Die Netzaufreger 2016

Postfaktische populistische Hate Speech

Das Wort "postfaktisch" steht am 08.12.2016 in Wiesbaden (Hessen) eingekreist auf dem Papier eines Flipcharts während einer Sitzung der Gesellschaft für deutsche Sprache zum "Wort des Jahres". Postfaktisch ist das "Wort des Jahres" und wird alljährlich von der Gesellschaft für deutsche Sprache bestimmt. Mit dem "Wort des Jahres" wird der Begriff gekürt, der nach Ansicht der Experten die öffentliche Diskussion in den vergangenen Monaten am meisten bestimmte.
"Postfaktisch" war das Wort des Jahres 2016 © picture alliance / dpa / Susann Prautsch
Von Vera Linß · 30.12.2016
Emotionen statt Fakten – immer häufiger zählt das in politischen Diskussionen. Der Trend zum Postfaktischen ist aber nur eine von mehreren Schattenseiten, die das Internet 2016 von sich offenbart hat. Was waren die großen Netzaufreger des Jahres?
Netzaufreger 1: Fake News. Wir schreiben den 24. Juni 2016.
"Großbritannien steht vor dem Austritt aus der Europäischen Union. Die Briten haben in ihrem Referendum für einen Brexit gestimmt und den Staatenbund damit in eine schwere Krise gestürzt."
In der Krise fühlten sich auch die Medien. Zumindest jene, die gegen den Austritt angeschrieben hatten. Der Grund: Falschmeldungen über Europa, die in der britischen Presse und im Netz kursierten, schienen die Wähler irregeleitet zu haben. Können online verbreitete Fake News Einfluss auf Abstimmungen nehmen? Die Wahl des Populisten Donald Trump zum US-Präsidenten heizte diese Debatte noch mal an.
"Papst Franziskus schockt die Welt. Er ist für Donald Trump als Präsident. – Hillary verkaufte Waffen an den IS – Robert de Niro wechselt zu Trump."
Solche Schlagzeilen machten vor den US-Wahlen auf Facebook die Runde. Fast neun Millionen Mal wurden einige davon im Netzwerk geklickt. Dessen Chef Marc Zuckerberg hielt es zwar für verrückt zu glauben, Fake News hätten Donald Trump zum Sieg verholfen.
Wenig später aber fand das Online-Portal Buzzfeed heraus, dass Falschnachrichten im Wahlkampf mehr Klicks erhalten haben als echte News. Damit wuchs auch hierzulande die Angst vor populistischen Fake News. Was kann die Politik dagegen tun? Fragten sich viele, auch Sonja Mikich, Chefredakteurin des WDR:
"Die Politik tut gut daran, sich mit Lügenkampagnen und Fake News zu befassen. Denn die kommenden Wahlen drehen sich nicht nur um politische Programme, sondern um die größte Herausforderung für die Demokratie selbst. Das Relativieren von Wahrheit."
Dass Wahrheit für viele längst schon relativ ist, legt die Debatte um das Wort "postfaktisch" nahe. Sonja Mikich:
"Menschen fühlen etwas und dann kann man ihnen eine Statistik geben, man kann Augenzeugenberichte herbeischaffen, man kann Unterlagen und Dokumente ihnen unter die Nase halten. Und die sagen: 'Ja kann ja alles sein. Aber ich fühle, dass es anders ist.' Meiner Meinung nach ist Stimmung, ist Gefühl, ist Bauch ungeheuer wichtig geworden. Wir reden nicht umsonst auch von der Post-Truth-Society."
… in der sich Medien und Politik behaupten müssen. Aber was lässt sich postfaktischem Denken entgegen setzen? Welche Ansprache ist die richtige? Die Suche nach Antworten ist im Gange.

Böhmermann und Erdoğan

Völlig falsch angesprochen fühlte sich auf jeden Fall im März der türkische Präsident Recep Erdoğan. Er hatte sich in diesem Jahr als Feind der Pressefreiheit entpuppt:
"Er lebt auf großem Fuß, der Boss vom Bosporus. Ein protziger Bau, mit 1000 Zimmern errichtet ohne Baugenehmigung in einem Naturschutzgebiet. Bei Pressefreiheit kriegt er'n Hals, drum braucht er viele Schals."
Über zehn Millionen klickten das Satire-Video der Sendung Extra 3 des NDR, weshalb der deutsche Botschafter in Ankara vorgeladen wurde. Als der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann dann anhob, Erdoğan öffentlich aufzuklären über Presse- und Kunstfreiheit in Deutschland, platzte dem Präsidenten der Kragen. Erdoğan forderte die Strafverfolgung des Satirikers. Das Schmähgedicht von Böhmermann und die Folgen wurden zum weiteren Netzaufreger des Jahres.
Jan Böhmermann: "Es gibt Fälle, wo man in Deutschland, in Mitteleuropa Sachen macht, die nicht erlaubt sind. Also es gibt Kunstfreiheit, Satire und Kunst und Spaß, das ist erlaubt. Und auf der anderen Seite, ich glaube es heißt, wie heißt es? Schmähkritik … das ist ein juristischer Ausdruck, wenn du Leute diffamierst, wenn du einfach nur so unten rum argumentierst, wenn du die herabsetzt."
Ein ganzes Land stritt um die Frage, was Satire darf und was nicht. Aber auch die politische Einflussnahme des türkischen Präsidenten stand zur Debatte. Das Strafverfahren gegen Böhmermann ist eingestellt. Erst im Februar aber soll der Zivilprozess enden.
Geschichte dagegen ist schon jetzt Netzaufreger Nummer vier: Pokémon Go. Das Jagen kleiner Monster mit Hilfe des Smartphones wurde im Juli zur kontrovers diskutierten Massenbewegung – und ist längst wieder vorbei.

"Da zuckt die Faust"

Der größte Netzaufreger aber – nämlich Hate Speech in sozialen Netzwerken – wird auch 2017 die Debatten bestimmen. Katrin Göring-Eckardt:
"'Grünes Dreckspack und Amischlampe. Ihr gehört alle am nächsten Baum aufgehangen.‘ Es geht auch konkreter. 'Dumm wie die Sau, die Alte.' Da zuckt die Faust. Es geht auch ausführlicher. 'Ihr seid zum Kotzen und ich hoffe, wenn es hier knallt, reißt es euch mit in den Abgrund, ihr Verbrecher.'"
Mit diesem Video hatte sich die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt im Herbst vergangenen Jahres an die Öffentlichkeit gewandt. Sie wollte zeigen, welchem Hass sie auf Facebook ausgesetzt ist. Ihr Protest hat sich in diesem Jahr vervielfacht. Wie verroht die Sprache ist, zeigte sich am Tag der Deutschen Einheit, als der Hass aus dem Netz direkt der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Claudia Roth entgegengeschleudert wurde.
Für 2017 hat die Politik Gesetze versprochen, mit denen soziale Netzwerke gezwungen werden sollen, beim Kampf gegen Hate Speech zu kooperieren. Denn diese Bereitschaft ließ Facebook etwa auch in diesem Jahr weitgehend vermissen.
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