Die Nobelpreisträgerin als Kind

10.12.2009
Die im deutschsprachigen Teil des Banat in Rumänien geborene Schriftstellerin Herta Müller gilt als Chronistin des Alltagslebens in der Diktatur. Im Hörbuch lernt man die Kindheit der Literaturnobelpreisträgerin kennen, die von vielfältigen Ängsten überschattet war.
"Das Dorf, aus dem ich komme, ist ja ein sehr kleines Dorf und es war ein sehr abgeschottetes Dorf. Es gab keine Asphaltstraße. Mein Großvater hat das Dorf ein Mal verlassen im ersten Weltkrieg. Mein Vater hat das Dorf verlassen im zweiten Weltkrieg. Und meine Mutter hat es verlassen, als sie deportiert wurde nach 45 zur Zwangsarbeit in die damalige Sowjetunion. Die Gelegenheiten, bei denen man das Dorf verließ, waren immer ein Unglück, ein großes Unglück."

Rückblickend erscheint es Herta Müller noch heute unglaublich, dass sie es geschafft hat, nicht nur das Dorf zu verlassen, um in der nächsten Stadt aufs Gymnasium zu gehen, sondern auch später, aus diesem vom Geheimdienst vergifteten Land Rumänien zu fliehen, um nach Deutschland zu gehen.

"Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat", heißt das Hörbuch. Und es ist ganz anders als die ebenfalls im Supposé Verlag erschienene und vielfach ausgezeichnete Kindheitserzählung des Schriftstellers Peter Kurzeck. Kurzeck ist einer, dem es erlaubt war, sein Dorf in Besitz zu nehmen. Seine Schilderungen sind opulent, scharfsichtig, heiter. Herta Müller erzählt anders. Kurz, prägnant, sachlich. Spürbar persönlich eigentlich nur im Ton. Die Stimme transportiert hier das Wichtigste: eine Seelenstimmung, die nicht in den Worten liegt.

"Ich habe immer als Kind nur mit dem brennenden Licht geschlafen. Ich hab mich gefürchtet. Ich weiß auch nicht warum. Ich habe im Dunkeln immer Angst gehabt. Ich dachte immer, die Luft ist aus Tinte und die ertränkt einen."

Das Einzelkind Herta galt als Außenseiterin, und zwar sowohl in ihrer Familie als auch in Nitzkydorf bei Temeswar. Später identifizierte Ceaucescus Geheimdienst sie ebenfalls als verdächtiges Subjekt, spionierte ihr hinterher und bedrohte sie. Ihr großes Thema ist deshalb die Angst, der Tod, das Grauen vor der Natur und den Menschen.

Herta hatte Angst vor Halsweh, dass ihr dann ein Maiskolben im Hals wächst. Und überhaupt, dass sie verloren geht, weil sie nirgendwo dazu passt. Aber über Ängste sprach in Nitzkydorf niemand. Der Vater ertrank seine in Alkohol, und wenn ihn die Wut überkam, nahm er sich die Mutter vor. Die wiederum hielt sich an ihrer Tochter schadlos. Prügel für Herta waren an der Tagesordnung.

"Ich hab meistens gedacht, ... es kommt immer darauf an, was man denkt oder wovor man Angst hat, nicht zu zeigen. Und dass das ganze Leben daraus besteht, dass man seine Angst nicht zeigt."

Für das Hörbuch über ihre Kindheit nimmt sich Herta Müller in kurzen Sequenzen von eins bis drei Minuten bestimmte Themen vor, wie zum Beispiel die Banater Trachten, die katholische Dorfkirche, die Straßen Nitzkydorfs und das Haus der Familie. Sie erzählt nicht in großen Bögen, mit Lust auf Pointe, Grusel und schon gar nicht auf Applaus, sondern eher wie jemand, der sich wieder und wieder vor dem Erlebten erschreckt und schnell zu einem Ende kommen will. Unbeschwertes, wie die Sache mit dem nackten Mann im Doktorbuch und dessen nummerierte Organe, gibt es selten.

"Das Doktorbuch war etwas ganz Verbotenes. Also, nur wenn ich sicher war, dass die alle draußen auf dem Feld sind, hab ich mich getraut, dieses Doktorbuch ins Paradezimmer auf den Teppich zu legen. Und dann habe ich das aufgemacht und hab dann diesen nackigen Mann auch aufgemacht und habe seine ganzen Organe ausgeräumt und habe sie mir angeschaut."

Die Scham, Verlorenheit und Angst der Kindheit schienen Herta Müller später, als sie vom rumänischen Geheimdienst aufs Korn genommen wurde, wie eine wichtige Vorbereitungs- und Einübungszeit in die Angst und Verlorenheit ihrer Erwachsenenjahre. Als es zu viel wurde, spielte sie mit dem Gedanken, sich umzubringen, entschied sich allerdings dagegen.

"Weil der Geheimdienst mir ständig gedroht hat, dass er mich umbringt. Dass sie mich in den Fluss schmeißen oder sagt, es gibt Verkehrsunfälle. Und ich hätte ja dann die Drecksarbeit für die getan, indem ich mich selbst aus dem Weg räume. Ich wollte ja gar nicht tot sein. Aber ich hab das Leben nicht mehr ertragen. Das ist ja etwas ganz anderes."

Seit Oktober, seit die Presse über die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller berichtet, haben wir sie als strenge, unnahbare und unerbittliche Enthüllerin kennengelernt. Das Hörbuch "Die Nacht ist aus Tinte gemacht" zeigt eine ganz andere Herta Müller. Jetzt wo wir wissen, dass sie als Kind Blumen aß, um selbst eine zu werden; dass sie Hühner schlachten konnte und in einem Akt der Verzweiflung das Familien-Akkordeon im Brunnen versenkte. Jetzt kommt sie einem vor: Wie eine Frau, die sich durch ihre Angst geschrieben hat. Eine Schriftstellerin, die nun nicht mehr alleine auf einem Herta-Müller-Planeten wohnen muss, sondern uns hat, die wir wissen wollen, wie es da zugeht.

Service:
Der Berliner Hörbuchverlag Supposé hatte die 56-Jährige schon vor Bekanntgabe der Entscheidung der Schwedischen Akademie der Wissenschaften eingeladen, ihre Erinnerungen an die Kindheit in Nitzkydorf, einem Bauerndorf bei Temeswar, zu erzählen – ohne Manuskriptvorlage, aus dem Gespräch mit Verlagsleiter Klaus Sander heraus. So entstand ein atmosphärisch dichter Bericht, der eine ganz andere Herta Müller zeigt als die, die wir aus den Presseberichten der letzten Monate kennen. Am 10. Dezember 2009 erhält Herta Müller in Stockholm den Nobelpreis für Literatur.

Besprochen von Brigitte Neumann

Herta Müller
"Die Nacht ist aus Tinte gemacht" – Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat

Dramaturgie und Regie: Thomas Böhm und Klaus Sander
Supposé Verlag, Berlin 2009
2Audio CD, insges. 116 Minuten
empfohlener Preis: 24,80 Euro