Die Mutter der großen Dinge

Von Walter van Rossum · 04.05.2005
"Er hat erfunden, dass es eine Lust ist Ich zu sagen, Ich zu sein und Ich zu tun" sagt der Biograf Rüdiger Safranski über Friedrich Schiller und seiner Erfindung des Idealismus. Und Jean-Paul Sartre definiert sich 150 Jahre später als seine eigene Ursache. Beide erkennen in der Leidenschaft des Menschen, sich in der Welt hervorzubringen, ohne Rechtfertigung, ihren Idealismus.
Die Untersuchung eines idealistischen Leichnams ergab folgenden Befund:

"Nach Schillers Tod am 9. Mai 1805 wurde die Leiche obduziert. Man fand die Lunge 'brandig, breiartig und ganz desorganisiert', das Herz 'ohne Muskelsubstanz', die Gallenblase und die Milz unnatürlich vergrößert, die Nieren 'in ihrer Substanz aufgelöst und völlig verwachsen."

Der untersuchende Arzt fügte seinem Obduktionsbefund die Bemerkung hinzu:

"Bei diesen Umständen muss man sich wundern, wie der arme Mann so lange hat leben können."

Und daran - so der Schiller-Biograph Rüdiger Safranski - kann man erklären, was der Idealismus ist:

Safranski: "Man kann es sogar ganz einfach formulieren, und das hat Schiller auch getan. Ganz am Ende, in seinem letzten Brief an Wilhelm von Humboldt, da sagt er: 'Lieber Freund, wir sind Idealisten, was tun wir da eigentlich, eigentlich geht es ja darum, zu vermeiden, dass man von den Dingen beherrscht wird und dass man die Dinge selber auch ein bisschen beherrscht. Das ist Idealismus."

Und das ist ein idealistisches Programm:

Klaus Kinksi liest "Hoffnung":

"Es reden und träumen die Menschen viel
von bessern künftigen Tagen;
nach einem glücklichen, goldenen Ziel
sieht man sie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
doch der Mensch hofft immer Verbesserung.
Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
sie umflattert den fröhlichen Knaben,
den Jüngling locket ihr Zauberschein,
sie wird mit dem Greis nicht begraben;
denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
noch am Grabe pflanzt er - die Hoffnung auf."

Klaus Kinski liest Schillers Gedicht "Hoffnung"

"Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
erzeugt im Gehirne des Toren,
hier im Herzen kündet es laut sich an:
zu was Besserm sind wir geboren.
Und was die innere Stimme spricht,
das täuscht die hoffende Seele nicht."

Das also ist der Idealismus: dass der Mensch danach strebt seine Ursache zu werden. Und das er sich daran freut. Und das nennt Rüdiger Safranski Schillers Erfindung des Idealismus.

Safranski: "Er hat erfunden, dass es eine Lust ist, Ich zu sagen, Ich zu sein und Ich zu tun."

Genau hundert Jahre nach Schillers Tod wurde in Paris Jean-Paul Sartre geboren.

"Da ich niemandes Sohn war, wurde ich meine eigene Ursache."

Schreibt Sartre später in seiner Autobiographie Die Wörter. So setzt sich also der kleine Jean-Paul Sartre im zarten Alter von acht Jahren an die Spitze seiner Schöpfung. Ein wichtiger Umstand begünstigt den heiteren Wahn: Kurz nach seiner Geburt war sein Vater gestorben:

"Sterben allein genügt nicht; man muss rechtzeitig sterben. Wäre er später gestorben, ich hätte mich schuldig gefühlt (...). Ich hingegen war begeistert: mein kläglicher Zustand nötigte Achtung ab, begründete meine Wichtigkeit; die Trauer, die mich umgab, wurde meinen Tugenden zugerechnet. (...) Dieser Vater ist nicht einmal ein Schatten, nicht einmal ein Blick: wir beide haben eine Zeitlang die gleiche Erde bewohnt, das ist alles."

Und so wurde Jean-Paul Sartre zum Idealisten: Da er kein Schicksal hatte, keine Abkunft, sah er sich genötigt, sich zu erfinden.

"Man hat mich erkennen lassen, dass ich weit eher ein Kind des Wunders als der Sohn eines Toten sei. Zweifellos kommt daher meine unglaubliche Leichtfertigkeit. Ich bin kein Chef und begehre auch nicht, einer zu werden. Befehlen, gehorchen, das macht für mich keinen Unterschied. Der Autoritärste befiehlt im Namen eines anderen, eines geheiligte Parasiten - seines Vaters -, er überträgt die abstrakten Gewalttaten weiter, die er erlitten hat."

Unschwer erkennen wir hier das wieder, was Rüdiger Safranski Schillers Erfindung des Idealismus genannt hat:

Safranski: "Er hat erfunden, dass es eine Lust ist Ich zu sagen, Ich zu sein und Ich zu tun."

Mit anderen Worten: Schillers und Sartres Idealismus besteht vor allem aus der Leidenschaft ein Mensch zu sein, das heißt sich in der Welt hervorzubringen - ohne Rechtfertigung. Sartres erstes philosophische Hauptwerk Das Sein und das Nichts aus dem Jahre 1943 endet mit den Worten:

"So ist die Passion des Menschen die Umkehrung der Passion Christi; denn der Mensch geht als Mensch zugrunde, damit Gott geboren werde. Aber die Gottesidee ist widersprüchlich, und wir gehen umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft."

"Da ich niemandes Sohn war, wurde ich meine eigene Ursache."

Heißt es in Die Wörter. Das ist in feine Ironie gehüllt nichts anderes als das Glaubensbekenntnis des bürgerlichen Humanismus. Der Mensch versteht sich als Pilot seines Daseins. Doch dieser Humanismus repräsentiert nur den einen Teil der Ideologie der Moderne: der Rest ist Zwang - und Blindflug. Während die frommen humanistischen Gesinnungsarbeiter die Autonomie des Menschen beschwören, zeigen die Prozeduren der real existierenden Realität das glatte Gegenteil und die Wissenschaften führen den Beweis.

Und so ist der Idealismus heute zu einer ziemlich plumpen Behauptung verkommen: Wir nennen uns frei und folgen den Imperativen des Realen. Für Friedrich Schiller sah die Lage noch ganz anders aus: Er musste dem Denken seiner Zeit den Spielraum der Freiheit erst abtrotzen. Rüdiger Safranski:

Safranski: "Man stellt sich so vor: Schillers Idealismus: ja, ja - mit dem Kopf im Himmel, idealistische Überschwänglichkeit usw. Nein, Schiller ist jemand, der hat den Materialismus durchquert. Der ist durch den Materialismus hindurchgegangen, den Determinismus. Während er 'Die Räuber' schreibt, schreibt er drei Dissertationen und beschäftigt sich vom medizinischen Standpunkt mit der Frage Geist-Natur, Körper-Seele. Er beschäftigt sich mit der Frage, die uns heute noch umtreibt: Wie frei ist das Gehirn? Wie viel Freiheit lassen uns die neuronalen Systeme? Wieweit sind wir eine Reiz-Reaktionsmaschine? Diese Frage treibt ihn um.

Er ist ein Idealist, der mit allen Wassern des Materialismus gewaschen ist, der durch das Stahlbad des Materialismus hindurchgegangen ist."

Interessanterweise entdeckt auch Jean-Paul Sartre über 150 Jahre später die Freiheit in einem anderen Stahlbad:

"Sie hören die letzten Nachrichten. Seit heute, Sonntag, den 3. September 1939, 17 Uhr, befindet sich Frankreich offiziell im Kriegszustand mit Deutschland. (...) In ganz Frankreich wird mit eindrucksvoller Gelassenheit und im Geist ruhiger Entschlossenheit die allgemeine Mobilmachung fortgesetzt."

Und auch Sartre wird von diesem Krieg erfasst. Bevor er im Juni 1940 in Gefangenschaft gerät, schreibt er in einer Kaserne im Elsass wie ein Besessener Hunderte von Seiten in seine Kriegstagebücher. Er nimmt die konkrete eigene Situation ins Visier. Jean-Paul Sartre erkundet, was von ihm übrig bleibt.

"Der Krieg ist wirklich eine komische Sache. Jeder hat seinen Krieg, wie er seinen Tod hat, es geht absolut nicht darum, ihn zu erleiden wie eine Katastrophe, sondern man hat ein Sein zum Krieg wie man ein Sein-zum-Tode hat. Und zwar von Anfang an."

Die Geschichte hat zu einem mächtigen Sprung angesetzt, und während sie auf den entscheidenden Moment wartet, fragt sich Jean-Paul Sartre, ob er bloß die Laus in ihrem Pelz ist oder ob man die Geschichte reiten kann. Aber was heißt denn überhaupt Geschichte? Und dann stellt sich als das eigentlich Verstörende und philosophisch schier Unlösbare gleich Folgendes heraus: Wie auch immer er entscheiden mag - in jedem Fall wird er die Antwort geben, wird er der Geschichte und sich einen Sinn gestiftet haben.

Aber wer soll er sein, dass er über sich und die Geschichte zu entscheiden vermag? Außerdem - die Geschichte mit Sinn versehen? Haben nicht gerade ein paar papierne Verordnungen ausgereicht, um ihn aller autonom gefassten Absichten zu entreißen? Hat nicht gerade erst die Geschichte über ihn entschieden? Alles dreht sich im Kreis. Wie der Krieg.

"Man erfasst die Welt nur über eine Technik, eine Kultur, eine Kondition; und ihrerseits bietet sich die so wahrgenommene Welt als menschliche dar und verweist auf die menschliche Natur."

Schreibt Sartre Anfang Dezember 1939 in sein Tagebuch. In diesen harmlos klingenden Sätzen steckt eine außerordentliche Sprengkraft. Denn in dieser neuen Sicht trägt die menschliche Existenz etwas in die Welt, das nicht in ihr enthalten ist: Zwecke, die Sartre auch Werte nennt. Ein Berg ist ein Berg, aber sein Bergsein erscheint mir nur durch meine Zwecke, nämlich dadurch, dass ich den Berg überwinden will oder im Gegenteil, dass seine Unüberwindbarkeit mir Schutz gewährt. Doch diese Zwecke gebe ich mir selbst.

"Die menschliche Realität kann und muss für sich selbst Zweck sein, weil sie immer auf der Seite der Zukunft steht, sie ist ihr eigener Aufschub. Doch im Übrigen ist die menschliche Realität überall durch sich selbst begrenzt, und welches Ziel sie sich auch steckt, dieses Ziel ist immer sie selbst."

Man könnte auch sagen: die menschliche Existenz zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre Bedingungen stets überschreitet. Sartre befindet sich im Krieg, doch er ist nicht der Krieg. Obwohl sein Leben bis ins konkrete und intime Detail von den Umständen bestimmt wird, gibt er den Umständen erst ihren, d. h. seinen Sinn.

Während Sartre im Krieg nach den Blumen der Freiheit fahndet, sucht der Mediziner Schiller die Freiheit in den Organen.

Safranski: "Er beschäftigt sich mit diesen Körperfragen auch als Mediziner: wie sehr bestimmt unser Körper, in den wir hineingeboren sind, den wir nicht selber gemacht haben, wir bewohnen einen Körper, für den wir nicht verantwortlich sind - wie sehr bestimmt der unser Schicksal? Und mit dieser Frage, warum stecke ich in einem Leib, diese Grundsatzfrage beschäftigt ihn auch in "Die Räuber". "

So sieht Franz sich von der Natur benachteiligt:

""Warum gerade mir die Lappländernase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? Diese Hottentottenaugen?"

Und deshalb:

"Sie gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache."

So entdeckt Franz in seiner Missgestalt seine Berufung zum Bösen, seine Rechtfertigung. Anders sein Bruder Karl - der ist Räuber aus moralischer Überzeugung – ein Robin Hood, der sich seine eigenen Regeln schafft. Und wenn sich Karl Moor am Ende nicht umbringt sondern der Justiz überantwortet, dann gehorcht er nicht dem Gesetz, sondern es triumphiert die Freiheit. Er übernimmt die Verantwortung für seine Taten, mit denen er gescheitert ist, auch wenn er gute Gründe hat, dem Gericht zu misstrauen.

So entdecken Schiller und Sartre auf ganz unterschiedlichen Pfaden die Freiheit als das, was den Determinanten, den Gründen der Realitätsmaschine entgeht - und auch dem vernünftigen Kalkül. Das Konzept der Freiheit umfasst das ganze Wagnis des Menschseins. Aber dann ... bald stößt die Freiheit des Individuums auf die Freiheit der anderen, und der Einzelne bewegt sich in einer Welt, in der jede Handlung etwas anderes bedeutet als er intendiert hat.

Sartre: "Ich habe versucht, Allgemeinheiten über die Existenz des Menschen zu sagen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass diese Existenz immer historisch situiert ist und sich von dieser Situation her definiert."

So relativiert Sartre später die Ergebnisse von Das Sein und das Nichts.

"Heute denke ich eher, dass die wahre Freiheit nicht fassbar ist. Sie ist vielmehr etwas, das bestimmten Bedingungen der Geschichte entgeht, das in bestimmten Fällen gegeben ist, das im übrigen nur auf durch diese Umstände gegeben sein kann; schließlich macht man sich ausgehend von dem, was aus einem gemacht worden ist."

Sartre hatte in Das Sein und das Nichts überzeugend klar gelegt, dass die Freiheit als Seinsweise der menschlichen Existenz dem Krieg und anderen Strafkolonien Widerstand zu bieten vermag, aber er hatte mit keiner Silbe darüber nachgedacht, woher der Krieg kommt. Genau von solchen Überlegungen wird er nach dem Krieg eingeholt. Daraus leiten sich die Fragen ab, denen er sich in den folgenden Jahren leidenschaftlich widmet:

Wenn der Mensch frei ist, woher kommen dann die organisierten Strukturen, die Ordnung der Geschichte, die Formierung der Kollektive und die strukturierte Gewalt des Gesellschaftlichen, die das Individuum erleidet? Mit anderen Worten: wenn der Mensch frei ist, warum findet er sich stets in Gefangenschaft wieder?

Die Politik der Freiheit, das ist auch ein Thema, mit dem sich Friedrich Schiller auf vielfältige Weise beschäftigt hat:

Safranski: "Und als dann die französische Revolution losgeht - Schiller ist zunächst begeistert: der Freiheit eine Gasse, wunderbar! - doch dann bemerkt er, dass die politische Form der Freiheit einerseits auf freiheitsunfähige Menschen trifft und zum anderen, dass im Namen der Freiheit Terrorismus verübt wird. Terrorismus der Freiheit. Das interessiert ihn. Er ist also schon sehr früh auf ein Problem gestoßen, das uns im 20. Jahrhundert noch sehr, sehr beschäftigt hat und weiterhin beschäftigen wird."

Zum Beispiel hat sich auch Jean-Paul Sartre dieser Frage gewidmet - in manchen seiner Theaterstücken - etwa: "Die schmutzigen Hände" oder "Der Teufel und der Liebe Gott" aber auch in seinen theoretischen Schriften:

"Durch jene strenge Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit hindurch , die die Bösen durch ihre Werke rettet und die Menschen guten Willens wegen Handlungen , in aller Reinheit des Herzens begangen, zur Hölle verdammt, entdeckte ich schließlich die Wirklichkeit des Ereignisses. (...)das Ereignis, das uns macht, indem es zur Handlung wird, zu einer Handlung, die uns vernichtet, indem sie durch uns Ereignis wird, und dass man seit Hegel und Marx die Praxis nennt."

Ebenso wie für Sartre verlieren sich für Schiller die moralischen Eindeutigkeiten im Tumult der gesellschaftlichen Praxis.

Safranski: "Es ist wirklich so: "Der Abfall der Niederlande", diese erste große Schrift ist sicher eine der größten Prosaerzeugnisse in der deutschen Sprache. (...) Schiller war davon überzeugt, dass wenn die Dinge mit einer Klarheit gefasst sind, dann gehen sie in Schönheit über. Schönheit ist ein Aggregatzustand der Klarheit. Das war so seine Maxime. Und deswegen ist es auch eine schöne Prosa, weil sie so klar ist.

Nun ist aber das Thema ganz unklar. Am Anfang war das für Schiller ganz klar: Die rebellierenden Niederländer gegen die spanische Herrschaft im 16. Jahrhundert sind gut, und die Bösen sind die Spanier. Und während er diesen klaren Text schreibt und sich ins historische Material vertieft, wird eigentlich alles unklar. Bei diesen Holländern, den Rebellierenden, gibt es soviel Korruption, so viel Kleinlichkeit, Verrat. Kurzum, es gibt wirklich das ganze Unterholz der Geschichte. Und da herrscht Zwielicht. Und das ist jetzt nun wirklich das Meisterstück der Klarheit: ein klares Licht auf das Zwielicht zu werfen. Das war die Paradoxie, die ihm gelungen ist."

Friedrich Schiller ist als großartiger Erzähler ein außergewöhnlicher Historiker. Doch die Erzählkunst kommt dabei nicht als sozusagen ästhetische Zugabe ins Spiel, sondern sie erlaubt einen ganz anderen Blick auf das Historische - einen Blick, den die Geschichtswissenschaft - wie sie im 19. Jahrhundert entsteht - systematisch negiert. Und erst Sartre wird Schillers Perspektive wieder aufgreifen und in seiner Kritik der dialektischen Vernunft aus dem Jahre 1960 theoretisch darstellen.

Vereinfacht gesagt, schreiben die modernen Historiker eine Geschichte, die so nie ein Mensch erlebt hat. Beispielsweise kennt ein Bürger des Wilhelminischen Zeitalters nicht die Kabinettsakten, die dem Historiker erlauben, die Vorgeschichte des I. Weltkrieges zu rekonstruieren. Kurzum, das moderne Wissen hat nichts mit den konkreten Erfahrungen und Entscheidungen des Menschen zu tun.

Wenn man aber die Realität von diesen konkrete Erfahrungen aus rekonstruiert, wenn man versteht, dass Menschen niemals genug Gründe haben für ihre Gründe, andererseits der Blindflug des Menschen sich nicht in reiner Irrationalität erschöpft, dann muss man die Geschichte so erzählen wie Friedrich Schiller sie beispielsweise in seiner Geschichte des Abfall der Niederlande von der spanischen Regierung erzählt hat.

Safranski: "Und der Sinn der Geschichte ist ziemlich offen. Schiller war Enthusiast. Er wünschte den Durchbruch der Freiheit - auch im politisch großen Sinne. Er war sich aber auch im Klaren, dass es nicht so ist, wie dann in seiner Zeit angefangen wurde zu denken: - Hegel usw. - dass es gewissermaßen einen Fahrplan der Fortschrittsgeschichte gibt, eine eiserne Logik des Voranschreitens. Nein, sondern wie in allen Lebensdingen: Es ist riskant. Es kann so werden, es kann auch anders kommen."

Und von den konkreten Abenteuern der Dialektik erzählt Sartre nun wieder am eindrücklichsten in den fünf Bänden des Idiot der Familie, seiner Studie über den Schriftsteller Gustave Flaubert und seiner Zeit.

"Was kann man heute von einem Menschen wissen? (...) Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wieder hervorbringt."

Aber in seinen Überlegungen zu Gustave Flaubert spielt auch ein anderes Motiv eine große Rolle: nämlich die Frage nach der Bedeutung der Kunst. Konkreter: Was kann Literatur? In seinem Essay "Was ist Literatur?" aus dem Jahre 1947 prägte Sartre den berühmt-berüchtigten Begriff der "Littérature engagée", der engagierten Literatur. Engagiert sein heißt für Sartre in diesem Zusammenhang nichts anderes, als dass die Prosa eine spezifische Form der Kommunikation zwischen Leser und Autor darstellt.

Ob der Schriftsteller das nun beabsichtigt oder nicht: die Prosa ist der ideale Ort, sich die Welt zur Aufgabe zu machen. Die kommunikative Erfindung der Welt, ihre Verwandlung in intersubjektive Schöpfung, die Realisierung des Realen als Wert, denn das Reale ist niemals nur Tatsache, die Weltwerdung der Literatur als kommunikative Schöpfung - genau das ist die engagierte Literatur.

Bis heute und in die einschlägigen Handbücher hinein wird der Essay so dargestellt, als handele es sich um ein Pamphlet für die Politisierung, um nicht zu sagen: Bolschewisierung der Literatur. Das glatte Gegenteil ist der Fall.

"Ich sage, dass die Literatur einer bestimmten Epoche entfremdet ist, wenn sie nicht zum ausdrücklichen Bewusstsein ihrer Autonomie gelangt ist und sich den zeitlichen Mächten oder einer Ideologie unterwirft, mit einem Wort, wenn sie sich selbst als Mittel und nicht als einen unbedingten Zweck betrachtet.

Ich habe im Übrigen immer die nichtengagierte Literatur einer linksengagierten Literatur vorgezogen, immer. Und ich glaube wirklich, dass eine eigentliche Politisierung für ein Engagement nicht nötig ist. Das ist nur die letzte Form des Engagements. Engagement, das ist zunächst die Anfechtung einer Situation durch ein literarisches Werk oder deren Annahme, gleichviel. Jedenfalls heißt es anerkennen, dass die Literatur ganz allgemein sehr viel mehr ist, als was sie sagt. Sie schließt notwendig die Infragestellung des Ganzen ein."

Erstaunlicherweise zielt auch Schillers ästhetische Theorie auf einen sehr viel weiter Horizont als den "bloß" der Künste:

Safranski: "Eine der bedeutendsten Schriften der ästhetischen Theorie hat Schiller geschrieben in der Zeit, da er schon mit Goethe befreundet war - so ab 1794: Die Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts. Das ist eine Schrift, da würde man zu kurz springen, wenn man nur sagte, das ist eine Theorie der schönen Künste. Schiller hat da noch etwas anderes am Wickel: Er entdeckt gewissermaßen das Betriebsgeheimnis der Kultur und der Zivilisation. Was ist es? Man könnte so formulieren, Kultur und Zivilisation überhaupt sind eine große Veranstaltung, in der wir versuchen, möglichst viele Ernstfälle in spielerische Ersatzhandlungen zu überführen."

"Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblick vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, (...) er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigeren Lebenskunst tragen."

Friedrich Schiller und Jean-Paul Sartre waren die herausragenden Köpfe ihrer Zeit. Was sie trennt, ist mehr als ein Jahrhundert, was sie vereint, ist, dass sie beide auf ihre Art für ihre Zeit geschrieben haben. Deshalb hatten sie ein Publikum. Was man in unseren Zeiten zierlicher Stipendiatenprosa und der Sponsorenevents ja so ohne weiteres von Niemandem mehr sagen kann.

Sie hatten ein Publikum, weil sie leidenschaftlich nach einem Denken gesucht haben, in dem sich die Menschen ihrer Zeit verstehen konnten. Sie haben sich nicht für die Ewigkeit interessiert und nicht für distanzierte Erklärungen, bei denen es keine Rolle spielt, ob der Mensch ein Kopffüßler oder ein Unkraut ist.

Wir haben es anfangs gesagt: Schillers Idealismus holt sozusagen mehr aus seinem Körper raus als noch drin war. Sartre hat gegen Ende seines Lebens - den nahen Tod vor Augen - einmal gesagt:

"Der Tod, daran denke ich nicht. Er ist nicht in meinem Leben, er wird außerhalb sein. Eines Tages wird mein Leben aufhören, aber ich will auf keinen Fall, dass es durch den Tod beladen wird. Ich will, dass mein Tod nicht in mein Leben eindringt, es nicht definiert, ich will immer ein Aufruf zum Leben sein."
Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, Aufnahme von 1969
Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, Aufnahme von 1969© AP Archiv
Eine Schiller-Büste im Garten des Museums "Schillers Gartenhaus" in Jena
Eine Schiller-Büste im Garten des Museums "Schillers Gartenhaus" in Jena© AP
Postkarten mit dem Bildnis Fridrich Schillers an einem Souvenirstand in Weimar
Postkarten mit dem Bildnis Fridrich Schillers an einem Souvenirstand in Weimar© AP
Baader-Anwalt Klaus Croissant (li.), Jean-Paul Sartre und Daniel Cohn-Bendit in Stuttgart, 4. Dezember 1974
Baader-Anwalt Klaus Croissant (li.), Jean-Paul Sartre und Daniel Cohn-Bendit in Stuttgart, 4. Dezember 1974© AP Archiv