Die Schnittstelle zwischen Traum und Wirklichkeit

07.02.2013
Antonio Tabucchi berichtet von merkwürdigen Begegnungen, Träumen, Lektüren, Reisen und Lesern, die sich in seinen Figuren wiedererkennen. Fast absichtslos entwickelt sich der Band des im vergangenen Jahr verstorbenen italienischen Schriftstellers zu einer eleganten, kleinen Poetik.
Antonio Tabucchi besaß ein schreibendes Verhältnis zur Welt. Vieles, was ihm tagsüber in der normalen Wirklichkeit passierte, gewann fantastische Züge und mauserte sich auf irgendeine Weise zu einem Roman.

Umgekehrt gingen seine Erzählungen in der ganz alltäglichen Welt weiter. Da wäre zum Beispiel die Geschichte mit dem Foto. Er erzählt sie in dem gerade erschienenen Band "Die Autobiografien der anderen." Das Buch berichtet von merkwürdigen Begegnungen, Träumen, Lektüren, Reisen und Lesern, die sich in seinen Figuren wiedererkennen. Fast absichtslos entwickelt sich der Band zu einer eleganten, kleinen Poetik.

Die Fotogeschichte dreht sich um ein Bild, das auch für den Einband der deutschen Ausgabe von Tabucchis Briefroman "Es wird immer später" (2002) verwendet wurde und hier noch einmal abgedruckt ist: Ein fein gekleideter Herr umschlingt eine Dame mit Hut, die nur von hinten zu sehen ist und mit der Hand ihre Kopfbedeckung festhält. Tabucchi erwarb das Foto Ende der 80er-Jahre an einem Pariser Bücherstand, trug es jahrelang mit sich herum und fragte immer wieder Freunde, wie sie die Haltung des Paares interpretieren würden, denn die eigentümlich ineinander verklammerten Körper schienen einen Anflug von heftiger Leidenschaft auszudrücken. Auf der Bildrückseite war der Name des Fotografen, der Kuligowski lautete, verzeichnet.

Als ihn sein italienischer Verleger um eine Anregung für den Umschlag von Es wird immer später bat, schlug Antonio Tabucchi dieses Bild vor, das auch für die französische Ausgabe übernommen wurde. Nach der Buchvorstellung in Paris ließ sich ein Herr eine Widmung hinein schreiben. Wie er denn heiße, wollte der Schriftsteller wissen. Kuligowski, lautete die Antwort. "Wie der Fotograf?" "Ich bin der Fotograf", schildert Tabucchi das geheimnisvolle Aufeinandertreffen. Noch bevor der freundliche Herr auf Nimmerwiedersehen verschwand, konnte Tabucchi ihn fragen, wie das Foto entstanden war. Es sei eine remariage gewesen, die Eheschließung eines schon einmal miteinander verheirateten Paares.

Doch einige Monate später entdeckte ein Freund Tabucchis in einer Stockholmer Privatgalerie ein Gemälde von Munch mit demselben Motiv. Hatte sich der Pariser Fotograf von Munch inspirieren lassen? War sein Foto die Nachbildung eines Gemäldes, war es echt oder war es gestellt? Was ist authentisch und wie verhält es sich mit dem Wahrhaftigen in der Kunst? Typisch tabucchianische Fragen. Das Dasein birgt für seine Helden immer einen rätselhaften Kern, die Linearität der Zeit entpuppt sich als pure Konstruktion und das Imaginäre ist oft wahrhaftiger als alles Wahrnehmbare.

Den italienischen Schriftsteller, der 1943 im toskanischen Vecchiano bei Pisa geboren wurde, Professor für Portugiesische Literatur war und im vergangenen Frühjahr in Lissabon starb, machte diese Haltung empfänglich für das, was in seinen über dreißig Romanen, Erzählbänden und Essays im Mittelpunkt stand und auch den Kern des neuen Bandes ausmacht: Die Schnittstelle zwischen Leben und Literatur, Traum und Wirklichkeit. Für Tabucchi ist sie unerschöpflich.

Besprochen von Maike Albath

Antonio Tabucchi: "Die Autobiographien der anderen. Über die Bücher und das Leben"
Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Fleischanderl
Hanser Verlag, München 2013
133 Seiten, 15,90 Euro
Mehr zum Thema