"Die Partei muss jetzt mit ihm da durch"

Moderation: Patrick Garber · 25.05.2013
Rudolf Dreßler hält es für einen "Supergau" für die SPD, dass die Wähler der Kanzlerin mehr Sozialkompetenz zutrauen als Peer Steinbrück. Ein Gespräch über miese Umfragewerte, "kapitale Fehler" bei der Agenda 2010 und Bündnisse mit der Linkspartei.
Deutschlandradio Kultur: Heute reden wir Tacheles über die SPD, und zwar mit einem, der diese Partei über viele Jahre mitgeprägt hat, mit Rudolf Dreßler. Von 1987 bis 2000 war Rudolf Dreßler stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag. In den 80er- und 90er-Jahren saß er in Präsidium und Vorstand seiner Partei und war zudem Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD – ein Sozialpolitiker alter Schule also. Guten Tag, Herr Dreßler.

Rudolf Dreßler: Guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Herr Dreßler, Ihre Partei, die SPD, hat gerade ihren 150. Geburtstag gefeiert. Damit ist sie mit Abstand die älteste politische Partei Deutschlands. Alt also, vielleicht auch altehrwürdig - oder eher alt und müde? Welches Attribut passt am besten derzeit zu Ihrer Partei?

Rudolf Dreßler: Also, dass sie müde geworden wäre, kann ich nicht erkennen. Dass sie hin und wieder in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung Dinge gemacht hat, die ihre Stammklientel nicht akzeptiert hat, hat damit überhaupt nichts zu tun. Und dass sie gebraucht wird in Deutschland, gebraucht wurde und wird, konstatiert selbst der politische Kontrahent. Ohne die SPD wäre die Demokratie in Deutschland ärmer, wenn sie überhaupt in dieser Qualität vorhanden wäre. Und mit der SPD ist sie mit Sicherheit besser sortiert als ohne sie.

Wenn ich nur daran denke, Frauenwahlrecht, wenn ich an die Auseinandersetzung denke - bezogen auf die Vergangenheit -, Ermächtigungsgesetz Hitler, wenn ich an den gesellschaftspolitischen Aufbruch denke, der mit der Kanzlerschaft von Willy Brandt begann, dann die Ostpolitik als Vorstufe der Wiedervereinigung – das sind alles Marksteine, die ja selbst der politische Kontrahent auch in dieser Form würdigt und positiv begleitet.

Deutschlandradio Kultur: Und worauf sind Sie als Sozialdemokrat weniger stolz beim Blick in die Parteigeschichte?

Rudolf Dreßler: Also, was die Geschichte betrifft, da sehe ich nicht ein Vorkommnis, was mich jedenfalls frustrieren würde oder frustriert hätte, auch nicht im Nachhinein, von kapitalen Fehlern. Was die jüngere Zeit betrifft, habe ich meine Probleme mit Inhalten der so genannten Agenda 2010, weil ich glaube, dass manches von dem, was dort gemacht wurde, a) nicht durchdacht, b) einem liberalen Zeitgeist geopfert wurde und c) da, wo bekannt war, dass es Korrekturbedarf geben muss, dieser Korrekturbedarf von der SPD nicht entschlossen auf den Weg gebracht wurde. Das ist ein Manko, was letztlich auch zu diesem verheerenden Wahlergebnis 2009 geführt hat.

Deutschlandradio Kultur: Nun hören wir aber angesichts der aktuellen Schulden und der Wirtschaftskrise in Europa immer wieder, es ist doch gut, dass Rot-Grün seinerzeit unter Gerhard Schröder die Hartz-Gesetze überhaupt eingeführt hat, also die notwendigen Grausamkeiten schon begangen hat. Sonst käme Deutschland jetzt nicht so glimpflich durch die Krise. – Das sehen Sie anders, Herr Dreßler?

Rudolf Dreßler: Also, der zweite Teil Ihrer Frage, ohne Grausamkeiten wäre Deutschland nicht durch die Krise gekommen, das sehe ich nicht nur anders, sondern ich glaube, das ist auch widerlegbar. Es geht nicht darum, dass die Kernelemente dessen, was man Agenda 2010 nennt, zu akzeptieren sind, richtig waren. Es geht darum, dass innerhalb dieser Strukturen kapitale Fehler gemacht worden sind, die mit dem Solidaritätsbedürfnis von Sozialdemokraten nur schwer in Einklang zu bringen sind oder überhaupt nicht in Einklang zu bringen sind.

Deutschlandradio Kultur: …als da wären?

Rudolf Dreßler: Ich gebe ein Beispiel, man kann die Litanei fortführen dann: Man hat die Leiharbeit in einem Maße ausgedehnt, dass heute knapp sieben Millionen Menschen negativ davon betroffen sind – mit unglaublichen Folgewirkungen für ihre Lebensbiografie. Also, Menschen, die in Leiharbeit stecken, die sozusagen im Tagesgeschäft rausgeschmissen werden, wieder eingestellt werden, die keine kontinuierliche Rentenbiografie aufbauen können aus diesem Grunde, die Angst haben vor der Zukunft, diese Menschen werden in einer schon jetzt erkennbaren kurzfristigen Zukunft zu den Armutsanwärtern in Deutschland gehören.

Und dieses wird dann logischerweise von der öffentlichen Hand, weil diese Menschen vor den deutschen Rathäusern stehen werden, ihre Rente reicht nicht aus, sie ist unterhalb der Deckung dessen, was wir früher Sozialhilfe nannten, und es muss dann von Seiten des Staates aufgestockt werden, weil es andere Grundsätze in unserem demokratischen Rechtsstaat gibt, die man beachten muss und die man auch nicht durch eine politische Entscheidung wegräumen kann.

Ich nehme ein Beispiel: In Deutschland ist es nicht möglich, dass Politik es zulässt, dass Menschen erfrieren oder verhungern. Wenn Politik diese Menschen kennt, hat sie dafür zu sorgen, dass dieses nicht passiert. Und wenn man sich die ärmlichen Renten, die sich aus diesen Biografien, Erwerbsbiografien herauskristallisieren, vergegenwärtigt, dann hält eine Gesellschaft auf Dauer den Druck, der dadurch dann entsteht, nicht aus.

Und wenn ich das erkenne, dass meine Gesetze zu solchen Fehlentwicklungen führen können oder sogar geführt haben, dann muss ich Korrekturbedarf nicht nur anmelden, sondern Korrekturen auch durchführen.

Deutschlandradio Kultur: Manche Agenda-Politiker der SPD bekleiden ja immer noch wichtige Positionen in der Partei. Einer ist Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Ein anderer ist Kanzlerkandidat. Beide haben, wie Sie kritisieren, diese Punkte nicht geändert. Ist das eine Hypothek für die anstehende Bundestagswahl für die SPD?

Rudolf Dreßler: Aus meiner Sicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Ich bin kein Hellseher, aber das ist meine Einschätzung, dass dieses eine Hypothek ist.

Die SPD lebt in einem Widerspruch, den sie bisher nicht aufgelöst hat. Sie kann nicht auf der einen Seite sagen, es besteht Korrekturbedarf, bei allem Positiven, was die Gesetzgebung ansonsten bewirkt hat, und diesen Korrekturbedarf dann ignorieren, sondern die Partei gleichzeitig auffordern, doch endlich stolz auf das Erreichte zu sein. Diesen Widerspruch muss die SPD auflösen und nicht die CDU/CSU oder FDP. Diesen Widerspruch hat sie aber nicht aufgelöst.

Und weil das so ist, geht sie logischerweise mit einem Konflikt in diese Bundestagswahl. Sie hat die Aufarbeitung dessen, warum sie 23 Prozent erreicht hat im Jahre 2009 bei der letzten Wahl, nicht geleistet. Diese Leistung, die die SPD für sich selbst nicht besorgt hat, die ist logischerweise jetzt 2013 eine Hypothek.



Deutschlandradio Kultur: Über den Kanzlerkandidaten Ihrer Partei, über Peer Steinbrück, ist in den letzten Wochen auch einiges Negative geschrieben und gesagt worden. Vom "Problem-Peer" ist da manchmal die Rede. Andererseits hätte die SPD überhaupt einen besseren Spitzenmann oder eine bessere Spitzenfrau für die Wahl gehabt?

Rudolf Dreßler: Dass Steinbrück nun gewählt worden ist, ist ein Fakt. Da nun in die Vergangenheit zu gehen, bringt überhaupt nichts, weil es nicht revidierbar ist. Die Partei muss jetzt mit ihm da durch.

Und das Problem, was sich dadurch für die SPD ergibt, das ist in den letzten Umfragen nach meiner Auffassung mit einem doch ziemlich harten Prozentwert der Öffentlichkeit mitgeteilt worden. Zum ersten Mal in der Geschichte der zweiten deutschen Republik ist ein Kandidat der SPD für das Kanzleramt im Felde der sozialpolitischen Kompetenz zwei Punkte hinter Frau Merkel, also einer CDU-Bewerberin. Frau Merkel hat 26 Prozent erreicht auf diesem Feld und Steinbrück 24.

Das ist in meinen Augen für die SPD ein Supergau, weil mit der Identifikation im sozialpolitischen Bereich die SPD ihre Wahlerfolge begründet hat und auch nach meiner Auffassung in Zukunft nur begründen kann. Finanzpolitik wird kein Thema sein, das die SPD zum Zielpunkt ihrer Kampagne machen kann, um dadurch Wahlerfolge zu gewinnen. Sie kann das Thema behandeln, muss das Thema behandeln, aber der Kernpunkt ihres Daseins ist die sozialpolitische Kompetenz. Und wenn da die CDU-Bewerberin zwei Punkte vor dem SPD-Bewerber liegt, dann ist für mich jedenfalls Alarm gegeben.

Deutschlandradio Kultur: Bist zum 22. September, bis zum Wahltag kann noch einiges geschehen, aber in den Umfragen, die Sie ja schon angesprochen haben, sieht es zurzeit nicht so aus, als würde es für Rot-Grün, also die Wahlkonstellation der SPD, reichen. In einer Großen Koalition unter Frau Merkel will Peer Steinbrück aber nicht den Vizekanzler geben. Das hat er von Anfang an klargestellt. War das klug, eine Große Koalition auszuschließen? Oder läuft es am Ende dann doch darauf hinaus?

Rudolf Dreßler: Also, in diesem Punkt bin ich mit Steinbrück absolut deckungsgleich. Die SPD darf nicht in eine Große Koalition gehen - nachdem sie 2005 diesen Weg gegangen ist, weil sie zu schwach war, Oppositionspartei sein zu können, also eine bittere Wahlniederlage 2005 bereits, wenn sie dieses nun 2009 auf 23 Prozent gebracht hat, kann sie diesen Weg nicht noch einmal gehen. Dieses ist eine gefährliche Frage, weil das Projekt "Möllemann 18 Prozent" vom anderen Ende her für die SPD dann nach meiner Auffassung in Gefahr stünde, realistisch sein zu können. Deshalb muss sie dieses unter allen Umständen vermeiden.

Ich habe heute mit einer gewissen Genugtuung gelesen, dass der nicht unbekannte Egon Bahr, der nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zum linken Flügel zählt oder als links eingestuft werden kann innerhalb dessen, was man mit politischen Bewertungen formuliert, diese These genauso vertreten hat, wie ich sie vertrete. Das kann die SPD nicht machen. Das darf sie auch nicht machen. Insoweit ist die Entscheidung von Steinbrück absolut konsequent.

Deutschlandradio Kultur: Was nach allen Umfragen mit einiger Sicherheit zumindest rechnerisch für die Regierungsübernahme reichen würde, das wäre Rot-Rot-Grün. Aber die Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke auf Bundesebene, das schließt die SPD ja kategorisch aus. Ist das klug?

Rudolf Dreßler: Sie hat es kategorisch ausgeschlossen. Insoweit ist diese Machtoption weg. Ob das besonders klug war von der SPD, wage ich zu bezweifeln.

Beispiel: Die SPD hat 2009 23 Prozent erreicht. Aber im Gesamtspektrum dessen, was das Wahlergebnis 2009 zeigt, hat die Koalition aus CDU/CSU und FDP nur 2,8 Prozentpunkte mehr als die Opposition insgesamt im Deutschen Bundestag. Das heißt, eine Differenz von 2,8 Prozent bedeutet in jedem Falle, dass eine Machtoption vorhanden gewesen wäre. Diese ist, nachdem die SPD sich kategorisch gegen eine Zusammenarbeit oder Gespräche über Zusammenarbeit mit der Linken verweigert hat, nicht mehr möglich.

Und dieses wiederum bringt die SPD in Zugzwang, nicht die CDU/CSU. Denn logischerweise, das haben Sie ja soeben auch angedeutet, ist, was die Umfrageergebnisse betrifft, sofort die Fragestellung virulent: Wenn es für Rot-Grün nicht reicht, dann bleibt ja de facto für die SPD nur die Große Koalition.

Ich sage nur: Es gibt auch noch eine andere Variante. Es bliebe auch möglicherweise eine schwarz-grüne Koalition. Es ist nicht so, dass das von vornherein auszuschließen ist. Ob die FDP reinkommt oder nicht, weiß man nicht. Ich vermute allerdings, dass die CDU, um sicherzustellen, dass die FDP ins Parlament kommt, also die Fünfprozenthürde übersteigt, mit einer Leihstimmenkampagne kurz vor der Wahl aufwarten wird.

Deutschlandradio Kultur: Kommen wir noch mal auf Die Linke zurück. Sie haben gesagt, die SPD hat es ja ausgeschlossen. Damit ist das erstmal erledigt als Machtoption. Aber mal abgesehen von der Machtoption, gäbe es denn genug inhaltliche Gemeinsamkeiten?

Rudolf Dreßler: Also, wer wie das Herr Steinbrück oder auch Herr Steinmeier behauptet hat, mit der FDP jederzeit verhandeln kann über Koalitionen, der kann mir nicht erzählen, dass er das mit den Linken nicht auch tun könnte. Ich rede von Verhandeln, nicht über Einigen.

Wenn ich aber sage, ich habe dieses von vornherein gar nicht auf meinem Tableau, ich werde nicht verhandeln, dann gebe ich diese – in Parenthese gesetzt – Machtoption, die ja auch prozentual, ich habe das soeben gesagt, mit 2,8 Prozent nachvollziehbar ist, preis. Und das bedeutet, ich schwäche mich selber. Das war 2005 übrigens genauso. Am Wahlabend haben führende Repräsentanten der SPD diese Option, die da war, wir hatten ja eine Mehrheit jenseits der CDU-FDP, diese Option fallen gelassen. Sie haben öffentlich erklärt: nein, niemals. Und damit hatten sie selbst ihren eigenen Weg in die Große Koalition vorbereitet mit dem Ergebnis von 2009.

Also, das nun der CDU in die Schuhe zu schieben, wäre blauäugig. Die SPD hat sich dieses selber angetan. Und niemand hat es ihr angetan, sondern sie sich selber.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir in die Geschichte der Arbeiterbewegung noch einmal zurückblicken, was wir ja am Anfang getan haben, dann sehen wir unter anderem ein Jahrhundert bitterster Konflikte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Und die Linkspartei hat ja nun mal starke kommunistische Wurzeln. Wäre die Zeit reif für einen historischen Kompromiss der Erben von Friedrich Ebert und Rosa Luxemburg?

Rudolf Dreßler: Also, es gibt logischerweise das Problem, dass die Linke als Partei aus zwei unterschiedlichen Richtungen besteht. Wenn Sie das, was aus den neuen Ländern in der Partei Die Linke Funktion hat, wenn Sie diese Damen und Herren nehmen, dann haben Sie ein völlig anderes Bild, gemessen an dem, was Westdeutschland in die Partei Die Linke integriert hat. Und wenn die Partei Die Linke in sich selbst dieses nicht klärt, dann gibt es Probleme.

Die Frage ist, ob Verhandlungen nach einer Bundestagswahl die Partei Die Linke in die Lage versetzen würden, dieses dann auch zu dokumentieren. Wenn sie das nicht tun, dann kann es logischerweise keine Ergebnisse geben. Aber all dieses spielt keine Rolle, weil die SPD a priori erklärt hat, dieses kommt für sie - nämlich Verhandlungen über Eventualitäten - nicht in Betracht.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin hat den anderen Weg gewählt. Sie hat das in Verhandlungen mit der Partei Die Linke in Nordrhein-Westfalen damals aussondiert und ist zu dem Ergebnis gekommen ganz offen, man konnte das ja als Betrachter nachvollziehen: Es geht nicht. Dieses haben alle akzeptiert. Aber bei der Bundes-SPD ist das anders. Sie hat diesen Weg nie gewählt, sondern immer ohne Not – sage ich jetzt – von vornherein ausgeschlossen, damit in Gespräche einzutreten.

Deutschlandradio Kultur: Das Verhältnis SPD und Linke beschäftigt Sie auf anderem Schauplatz schon länger, Herr Dreßler. Im Jahr 2010 waren Sie an der Gründung des Instituts Solidarische Moderne beteiligt. Sie sitzen bis heute im Kuratorium dieses Instituts. Und dieses Institut Solidarische Moderne ist ein Netzwerk von Sozialdemokraten, Grünen und Leuten aus der Linkspartei, aber auch aus dem Bereich von NGO, wie Attac oder Transparency International. Worum geht es dabei?

Rudolf Dreßler: Also, es geht faktisch in diesem Institut auch darum, das zu versuchen, was ich gerade – bezogen auf die Haltung der SPD – kritisiert habe, nämlich das, was sich jenseits von CDU/CSU-FDP in der Bundesrepublik mehrheitlich bewegt, zusammenzuführen zu einem politischen Programm, wenn Sie so wollen. Und die Repräsentanten, die dort arbeiten, aktiv arbeiten, sind ja jetzt nun schon seit einiger Zeit dabei, dieses auch zu dokumentieren.

Ich bin damals nach meiner Rückkehr als Botschafter aus Israel von dem damals noch lebenden Fraktionskollegen Hermann Scheer und der Andrea Ypsilanti gefragt worden, ob ich mich dort einbringe, was ich damals im Rahmen meines Zeitbudgets bejaht habe. Und der Versuch, nun mit Intellektuellen, mit Wissenschaftlern, mit Politikern genau diese Spannbreite fassbar zu machen, nachvollziehbar zu machen, also das zu dokumentieren, was die SPD – jedenfalls in ihrer Spitze – bisher nicht für möglich hält, das ist der Sinn dieses Instituts.

Dass da natürlich, wenn man es volkstümlich formuliert, mehr linke Politik gemacht wird und keine rechte, das sagen die Ergebnisse und die Personen von vornherein aus.

Deutschlandradio Kultur: Allerdings haben die Generalsekretärin Ihrer Partei, der SPD, Andrea Nahles und die Bundesgeschäftsführerin der Grünen Steffi Lemke, die haben gekontert, indem sie einen eigenen linken Think Tank gegründet haben. Der nennt sich "Denkwerk Demokratie". Und dem gehören neben SPDlern und Bündnis-Grünen auch prominente Gewerkschafter an, aber niemand von der Linkspartei. Ist das also wieder das alte Problem des linken politischen Spektrums? Man ist uneinig, man ergeht sich in Vereinsmeierei, verzettelt sich?

Rudolf Dreßler: Ich kann dem nur beipflichten, ohne es weiter kommentieren zu wollen.

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist ja seltsam. Die Zeitläufte scheinen doch wie geschaffen für eine Renaissance des demokratischen Sozialismus. Der Neoliberalismus ist durch die Finanzkrise stark kompromittiert. Die Sparprogramme wegen der Schuldenkrise führen in ganz Europa zu schweren sozialen Verwerfungen. Jetzt kommt noch ganz massiv das Thema Steuerflucht, Steuergerechtigkeit dazu. Das sind doch alles Steilvorlagen. – Warum macht die Sozialdemokratie nicht mehr daraus?

Rudolf Dreßler: Also, diese Frage stelle ja nicht nur ich mir, sondern stellen sich andere auch. Es gibt einen Teil der Wissenschaft, der nun völlig unverdächtig ist, aber als Persönlichkeiten mit herausragender Autorität bestückt, die dieses genauso öffentlich thematisieren und auch sagen.

Wir haben eine Mehrheit in der Bevölkerung – thematisch – jenseits der CDU/CSU-FDP. Und wir sind nicht in der Lage, daraus eine politische Mehrheit im Parlament zu machen. Das ist ein Vorwurf, den wir uns selbst machen müssen. Dafür können wir keinen Schuldigen in anderen konservativen oder neoliberalen Parteien finden.

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist ja nicht nur ein Problem der SPD. In Frankreich hat die Krise vor einem guten Jahr einen Sozialisten ins höchste Staatsamt gespült, Francoise Hollande. Doch dem ist bis jetzt ja auch nicht so sehr viel gelungen. Hat der Sozialismus vielleicht einfach nicht die richtigen Rezepte für die Krisen des 21. Jahrhunderts?

Rudolf Dreßler: Na ja, ich sage mal so: Der französische Präsident hat noch keine Amtszeit hinter sich, sondern er steuert die Hälfte an. Und da nun abschließende Urteile zu fällen, ist ein bisschen mutig. Und deshalb, glaube ich, kann man ein abschließendes Bild über die französische Situation nicht machen.

In Deutschland ist das ein bisschen anders, weil wir dieses Problem, von dem wir gerade reden, seit nunmehr sieben, acht Jahren vor uns herschieben. Und dieses ist nun eine sehr lange Strecke, in der die SPD nach meiner Auffassung zu einer anderen Überzeugung hätte kommen müssen, aber jedenfalls nicht gekommen ist. Und dieses wird weiterhin in der Debattenkultur der Sozialdemokratie eine große Rolle spielen. Dessen bin ich mir sicher.

Deutschlandradio Kultur: Aber woran liegt es? Liegt es an den Köpfen? Liegt es daran, dass die Partei in den unteren Parteigliederungen Diskussionskultur verloren hat? Wo sehen Sie da die Hauptprobleme?

Rudolf Dreßler: Also, dass sie Diskussionskultur verloren hat, das glaube ich schon. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, was in den letzten zehn Jahren innerhalb der SPD passiert ist, dann ist das keine Kleinigkeit. Die SPD hat ungefähr 400.000 Mitglieder verloren. Sie hat sechs Ministerpräsidenten in Landtagswahlen verloren. Sie hat Hunderte von Kommunalmandaten verloren. Und sie hat, gemessen an der Wahl 1998 und 2009, ungefähr zehneinhalb bis elf Millionen Wählerinnen und Wähler verloren. Das geht nicht spurlos an einer Partei vorbei.

Die Begründung haben wir bereits thematisiert im Laufe unseres Gesprächs, nämlich dass die SPD einem – ich sage mal – neoliberalen Zeitgeist hinterhergelaufen ist, der sie nicht befähigt hat, falsche Entscheidungen in der Politik zu korrigieren. Und dieses läuft ihr nach. Dieses muss sie noch leisten.

Aber entscheidend ist, dass die Partei in diesen Jahren natürlich sehr, sehr viel Substanz verloren hat. Und wenn eine Partei so viele Mitglieder verliert, darunter befinden sich ja nicht Mitglieder, die mal montags in eine Partei eintreten, um mittwochs wieder auszutreten, sondern die zum Teil Jahrzehnte in dieser Partei zu Hause waren, dann verliert sie auch Qualität. Und diese Qualität muss sie erstmal wieder ausgleichen und kompensieren in der Zukunft.

Deutschlandradio Kultur: Ist die Sozialdemokratie vielleicht auch ein bisschen ein Opfer ihrer eigenen vergangenen Erfolge? In der CDU beklagen sich ja die Konservativen über eine Sozialdemokratisierung ihrer eigenen Partei. Sogar in der FDP redet man inzwischen über Mindestlohn. Irgendwie sind alle Parteien ein bisschen SPD oder tun zumindest so. Braucht es dann überhaupt noch das Original?

Rudolf Dreßler: Also, wir haben in den letzten Monaten sehr oft lesen dürfen, dass es in Deutschland zurzeit ein Hoch sozialdemokratischer Politik, sozialdemokratischen Gedankentums gäbe. Und wir lesen, dass die beste Repräsentantin der Sozialdemokratie eine gewisse Frau Merkel sei.

Dieses der Frau Merkel nun vorzuwerfen, das ist ein bisschen dünn. Die SPD muss sich fragen, warum sie aus dieser Tatsache bisher nicht bessere Erscheinungsbilder für sich selbst hat machen können. Und das ist, für die SPD jedenfalls, die Kernfrage.

Dass die SPD auch Opfer ihrer eigenen Politik geworden ist, das ist nicht etwas, was wir zu kritisieren haben. Wenn ich dieses Beispiel meine, Opfer ihrer eigenen Politik, dann nehme ich mal das Beispiel Bildungspolitik oder Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es wäre ja ohne sozialdemokratisches Engagement kaum möglich, dass eine Frau Regierungschefin wird, wenn nicht das Wahlrecht, gleiches Recht für Männer und Frauen, durch Sozialdemokratie, durch die Sozialdemokraten realisiert worden wäre, federführend.

Und das bedeutet, dass sie doch nicht in der Lage sein darf, dieses zu beklagen, sondern sie muss dann auch akzeptieren, dass diejenigen, die davon profitieren, sich in anderer gesellschaftspolitischer Orientierung bewegen. Das ist ein völlig normaler Vorgang. Das gilt für Schulbildungspolitik. Das gilt für gesellschaftliche Bildungspolitik.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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