgeizige, begabte und von der Idee des Kommunismus beseelte junge Mann, verfügte über den richtigen Ton, mit dem sich die "neue Zeit" gerne besingen ließ.

Die Rechenschaft, die Kohout über sein Leben ablegt, ist eine stilistisch dezent formulierte. Konsequent spricht er von sich in dritter Person Singular. Das erlaubt ihm, Abstand zu halten, was besonders an den heiklen Stellen wie eine Abspaltung von sich selbst wirkt. So erweisen sich Kohouts Memoiren als ein schlaues Werk, da sie den Leser dazu verführen, den in den Nachkriegsjahren irrenden jungen Mann mit dem altersmilden Blick des Autors von heute zu betrachten.

Es muss die pure Scham gewesen sein, die Kohout zu dieser Distanz wahrenden Form greifen ließ, denn sein von Idealismus getragener Eifer erschöpfte sich keineswegs im Besingen der lichten Zukunft des Kommunismus. Seine Jugendsünden waren gravierender: Zum Oeuvre des Autors gehören auch Hassgesänge und öffentliche, literarisch verbrämte Denunziationen mit Namensnennung von Personen, die nach spektakulären Schauprozessen auf dem Galgen endeten. Nach Belegen für solche "Ausrutscher" muss der Leser freilich anderswo suchen.

Er gesteht seine Schuld und doch relativiert er auch mit dem Verweis darauf, einer von vielen gewesen zu sein – wie immer in 3. Person Singular:

"Man sollte ihn gerechterweise als einen Teil der das Ganze repräsentiert begreifen. Standen doch fast alle tschechischen Dichter bei der Totenfeier für Stalin im Prager Schriftstellerklub auf dem Gang Schlange, bevor sie das Podium besteigen konnten, um ihr Klagelied anzustimmen."

Der Kommunismus sowjetischer Prägung hatte im Unterschied zu den ostmitteleuropäischen Nachbarländern, die nach dem 2. Weltkrieg ebenfalls dem sowjetischen Machtbereich zugefallen waren, in Tschechien eine bedeutende Massenbasis, auch unter den Intellektuellen. Eine Mischung aus panslawisch angehauchter Russophilie und Illusionen über den wahren Charakter der Sowjetunion waren bereits in der ersten tschechoslowakischen Vorkriegsrepublik der günstige Mutterboden, auf dem diese Haltung gedeihen konnte.

Doch war es die Erfahrung der Naziherrschaft, die sie entscheidend begünstigte. In den Augen vieler Tschechen war Stalin eben Symbol der Befreiung. Auch für Kohout, dessen Familie ganz konkret bedroht war.

"Mein Leben mit Stalin dauerte deshalb länger, weil mich gerade seine Rote Armee vor dem mörderischen Hitler rettete. Um so schwerer war es dann für mich, in ihm einen anderen Hitler zu entdecken."

Bei Zeitzeugen ruft die Durchhaltepoesie von damals noch heute einen schalen Beigeschmack hervor. Die neue Ordnung brauchte Menschen mit Vorbildfunktion, um den Terror zu verschleiern, vielleicht auch um sich selbst zu betrügen – Menschen wie Kohout und noch mehr die positiven Helden seiner Stücke. Selbstkritisch reflektiert Kohout seine Rolle:

"Sein einstiger Weg zum Stern des Kommunismus der zu einem Kreuzweg wurde, (war) gesäumt von zahllosen zu Tode Gemarterten.... Am meisten warf er sich vor, dass er und ihm Ähnliche eine weitere Generation Bewunderer der Sowjetunion irregeleitet hatte, ... als sie die kritischen Stimmen ... anzweifelten und später die eigenen wachsenden Zweifel für sich behielten, das alles in der Angst, diese würden die Hoffnung gefährden, die ihr ganzes Leben inspiriert hatte."

Mit Namen wie Ivan Klíma, Jiří Šotola, Ludvík Vaculík, die er – ähnlich wie sich selbst – als "vorübergehende Bazillenträger der Liaison" mit dem Stalinismus erklärt, werden die wichtigsten Vertreter der jungen literarischen Nachkriegsgeneration genannt, die das tschechische kulturelle Leben nachhaltig prägten. Kohouts Mitstreiter.

Derselbe Idealismus, der sie zu glühenden Stalinisten machte, ließ sie nur wenige Jahre später und somit den weit größeren Teil ihres Lebens, nach und nach zu Kritikern des Systems werden. Das Buch ist daher auch ein Bericht über ein lebenslanges Bemühen, die eigene Schuld abzutragen.

Kohout kannte alle seine politischen Gefährten persönlich, häufig in eng freundschaftlicher Verbundenheit, auch Václav Havel, der allerdings nie Kommunist war. Sein Buch ist somit auch ein Nachschlagwerk zu "who is who" in der Literatur der Tschechoslowakei jener Zeit. Viele Passagen enthalten ungewöhnliche, mit allen Finessen tschechischer Ironie geschmückte Schilderungen darüber, wie man unter schwierigen Bedingungen der Diktatur meistens doch ehrenvoll bestehen konnte.

Seine Berichte über Menschen, die er im westlichen Exil traf, von Senta Berger bis Maximilian Schell, vermitteln die Stimmung der späten 70er- und 80er-Jahre. Zu ihr gehörte auch der Umgang der westdeutschen linken Schickeria mit Ost-Dissidenten, die sie misstrauisch, abfällig oft feindselig behandelte. Es fehlte dabei auch nicht Claus Peymann, der wegen einer Kohout-Inszenierung intervenierte:

"(Er empfahl) aus der Aufführung des Stückes 'Maria kämpft mit den Engeln' auszusteigen, denn dieses sei reaktionär. Das Drama schilderte das Schickals einer großen tschechischen Schauspielerin, die wegen ihres echt sozialistischen Engagements seit siebzehn Jahren die Bühne nicht betreten darf."
Auch im Westen blieben ihm ideologische Schaukämpfe, die er hinter sich gelassen zu haben glaubte, nicht erspart. Sie führten bis zu Boykottaufrufen gegen seine Stücke aus DKP – nahen Kreisen oder durch links verbohrte Angehörige der 68er-Generation. Denn:

"Die glauben ein 'real existierender Sozialismus' sei besser als gar keiner und dass seine Gegner aus den Reihen der Dissidenten und Emigranten den Ideologen des Kalten Krieges (dienten)."

Die Samtene Revolution im Spätherbst 1989 bedeutete für Kohout nur eine halbe Rückkehr in sein Heimatland. In dem nun freien Prag wurde er recht kühl empfangen, manchmal ostentativ ignoriert. Diese Kränkung verfehlte nicht ihre Wirkung. Doch bald folgte ein Sich–Aufbäumen, eine Haltung, die man als eine typische Kohoutsche bezeichnen könnte, die schon immer in einer Niederlage die Chance für einen Neubeginn erkannte: Kohout, der bis dahin als der Homo politicus unter den tschechischen Schriftstellern galt, schwor sich von da an, der Politik für immer zu entsagen und sich nur noch der Kunst zu widmen.

Diese selbst auferlegte Einschränkung hielt er konsequent durch. Ein wenig politisch aktiv wurde er in den späten 90er-Jahren dann doch, wenn auch nur theaterpolitisch, als er ein alljährlich stattfindendes Festival des deutschsprachigen Theaters in der böhmischen Hauptstadt ins Leben rief. Damit erfüllte er sich einen großen Wunsch, die deutsche Sprache wieder in die Stadt zurückzubringen, in der sie seit Jahrhunderten zu Hause war.

Heute versteht sich der halb in Wien und halb in Böhmen lebende Pavel Kohout nicht mehr als ausschließlich tschechischer Autor, sondern als ein österreichisch–tschechischer. Seine meisterhafte Schilderung dessen, wovon viele reden, was aber nur wenige wirklich verstehen, nämlich des "Wiener Schmähs" anhand einer erlebten Situation, qualifiziert ihn dazu, weit mehr als nur für einen Wiener ehrenhalber gehalten zu werden.

Kohout lernte Wien lieben. Das Exil brachte ihm nicht nur Verlust, sondern einen Zuwachs an Vielschichtigkeit seiner Identität. Mehr noch. Man wird nicht das Gefühl los, dass die zweite Heimat dem Autor eine besondere Leichtigkeit des Inkognito–Seins schenkte. Ein wichtiger Trost! Denn so nah Wien auch sein mag, ist es immer noch weit genug, um die Schatten der düsteren Vergangenheit verschwimmen zu lassen, vor denen der liebenswürdige Prager immer noch auf der Flucht ist.

Pavel Kohout: Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel
Osburg Verlag, Berlin 2010
Cover: "Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel" von Pavel Kohout
Cover: "Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel" von Pavel Kohout© Osburg Verlag
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