Die Qualen eines Mitläufers

22.07.2010
Ein junger Wehrmachtssoldat entrinnt für eine Woche den Kriegsgräueln im Russlandfeldzug. Er kämpft beim Fronturlaub in der pfälzischen Provinz mit seinen Erinnerungen. Dem 1970 geborenen Joachim Geil ist ein sensationelles Romandebüt gelungen.
Was, so fragt der Erzähler in der Mitte des Romans, was hat der Zweite Weltkrieg mit uns zu tun. Ist darüber nicht längst alles gesagt? Und was, so fragt man sich zunächst beim Lesen, treibt einen 1970 geborenen Autor dazu, von einem jungen Soldaten im Russlandfeldzug und vom Sommer 1944 in der deutschen Provinz zu erzählen. Denn wenn schon der Krieg ein Thema ist, warum nicht ein gegenwärtiger?

Die Antwort verlegt Joachim Geil ins Innere seiner Hauptfigur, des Jungleutnants Dieter Thomas, der in seiner pfälzischen Heimatstadt eine Woche Urlaub macht. Äußerlich unversehrt - nur eine gerade verheilte Schusswunde erinnert ihn an die Ostfront, der er für sieben Tage entronnen ist - wird er die knappe Zeit genießen, den blauen Himmel, die Mahlzeiten mit den Tanten, das Schwimmbad, vor allem aber Heidi, bei der er schon lange aufs Ganze gehen will.

Der Krieg ist weit weg, die Sonne strahlt, das Provinzidyll scheint perfekt. Nur der streng geschlossene oberste Knopf der Uniform deutet darauf hin, dass Dieter nicht mehr ganz der alte ist, der fröhliche Geselle, den einst alle schätzten. Was er verbergen möchte: Auch tagsüber wird er von Alpträumen heimgesucht, von Erinnerungen an die Gräuel des Krieges, die er erlebt, die er selbst begangen hat.

Joachim Geil rekonstruiert diese Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe von Briefen und Postkarten, die sein Protagonist von der Front nach Hause geschrieben hat. Das ist mehr als der übliche Autorenkniff, mit dem angeblich "Quellen" gefunden werden, um eine erfundene Erzählung zu beglaubigen, um ihr Leben einzuhauchen. Denn diese Karten berichten wie Millionen von Feldpostbriefen über Wetter, Versorgungslage und Gedanken an die Lieben daheim, über das eigentliche Kriegsgeschehen und seine Schrecken steht da - nichts.

In dieses Vakuum legt Joachim Geil, zunächst unmerklich, dann zunehmend irritierender, kleinste Erinnerungssplitter, die den Protagonisten gegen seinen Willen befallen. Schicht um Schicht legt der Autor sie aufeinander, selbst in die Nebensätze wandern sie ein wie eine feindliche Macht, bis deren Gewicht den Helden nahezu unter sich begräbt.

Seine verstörende Eindringlichkeit bezieht der Roman aus dieser Erzählperspektive: Das Geschehen wird in einen andauernden inneren Monolog übersetzt, dessen stockend, mitunter stammelnder Fortgang auch sprachlich grandios die Verdrängungsleistungen nachzeichnet, mit denen der junge Soldat versucht, sich wenigstens im Heimaturlaub die Wirklichkeit des Krieges vom Leibe zu halten. Grandios auch, wie diese beiden Ebenen ineinanderfließen, so dass sie am Ende ununterscheidbar werden.

Joachim Geil entschuldigt nichts. Sein Held ist ein Täter - und Opfer zugleich. Er gibt mit seinem Roman den Millionen von typischen Mitläufern eine Stimme, die als Wehrmachtssoldaten gekämpft und grauenhafte Taten vollbracht haben, über die sie nicht sprechen konnten, weil in der "vaterlosen Gesellschaft" der Nachkriegszeit keiner sie hören wollte. Und er weist weit über den historischen Rahmen hinaus, zeigt er doch, wie einer, der im Krieg gekämpft hat, egal wo, sich in der normalen Welt nicht mehr zurechtfinden wird. Hier trifft es endlich einmal zu: ein sensationelles Debüt, ein großer Roman.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Joachim Geil: Heimaturlaub
Steidl-Verlag, Göttingen 2010
290 Seiten, 19,90 Euro