Die richtige Erziehung

Von Peter Kujath · 22.08.2013
In Japan klagt die ältere Generation über mangelnde Umgangsformen der Jüngeren. Eine Schule am Stadtrand von Tokio setzt dem Unterricht in japanischer Etikette entgegen. Dazu gehört das korrekte Betreten eines Zimmers ebenso wie die Darreichung von Tee.
Es ist ein Schulkomplex, wie er überall in Japan zu finden ist. Viel Beton, mehrere Gebäude mit langen Gängen und große Hallen. Im Eingangsbereich müssen die Mädchen der Seitoku-Schule ihre Schuhe wechseln. Auch das ist normal.

Höflich wird der Lehrer begrüßt, eine kurze Verbeugung durchgeführt, bei der die Füße vor der Schwelle akkurat zusammenstehen, ehe diese etwa 17-jährigen Frauen einen für eine moderne Schule eher ungewöhnlichen Raum betreten.

"Dieses Zimmer dient dazu, dass die Schülerinnen ihr Gemüt in einen ruhigen Zustand versetzen. Auch die Schuhe werden hier noch einmal gewechselt. Es ist quasi der Vorbereitungsraum."

Erklärt Hiruyuki Matsumoto, der für japanische Etikette zuständig ist. Er unterrichtet alle Altersstufen in wa, was übersetzt so viel wie japanische Tradition und Einstellung bedeutet. In der Mitte des Vorbereitungsraums fließt Wasser, Bänke stehen an den Wänden. Die Mädchen begeben sich aber schnell in die angrenzenden Zimmer, die ausgelegt sind mit Tatami, den japanischen Reisstrohmatten, sowie Schiebetüren und eine Schmuckecke, tokonoma genannt, enthalten.

Auch das Öffnen einer Papiertür will gelernt sein. (Bild: Peter Kujath)


Hiruyuki Matsumoto erklärt, wie die Schiebetüren geöffnet, in kleinen Schritten mit klar vorgegebenen Fußbewegungen der Raum durchmessen und vor der Tokonoma niedergekniet wird.

"Was ich den Kindern vor allem beibringen will, ist nicht die Form. Die ist zwar auch wichtig, aber es geht um das Herz, um die Einstellung. Unabhängig davon wie sich die Lebensumstände ändern – es gibt ja in Japan immer weniger Tatami, aber ganz verschwinden diese japanischen Zimmer ebenso wenig wie der Kimono – unabhängig davon ist bei der Lehre von Ogasawara die Rücksichtnahme auf andere entscheidend. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Position derjenige zu einem steht. Es geht darum, jedem rücksichtsvoll und mit offenem Herzen zu begegnen. Das drückt sich auch in der Schönheit der Bewegungen aus. Und das will ich den Kindern beibringen."

Die Ogasawara-Lehre geht auf das 13. Jahrhundert zurück, als Sadamune Ogasawara im Auftrag des Shoguns Verhaltensregeln aufstellte, die auch vom Zen-Buddhismus beeinflusst waren. Die Seitoku Mädchenschule ist die einzige Schule in Japan, an der diese Lehre noch Pflichtfach ist.

"Einmal in der Woche für eine Stunde müssen die Mädchen lernen, sich ordentlich zu verbeugen, Tee zuzubereiten und dank der korrekten Form dem Gegenüber aufrichtige Beachtung zu schenken. Natürlich werden an der Seitoku-Schule auch alle anderen Fächer gelernt. Wer die Mädchen fragt, warum sie das machen, erhält als Antwort:
Es ist interessant, diese neuen Sachen zu lernen. Und diese 14-Jährige beschreibt, dass sie schon immer ein großes Interesse an Geschichte hatte."

Die Mädchen verbeugen sich, bevor sie den Esssaal betreten. (Bild: Peter Kujath)


Die Seitoku ist zwar eine Mädchenschule, aber Hiruyuki Matsumoto unterrichtet in seiner Freizeit auch an gemischten Schulen japanische Etikette.

"Die Ogasawara-Lehre war ja eigentlich für die Samurai gedacht, also können all auch die Jungs diese Dinge lernen. In unserer Eltern-AG zur japanischen Etikette sind von den 60 Teilnehmerinnen immerhin 10 Väter."

Auch das ist typisch für alle japanischen Schulen. Außerhalb des Unterrichts finden sogenannte Eltern-AGs statt, wo jeweils ein Elternteil mit anderen einer bestimmten Beschäftigung nachgeht: sei es Golf, Kochen oder Stricken. Seit 30 Jahren hat an der Seitoku-Schule die Höflichkeits-AG die meisten Mitglieder. Allerdings achten die Eltern, so die Erfahrung des etwa 60-jährigen Lehrers, kaum noch auf Kleinigkeiten und denken auch nicht mit. Die Erziehung wird ganz den Schulen überlassen.

"Die Erwachsenen, die mit den Kindern direkt nichts zu tun hatten, haben früher trotzdem die Kinder bei Fehlverhalten gemaßregelt und ihnen die Grenzen aufgezeigt, wenn es nötig war. Die Gesellschaft hat gemeinsam die Kinder erzogen. Aber diese Haltung gibt es heute in Japan nicht mehr. Die Erwachsenen sagen nichts mehr und die Kinder denken deshalb, dass das, was sie machen, schon in Ordnung ist. Meiner Meinung nach geht das nicht. Wir müssen die Kinder wieder gemeinsam erziehen."

Die Atmosphäre an der Seitoku-Mädchenschule ist wider Erwarten ausgelassen und locker. Das gilt selbst für den Unterricht über japanische Etikette.

"So hättest du dich nicht bewegen können, wenn du einen Kimono angehabt hättest, tadelt Matsumoto-sensei, ohne dabei allzu streng zu wirken. Diese Schülerin meint, dass der Unterricht ihr später einmal von Nutzen sein wird, wenn sie an einer großen Feier teilnehmen muss."

Wie in japanischen Schulen üblich wird auch an der Seitoku gemeinsam zu Mittag gegessen. Eine Glocke ruft die knapp 1000 Schülerinnen zur Ordnung, und es erfolgt eine kurze Ansprache, ehe nach einem gemeinsamen Dankeschön der Geräuschpegel schnell wieder das gewohnte Level erreicht.