Die Mutter aller Soaps

Von Beatrix Novy · 08.12.2010
Sie ist die Urmutter der modernen Endlos-Serien im deutschen Fernsehen. Die Lindenstraße war von ihrem Erfinder Hans W. Geißendörfer von vornherein als unendliche Geschichte geplant. Als Lebensprojekt für alle Beteiligten und für die Zuschauer, nach dem Vorbild der britischen "Coronation Street".
"Wir dreh’n wieder! Achtung! Und Ruhe bitte!"

"Ein Spiel ohne Grenzen ist da ausgebrochen",

schrieb der SPIEGEL damals, noch ganz benommen von der Ausstrahlung der ersten Folge der Lindenstraße am 8. Dezember 1985.

"Wer hat dem hohlwangigen Zollsekretär Siggi Kronmayr wohl ein Verfahren wegen Verdachts auf Bestechlichkeit angehängt, und warum kommt Marion Beimer erst gegen Mitternacht heim, verheult und blutüberströmt?"

Und das sollte jetzt ewig so weitergehen? Immerhin: Zehn weitere Folgen waren schon gedreht, 52 geplant ...

" ... aber ‘500 oder 1000 oder noch viel mehr’ sollen es werden, Geißendörfer hat sich da ganz schön verrannt."

Verrannt? Die Tausendste hat der Produzent der Lindenstraße, Hans W. Geißendörfer, längst gefeiert, und immer noch heißt es:

"Wir dreh’n wieder!"

Mittlerweile überspannt die Lindenstraße eine ganze Generation. Kinder, die 1985 geboren wurden, haben noch nie einen Fernsehsonntag ohne sie erlebt. "Dallas" kam und ging. Mit dem "Denver Clan" verschwanden die Schulterpolster, selbst die Regierung Kohl war irgendwann zu Ende, aber nicht die Lindenstraße.

"Folge 300 wurde ich geschieden, Folge 331 habe ich den ersten Kuss mit meinem zweiten Mann getauscht."

Mutter Beimer, bekannt auch unter ihrem Echtnamen Marie-Luise Marjan. Eine Ausnahme. Im geschlossenen System Lindenstraße sind Schauspielernamen schon deshalb Nebensache, weil es schwer genug ist, das Personal samt seinen komplizierten Beziehungsverflechtungen im Blick zu behalten.

Viele sind gekommen und gegangen in diesen 25 Jahren, auch Philipp Neubauer, Lindenstraßenname: Philipp Sperling.

"Angefangen hab ich hier 1992, da war ich 17. Hab erst mal angefangen für ein Jahr, geplanterweise, so hat sich das dann entwickelt und zu was Längerem ausgebaut. Ich hab keinen Unterricht gehabt, das war im Endeffekt learning by doing in dem Prozess des da Arbeitens."

Auch das trug zu Lebensnähe bei in einer Serie, die so alltäglich wie möglich wirken sollte – und so aktuell: Tschernobyl und Bundestagswahlen, Rostock-Lichtenhagen und Jürgen Möllemann, Wiedervereinigung und Asylpolitik – alles erlebten die fiktiven Mietshausbewohner mit.

Die soziale Mischung, die Geißendörfer seiner Lindenstraße verordnete, reicht vom Arzt bis zum Dönerverkäufer, anders als in bonbonfarbenen Nachahmerserien, in denen auch Schlossbesitzer und sonstige Glamourtypen mitmischen. Ja, so normal wirkt der Lindensträßler, dass die serientypische Vermischung von Fiktion und Realität unausweichlich ist. Also passierte es Philipp Neubauer alias Sperling oft,

" ... dass viele Leute, die man so auf der Straße trifft, einen erkennen, und man dann gefragt wird: ‘Ach Du bist doch der eine Bekannte vom Gunnar, der aus Jackerath’."

Immer noch besser als beschimpft zu werden, weil man sich in der Rolle der Iffy wieder danebenbenommen hatte oder als Klaus kurz der rechtsradikalen Szene zuneigte. Hier in der Lindenstraße ist so mancher im Lauf der Jahre zeittypischen Versuchungen erlegen, sei es aus der rechten, der islamistischen oder der Drogen-Szene. Hier wurde der erste schwule Kuss gewagt, und wegen dieser Hochzeitsszene wäre der Bayrische Rundfunk fast ausgestiegen.

"Carsten Flöter, wenn du bereit bist, mit dem dich liebenden Theo Klages eine lebenslange Partnerschaft einzugehen ... "

Die Lindenstraße will ein Zeitpanorama sein. Dabei stehen sich allerdings Realismus und dramatische Verdichtung oft im Weg. Das Spektrum politischer Haltungen bleibt schmal, in der Lindenstraße denkt die Mehrheit geißendörferisch, also linksliberal bis alternativ. Schon gar nicht wohnt man im wirklichen Leben mit soviel Kriminalität Tür an Tür: Erpressung, Totschlag, Zuhälterei, Kindesraub, Drogenhandel, Mord. Junger Zuschauer, der Du zum ersten Mal einschaltest: Momo, der mit der Rastafrisur, ob Du es glaubst oder nicht, hat den eigenen Vater erstochen. Das ist natürlich lange her.

"Also, ich habe auch immer das Gefühl gehabt auch beim Drehen, hauptsächlich stolpert man von einer Problemsituation in die nächste, und selten von einem Frohsinn in den nächsten ... Ich glaube das ist einfach eine Grundkonstruktion solcher fiktionalen Serien, würde alles immer nur in der Mitte dümpeln, gäb’s ja überhaupt keinen Anlass, sich weiter mit den Figuren einzulassen."

Ergo: Zu lachen gibt es Sonntagsabends im deutschen Fernsehen wenig. Lindenstraße, Tatort, Anne Will oder Günther Jauch ... Aber - will es jemand anders haben?
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