Die Pest der Besatzung

Von Uli Aumüller · 07.11.2013
Zeit seines Lebens war Albert Camus zwischen der Pariser Intellektuellenszene und dem einfachen Leben in Nordafrika hin und her gerissen. Das spiegelt sich im Schaffen des Schriftstellers wider - und kommt ganz besonders während des algerischen Unabhängigkeitskriegs zum Ausdruck.
Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: "Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll." Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.

Die berühmten ersten Sätze eines der berühmtesten Romane des 20. Jahrhunderts: "Der Fremde" von Albert Camus, geschrieben in einem "Nicht Stil" "am Nullpunkt der Literatur", wie Roland Barthes später feststellte. Der Held, Meursault, dieser Mann ohne Vornamen, ohne Eigenschaften, ohne Gefühle, der zufällig zum Mörder wird und die Absurdität der Existenz erleidet, sollte zu einer Projektionsfläche für Generationen junger Leser in der Sinnkrise werden.

In kürzester Zeit ins Zentrum der Intellektuellenszene aufgestiegen
Als der Debutroman 1942, kurz vor dem "Mythos des Sisyphos", Camus’ philosophischer Auseinandersetzung mit dem Problem des Absurden, und dem Drama "Caligula" im von den Deutschen besetzten Frankreich erschien, stieg der unbekannte junge Autor in kürzester Zeit ins Zentrum der Pariser Intellektuellenszene auf, in den Kreis um Sartre, Simone de Beauvoir, Michel Leiris und Lacan.

Camus ist dort nie richtig heimisch geworden. Zu groß war der Kontrast zu seiner Herkunft und seiner Heimat. Am 7. November 1913 als zweites Kind eines Vorarbeiters auf einem Weingut im Osten Algeriens geboren, wird Camus sich immer nach dem einfachen Leben, nach der Sonne und dem Licht des Mittelmeers zurücksehnen. Sein Vater fiel im Ersten Weltkrieg, als Albert noch kein Jahr alt war. Die Mutter, nahezu taubstumm und Analphabetin, verdiente den Unterhalt der Familie in Algier als Putzfrau, während Albert dank eines Stipendiums die höhere Schule besuchen und studieren konnte.

Plädoyer für eine französisch-algerische Föderation
Seine tiefe Liebe zur Heimat Algerien und zu seiner dort lebenden Mutter bestimmt auch Camus’ spätere Einstellung zum algerischen Unabhängigkeitskrieg, als dort im Namen der Französischen Republik gefoltert und gemordet wurde. Statt wie alle Linken für die Entkolonialisierung, plädierte er für eine Föderation aus Franzosen und Algeriern. Seine Tochter Catherine erinnert sich:

"Ich bin mir sogar sicher, dass Camus das Gefühl hatte, dieses Land mit den Arabern zu teilen, dass er aus derselben Heimat kam. Ab 1936, also schon mit dreiundzwanzig Jahren, hatte er dafür gekämpft, dass die Araber die gleichen Rechte wie die Franzosen haben. Dafür ist er in die Kommunistische Partei eingetreten. Die Kommunistische Partei sagte, das sei nicht so eilig, also ist er wieder ausgetreten."

Alle Romane Camus’, bis auf das Spätwerk "Der Fall", spielen in Algerien, so auch "Die Pest", geprägt von der Haltung eines engagierten Humanismus: Einige tapfere Männer nehmen in der eingeschlossenen Stadt Oran den Kampf gegen die Seuche auf. Die Leser des Jahres 1947 sahen darin eine allegorische Darstellung der Besatzungszeit und des Widerstands gegen den Faschismus. Obwohl im trockenen Stil einer Chronik geschrieben, wurde "Die Pest" ein überwältigender Erfolg. 1957 erhielt der Autor den Nobelpreis für Literatur.

Eine Einheit der Harkas, von den Franzosen rekrutierte Muslime für den Kampf gegen die algerischen Rebellen, marschiert 1957 durch eine Straße in Algier.
Eine Einheit für den Kampf gegen die algerischen Rebellen marschiert 1957 durch Algier.© picture alliance / dpa / AFP
Einsamkeit nimmt Camus zunehmend ein
Trotz seiner ungeheuren Popularität gerät Albert Camus in seinen letzten Lebensjahren zunehmend in die Isolation. Die scharfe öffentliche Kontroverse mit Sartre über den Essay "Der Mensch in der Revolte", worin Camus für einen individualistischen Humanismus eintritt und der Revolution abschwört, führt zum Bruch mit den eher marxistisch gesonnenen Existentialisten.

Camus zieht sich immer öfter in sein südfranzösisches Landhaus zurück, wo er einsam am "Werk seiner Reife" arbeitet: "Der erste Mensch", in dem er unverschlüsselt autobiographisch zu seinen Wurzeln "in der Armut und im Licht" zurückkehrt. Sein ästhetisches Programm lautet:

Sich von jeder Rücksicht auf Kunst und auf Form befreien. Den direkten Zugang ohne Vermittlung, d.h. die Unschuld wiederfinden. Hier die Kunst vergessen heißt sich vergessen. Von sich selbst absehen, nicht aus Tugend. Im Gegenteil seine Hölle annehmen.

Bei einem Autounfall am 4. Januar 1960 stirbt Albert Camus sechsundvierzigjährig einen absurden tragischen Tod: In seiner Tasche findet sich neben dem unvollendeten Roman eine ungenutzte Bahnfahrkarte.
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