Die Schriftstellerin Marlen Haushofer

Wütend, visionär, verkannt

Marlen Haushofer, Schwarz-weiß-Fotografie von 1962.
Existentielle Einsamkeit: Marlen Haushofer 1962. © picture alliance / dpa / imagno
Von Elke Pressler · 16.10.2021
Marlen Haushofer erwies sich mit ihrem Roman „Die Wand“ als brillante Analystin einer (Welt-)Gesellschaft, die bis heute ihr zerstörerisches Tun nicht begreift. Trotz aller Weitsicht gelang es ihr selbst nicht, ein unabhängiges Leben zu führen.

"Mach Dir keine Sorgen. Du hast zuviel und zu wenig gesehen, wie alle Menschen vor Dir. Du hast zuviel geweint, vielleicht auch zu wenig, wie alle Menschen vor Dir. Vielleicht hast Du zuviel geliebt und gehaßt - aber nur wenige Jahre - zwanzig oder so. Was sind schon zwanzig Jahre? Dann war ein Teil von Dir tot, genau wie bei allen Menschen, die nicht mehr lieben oder hassen können." Aus: "Für eine vergessliche Zwillingsschwester"

Marlen Haushofer - sie lebt ein kurzes Leben.
Ein rätselhaftes, widersprüchliches Leben.
Ein komplexeres, tiefgründigeres, als es scheint!
Ein zerrissenes, verpasstes, ein reduziertes, ungelebtes Leben.
Ein angepasstes, ein ordentliches, ein verdrängtes Leben.
Ein vergessenes Leben, ein Traum-Leben, ein tragisches Leben.
Ein falsches Leben im richtigen?
Dass die österreichische Außenseiter-Schriftstellerin, die so gern dazugehören und anerkannt werden wollte, außer ihrem Klassiker "Die Wand" noch einiges mehr zu bieten hat, ist kaum bekannt. Fragwürdige Rollenzuschreibungen und existenzielles "Social Distancing" bis hin zu sozialer Isolation sind Themen von ihr.

Gallig-entlarvende Texte

Dem Rausch des Vergessens nach dem Nationalsozialismus, besonders beliebt in Österreich, setzte sie gallig-entlarvende Texte entgegen, und ihre Beschwörung des Alleinseins entfaltete sie in einer Sprache, die einfach, fast einfältig scheint, deren Sog sich aber unentrinnbar - wie ein Naturereignis - entfaltet.
Das kurze Leben der Marlen Haushofer beginnt ländlich-idyllisch am 11. April 1920 im oberösterreichischen Frauenstein als Tochter eines Revierförsters. Das Forsthaus im dunklen, waldreichen Effertsbachtal am Fuße des Sengsengebirges in 500 Metern Höhe wird für Maria Helene Frauendorfer der Mittelpunkt der Glückseligkeit.
"Marlen fiel nicht nur als Förstertochter unter den Bauern- und Handwerkerkindern in der Schule auf, sondern auch wegen ihrer überdurchschnittlichen Begabung. Sie war eine Einser-Schülerin. Aber sie war auch rätselhaft. In der Klasse galt sie als Wildfang, bald lustig und zu jedem 'Wirbel' aufgelegt, bald reserviert gegenüber den Mitschülern. Sie wirkte oft melancholisch, ihr verträumter Blick erweckte den Eindruck, sie sei nie 'ganz da'", so Haushofers Biografin Daniela Strigl.
Ihre intellektuelle Überdurchschnittlichkeit, ihre filmreife, überbordende, häufig aggressive Phantasie, ihre scharfe Beobachtungsgabe, ihre seismographische Empfindsamkeit, auch ihre subtilen Ängste, die sie in eine ganz einsame Welt, an einen gefährlich klaffenden Abgrund zu treiben drohen, all das macht sie zu etwas ganz Besonderem – das die spätere stille Frau Haushofer vor ihrer Umgebung mit betont bescheidenem Auftreten lebenslang zu kaschieren weiß.

"Alle meine Romanfiguren sind Abspaltungen von mir"

Der Eintritt ins Internat im Herbst 1930 ist die große Zäsur ihrer Kindheit. Der Übergang von der vollkommenen Freiheit im und rund um das Elternhaus zum Klosterleben führt zu schwersten Depressionen. Die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit ist nicht in erster Linie ein physischer Vorgang: Für Marlen bedeutete sie den Verlust der existenziellen Intensität, der Lebendigkeit.
1939, mit 19 Jahren, legte sie ihre Reifeprüfung ab, ein Jahr nach dem "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland. Anschließend wurde sie von den Nationalsozialisten als "Arbeitsmaid" nach Ostpreußen verpflichtet. 1940 begann sie in Wien das Studium der Germanistik und Kunstgeschichte, einschließlich Vorlesungen in Geschichte, Philosophie und Psychologie.
Voraussetzung für ein Studium war die Mitgliedschaft beim NSD, dem Studentenbund der NSDAP, der Sportveranstaltungen, Schulungen und Erntehilfseinsätze organisierte. Marlen Haushofer war Mitglied und erfüllte die sogenannte "körperliche Grundausbildung" bei einem Sanitätsdienst; vom Einsatz bei der Erntehilfe 1940 wurde sie befreit.
1941 bekam sie ein uneheliches Kind - von einem Medizinstudenten, dem sie in Ostpreußen begegnet war; einen Jungen, den sie für sechs Jahre in fremde Hände gab. Ein Trauma und das Ende ihrer Jugend.

Hochzeit mit dem Zahnarzt Manfred Haushofer

1941, gleich nach der Geburt, heiratete sie den angehenden Zahnarzt Manfred Haushofer, den sie in der Straßenbahn kennengelernt hatte, bekam 1943 den zweiten Sohn und lebte seit 1947 mit Mann und den beiden Kindern im oberösterreichischen Städtchen Steyr.
Marlen sucht 1948 Anschluss an die literarische Szene in Wien. Sie nimmt Kontakt mit zwei Förderern junger, literarischer Talente auf, Hermann Hakel der eine, Hans Weigel der andere, die beide erste Texte von ihr in Zeitungen unterbringen.
Über ihren ersten Roman schreibt Weigel später: "Er war großartig geschrieben, er war lebendig, plastisch, er hatte alles, was ein Roman haben soll. Aber er erzählte, daß irgendwo einige Frauen sind und (sie) es auf sorgsam ausgeklügelte Manier schließlich dazu bringen, daß ein Mann von ihnen umgebracht wird, ohne daß sie als Täterinnen belastet sind. Ende des Romans. Der klassische ungesühnte Mord." Hakel charakterisiert sie so: "Marlene H: Försterstochter. Hohe Stirn. Große Traumaugen. 2 Kinder. Ländlicher Dialekt. Schüchtern und verhalten, aber innerlich einheitlich und fest."
Eine nahezu "jämmerliche" Situation hat sich einige Jahre zuvor im Familien-Leben von Marlen Haushofer eingestellt. Marlen, die mittlerweile als Assistentin in der Zahnarztpraxis ihres Mannes mitarbeitet, kann seine stadtbekannten Seitensprünge nicht mehr ertragen, und nach gut achteinhalb Jahren Ehe wird sie im Juni 1950 schuldlos von Manfred Haushofer geschieden.
Im Still aus "Wir töten Stella" stehen Mala Emde, Martina Gedeck (mittig) und Matthias Brandt mit ernsten Blicken vor einer Haustür.
In der Erzählung "Wir töten Stella", verfilmt von Julian Pölsler, versucht eine Frau die Fassade einer bürgerlichen Familie trotz der Affären ihres Mannes aufrecht zu erhalten. Im Bild: Mala Emde, Martina Gedeck und Matthias Brandt.© Picture Tree International / AV-Visionen
In ihrem Leben änderte sich dennoch wenig. Weder zog ihr Mann, wie ursprünglich von ihr verlangt, aus der gemeinsamen Wohnung aus, noch suchte sie sich mit ihren Kindern eine neue Bleibe.
Ihr Bruder Rudolf versuchte sie zu überreden, nach Wien überzusiedeln und dort neu anzufangen. Marlen stimmte prinzipiell zu, schob aber den Auszugstermin immer weiter vor sich her, bis der "Aufbruch zu neuen Ufern" endgültig im alltäglichen "Weiterwursteln" versandete.
Nach wie vor glaubte sie wohl, ihrem Ex-Mann Rücksichtnahme und Unterstützung bei seinem beruflichen Fortkommen zu schulden. Also versorgte sie weiterhin den gemeinsamen Haushalt und betreute die Kinder, als sei nichts geschehen, half weiterhin, selbstverständlich ohne Entgelt, in der Praxis ihres geschiedenen Mannes mit.

Niemand erfährt von der Scheidung

Niemand in Steyr erfuhr von dem Geheimnis der beiden, sie lebten ja munter weiter – Zimmer an Zimmer - zusammen. Auch in Marlens Wiener Bekanntenkreis sickerte die Geschichte von der Scheidung erst Jahre später durch.
Sie hat bisher neben "Wir töten Stella" auch vier Hörspiele, zahlreiche Erzählungen und zwei weitere Romane vorgelegt, "Eine Handvoll Leben" (1955) und "Die Tapetentür" (1957), die beide das Thema des nicht gelebten Lebens variieren, eingebettet in schneidende Gesellschaftskritik: das Fremdheitsgefühl in der bürgerlichen Familie, das kräfteraubende Doppelleben einer Frau, die einfach "aussteigt", deren Flucht glückt, die aber trotzdem nicht glücklich wird.
"Nein, sie schreibt keine feministische Emanzipationsliteratur, sie schreibt über ein Leben, ich nenne es: ein Leben 'in Abwesenheit'. Sie beschreibt den Wahnsinn der Normalität, jener Normalität, die wir so selbstverständlich hinnehmen – hinnahmen, ganz besonders meine Generation. Aber in Bruchteilen von Sekunden blitzt auch in uns Harmoniebedürftigen der Abgrund auf, und deshalb sind wir so betroffen", schreibt M. Krisper, Zeitgenossin und Essayistin in Steyr.
Im Still aus "Die Wand" sitzt Martina Gedeck mit einem Hund auf einem Baumstumpf und schaut in die Gebirgslandschaft.
2011 adaptierte der österreichische Regisseur Julian Roman Pölsler "Die Wand" für das Kino, mit Martina Gedeck in der Hauptrolle.© picture alliance / Everett Collection / Music Box Films
Haushofers Schlüsselwerk "Die Wand" ist für Krisper "die radikalste Abwesenheitsgeschichte, die ich kenne - um in meinem Deutungsbild zu bleiben. Zum ersten Mal beschreibt Marlen Haushofer eine aktive, eine vitale Protagonistin, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Und dieses Mal hat sie offenbar auch nicht den Drang, den Text zu verbrennen; im Gegenteil."
Man kann den Roman lesen als die Geschichte einer Entfremdung; eine Parabel der existenziellen Einsamkeit. Oder als Parabel auf eine Atomkatastrophe, denn: Jenseits der Wand sind Menschen und Tiere erstarrt, versteinert, tot. Nur die Pflanzen leben noch. So richtet sich die Bestrebung der Erzählerin nicht darauf, die Wand zu durchbrechen, zu untergraben oder zu übersteigen. Sie ist die wohl einzige Überlebende - zur kältesten Zeit des Kalten Krieges anno 1960.

Zwischen Selbstzerstörung und Überlebenswillen

Man kann "Die Wand" aber auch lesen als Zeugnis einer schweren Depression. Oder als philosophisches Traktat über die Bedingungen der conditio humana unter Quarantäne-Bedingungen. Als eine Art von Experimental-Labor-Situation, ein Kammerspiel über die letzten Dinge, oder auch: als sozialdarwinistisches Heldenepos über eine heroische Einzelkämpferin ohne jegliche stress-puffernde, menschliche Nähe.
Doch am ehesten trifft wohl die Deutung des Romans als hellsichtige Zivilisationskritik zu, als eine moderne Dystopie, als katastrophales Untergangsszenario, als die Behauptung weiblicher Stärke und Autonomie in Demut und enger Verbindung mit der Natur.
Marlen Haushofer mag ein Rätsel bleiben. Ihr Klassiker "Die Wand" ist Zeugnis einer individuellen, ambivalenten Lebenssituation zwischen Depression und gesteigertem Lebensgefühl, zwischen Selbstzerstörung und Überlebenswillen – es ist aber vor allem eine genial umgesetzte Vorahnung einer Welt, der zwischen Klimakatastrophe und pandemisch beschleunigten sozialen Ungleichheiten womöglich die Zukunft abhandenkommt.
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