Die Ökonomie der Bits

22.10.2009
"Free", so macht Chris Anderson zunächst in einem kurzen historischen Abriss deutlich, ist nichts Neues in der Wirtschaftswelt. Schon Ende des 19. Jahrhunderts offerierten Wirtsleute in New Orleans ihren Kunden ein kostenloses Mittagessen, wenn sie mindestens ein Getränk zu sich nahmen.
Für die Wirte war klar, dass die Gäste mehr als ein Getränk ordern würden – womit sich das Geschäftsmodell rechnete. Free – also kostenlose Muster, Geschenke, Kostproben – diente (und dient bis heute) als Marketinginstrument für ganze Branchen, mit dem Komplementärprodukte verkauft und Bedürfnisse geschaffen werden. Das Prinzip dahinter: Quersubvention, getreu dem Motto: "Nichts ist umsonst". Zumindest in der Welt der Materie.

Anders in der Welt der Bits. Hier bedeutet "free" tatsächlich kostenlos. Warum das so ist und weshalb dabei trotzdem ein Markt mit einem Wert von derzeit geschätzten rund 300 Milliarden US-Dollar entstanden ist, erklärt Chris Anderson im zweiten Teil seines Buches. Free ist demnach nicht mehr einfach nur ein Marketinginstrument, sondern ein neues Wirtschaftsmodell – bedingt durch die technologische Entwicklung. Weil die Kosten für Prozessorgeschwindigkeit, digitale Datenspeicherung und Bandbreite stetig sinken, gleichzeitig die Leistung von Rechnern aber steigt, fallen auch die Preise für alles, was mithilfe dieser drei Technologien produziert wird. Und zwar in einem Tempo, dass sie gegen Null tendieren. Anderson nennt dies die "digitalen Gesetzmäßigkeiten", die entsprechende Nutzer-Erwartungen wecken. Die Crux: Auch die Inhalte und Dienste, die mittels Internet so gut wie kostenlos transportiert werden können, sollen nichts kosten. Anderenfalls werden sie ohne Wenn und Aber kostenlos "gemacht": durch Piraterie.

Doch wie lässt sich daraus ein Geschäftsmodell machen? Dieser Frage widmet sich der Autor in einem dritten Komplex. Zum einen räumt er die zerstörerische Wirkung von Free ein. Ganze Märkte schrumpfen in sich zusammen – die Musikindustrie kann ein Lied davon singen, ebenso die Zeitungsbranche wie auch einige Buchverlage. 1991 lag der Umsatz im Enzyklopädie-Markt bei rund 1,2 Milliarden US-Dollar. Mit dem Internet schrumpfte dieser Markt innerhalb von drei Jahren um 600 Millionen US-Dollar. Der Wert der Differenz verteilte sich neu – auf die Nutzer, die nun kostengünstiger nachschlagen können und in andere Geschäftsfelder. Denn, so stellt Chris Anderson auch fest: viele funktionierende Märkte bleiben zurück und neue entstehen.

Diese zeichnen sich durch ein Hybridstruktur aus: durch die Verbindung aus kostenlos und kostenpflichtig. Hierbei gilt das Prinzip: Geld kann nur für Dinge verlangt werden, die knapp sind. Für alles, was es im Überfluss gibt, will niemand zahlen. Doch Free ist der Ausgangspunkt dafür, dass sich das Geschäft mit bezahlter Ware lohnt. Denn Free macht neugierig auf die knappen Güter, die das kostenlose Produkt sinnvoll erweitern.

Chris Andersons Buch ist spannend und verständlich geschrieben. Seine Thesen – die sicher einer wissenschaftlichen Untermauerung bedürfen – belegt der Autor mit etlichen Beispielen. Das Erfrischende dabei: Dem allgemeinen Klagen über die verheerende Wirkung der Kostenlos-Kultur des Internets setzt Anderson einen Ansatz entgegen, der dazu anregt, die Dinge einmal durch eine andere Brille zu sehen. Anregend dürfte dies für alle sein, die sich für Wirtschaft im digitalen Zeitalter interessieren, besonders aber für die Netz-Zweifler. Was, wenn doch alles gar nicht so schlecht ist, wie etwa die gebeutelte Print- oder Musikbranche uns ständig glaubhaft machen will? Schließlich gibt es kein Geschäftsmodell, das per se Bestandsschutz auf alle Ewigkeiten hat. Das zu akzeptieren, mahnt Andersons Buch.

Besprochen von Vera Linß

Chris Anderson: Free. Kostenlos. Geschäftsmodelle für die Herausforderungen des Internets
Campus 2009, 304 Seiten