Die Mutter aller Städte

20.02.2007
London ist eine einzigartige Weltstadt. Peter Ackroyd führt den Leser in seiner Stadt-Biographie in die zahllosen Facetten dieser Metropole ein und schlägt Brücken zwischen der wilden Vergangenheit und der glänzenden Gegenwart.
Dies ist kein Buch, das man "durchkriegen" muss. Man darf es nicht mal wollen. Dann kann man darin schwelgen, denn:

"London ist ein Labyrinth, halb aus Stein, halb aus Fleisch. Es kann nicht als ein Ganzes in den Blick genommen werden, sondern ist nur als eine Wildnis aus Gassen und Passagen, aus Innenhöfen und Durchgängen zu erleben, worin sich auch der erfahrenste Bürger verirren kann. Die Leser dieses Buches sollen wandern und sich wunder’", empfiehlt Peter Ackroyd im Vorwort und verspricht "Augenblicke der Ungewissheit" ebenso wie "Augenblicke der Offenbarung, die sichtbar machen, dass diese Stadt die Geheimnisse der Menschenwelt birgt."

Es braucht die Sprachmacht eines Romanciers, um diese Wildnis sinnlich erfahrbar zu machen. Angefangen beim Meer, das an ihrer Stelle zu Urzeiten lag, bevor London zum Häusermeer wurde, in dessen Ritzen bis heute maritime Relikte kleben. Über die Gründungsmythen, die kaustischen Keltenspott gegen römische Imperialphantasie setzen, und den Ursprung der Stadt als Marktplatz für alles, was der Mensch an Neuem, Gutem wie Grässlichem, in Umlauf gebracht hat. Bis hin zu den historischen Zeiten, die wir "kennen", weil ihre Splitter auch zu unserem kulturellen Erbe gehören: Das elisabethanische Zeitalter mit seinem lichten Geist und seinen Greueln, die Theater, die Knäste, die Brände, die Pest, die Verbrechen, die Architektur, Swinging London und endlos so weiter.

Chronologisch brav erzählen lässt sich das nicht, Wildnis kennt keine Linearität. Die 31 Kapitel bündeln innere Zusammenhänge quer durch die Zeiten: "London als Schaubühne" etwa oder "Nacht und Tag", "Frauen und Kinder", "London im Luftkrieg" oder "Die gefräßige Stadt". Ackroyd verwischt mutwillig Gattungs- und Genregrenzen oder bringt sie zum Bersten, verschneidet Fakten, Spekulationen und schiere Fiktion. Er ist beides: Literat und Londoner durch und durch, er er-schreibt seine Stadt, in seiner feinen Prosa kann man sie förmlich riechen.

Das radikale Konzept geht bis in die Optik. Neben dem breiten Strom des Fließtextes liegt eine unüblich breite äußere Randspalte, in der immer wieder Zitate von gerade beschriebenen Personen oder Nebengedanken und -informationen auftauchen. Dinge, die konventionell in Fußnoten verschwinden, werden zu "asides", fast wie im elisabethanischen Theater. Die vielen Bilder, Porträts und Illustrationen dellen den Textfluss regelrecht ein, brechen den Satzspiegel und fransen die Ränder aus. So reflektiert das Layout den Esprit der Stadt.

Eine Biographie, das ist wörtlich übersetzt eine Lebensschrift, die Beschreibung eines Lebens. In diesem Fall des Lebens einer bestimmten Stadt, die nicht zufällig die moderne Großstadt an sich ist, die "Mutter aller Städte". Tonnen von Papier sind vorher beschriftet worden und werden weiter beschriftet über London, von den Zeichen anderer Künste wie Film und Musik und anderer Medien ganz abgesehen. Peter Ackroyd hat die Quintessenz herausdestilliert, und das Ergebnis ist ein Meisterwerk - von Holger Fließbach glänzend, weil so kenntnis- wie wortreich übersetzt. Oder genauer: Ein Kunstwerk von unheimlicher Verführungskraft - Absinth und Nektar gleichzeitig.
Rezensiert von Pieke Biermann

Peter Ackroyd: London - Die Biographie
Übersetzt von Holger Fliessbach
Knaus Verlag, München 2006
800 Seiten, 25 Euro