Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Expeditionen (2/4) Die Menschen vom Rand der Welt Eine Reise zu den Nenzen in die Arktis Von Tina Uebel Produktion: Dlf 2019 Redaktion: Tina Klopp Sendung: Freitag, 11.01.2019, 20:10-21:00 Uhr Regie: Matthias Kapohl Sprecher: Martin Bross, Sigrid Burkholder, Robert Dölle, Josef Tratnik, David Vormweg und Tina Uebel Ton und Technik: Ernst Hartmann und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo Flugzeug / Ansage Salekhard Ansage: Die Menschen vom Rande der Welt. Eine Reise zu den Nenzen, den Rentier-Nomaden der russischen Arktis Feature von Tina Uebel Autorin: Salekhard. Auf dem Polarkreis gelegen, drei Flugstunden nordöstlich von Moskau. Sonne grellt durch die Flugzeugfenster, ein langer Sinkflug hinein in leeres Land. Die Tundra. Schnee, gefrorene Flussläufe, anorektische Vegetation. Yamalia. Die Nenzen, ein nomadisches Volk von 44.000 Menschen leben seit Jahrhunderten hier, ziehen mit ihren Rentieren über das leere Land, im Winter nach Süden, im Sommer nach Norden. Sie gaben der Yamal-Halbinsel ihren Namen - Yamal bedeutet: Rand der Erde. Ende der Welt. Das Wort "Nenzen" bedeutet schlicht "Mensch". Atmo Auto / Fahrt nach Charp, Gespräch Alexey & Fahrer Autorin: Wir fahren über den gefrorenen Ob, als sei das gar nichts. Alexey plaudert mit seinem Fahrer und Helfer, ich bestaune die Ice Road über den Fluss. Ehrfurcht und schiere Freude. Die Freude über das leere Land. Alexey: So, my plan's to get fun, but I know it's not, eh, it's like some kind of answer maybe you ... unexpectable for you. Sprecher: Mein Plan ist, Spaß zu haben, aber das wird dich jetzt nicht übermäßig überraschen. Autorin: Alexey Tarasow, er ist 37, zugezogen aus dem Süden, in die Arktis verliebt. Er baut in Salekhard, dieser trotzigen Stadt im Permafrostboden, sein eigenes Tourismusunternehmen auf. Bietet Survivalkurse, lehrt Fischen, geht Riverraften und auf Schneeschuhexkursionen. Seit fünf Jahren arbeitet er mit den Nenzen zusammen, organisiert Begegnungen und Homestays für Fotografen, Touristen, Ethnologen. Mich begleitet er zum zweiten Mal, als Guide, Übersetzer und Freund. Alexey: But right now we're close to the Charb village, and we arrive to Charb, and then we change our car for snowmobiles, two snowmobiles with the Nenets already waiting for us up there, and then we will go by the snowmobiles to the Raindeer Nenets camp. It's approx 30 kilometers from Charb through the mountains. So we will cross several passes - hope we will have nice views, looks like we'll have it, but also I noted that we will have a strong wind. So you need to take on everything, every stuff what you have with you, like every clothes. Voice over Alexey: Wir sind kurz vor dem Dorf Charb, und in Charb werden wir auf Snowmobile umsteigen. Die Nenzen erwarten uns dort mit zwei Snowmobilen, wir werden mit ihnen dann zu ihrem Camp fahren. Etwa 30 Kilometer in die Berge. Über einige Pässe - ich hoffe, wir werden gute Sicht haben, sieht so aus, aber ich muss sagen, wir haben starken Wind. Du wirst alles anziehen müssen, alles, was du dabei hast, alle Klamotten. Uebel: Otherwise we'll die, right? Alexey: Frozen for sure (Lachen). Maybe not die, but, yeah. Uebel: Ich frage ihn, ob wir sonst sterben würden, er sagt, das vielleicht nicht, aber wir wären danach sicher tiefgefroren. Autorin: Die Nenzen, in ihre traditionellen Malitsas, schwere Rentierfell-Überwürfe gekleidet, hölzerne Schlitten an die Snowmobile gespannt, erwarten uns schon am Treffpunkt. Alexey lädt sein Snowmobil vom Anhänger und wir vertäuen das Gepäck auf den Schlitten. Die Hütehunde der Nenzen umspringen uns aufgeregt. Dann brechen wir auf. Autorin:?Es sind Minus 15 Grad, der Windchillfaktor ist grausam, und es gleißt eine entrückte Sonne über dem Land, all diesem Land, aus nichts als Eis und Wind gemacht. Autorin: Das Camp der Nenzen liegt einsam und wie durch die Jahrtausende gefallen zwischen den kargen Berghängen: Vier Chums, tipiartige Zelte, mit schweren Lagen aus zusammengenähten Rentierfellen bespannt, ducken sich in den Schnee. Autorin: Frauen hacken Feuerholz, Männer bearbeiten mit Äxten die Kufen der filigranen hölzernen Schlitten. Erst auf den zweiten Blick sieht man die Einsprengsel der Moderne: Zwei Jungs, wie alle in Rentierfell-Malitsas gekleidet, lehnen an einem Snowmobil und spielen an ihren iPhones. Natürlich hat man iPhones - bloß meistens halt keinen Empfang. Alexey: And it's pretty curious, because they know, like: You can find the coverage on this mountain, on this top, on this top, on those tops. Up there you'll find some connection. And then deeper into the mountains, the mountains change and the cell phone operators change, too. From this side, from the west side of the mountains, you can find the coverage of for example of P-Line and MTC, but from that side, you'll never find MTC and P-Line, for sure. So it's like different operators in different kinds of mountains have the coverage. And it's pretty good to know where to find the connection. And when they have the connection, they go crazy. They start calling, spend one hour maybe on the phone. Voice over Alexey: Es ist ganz lustig, sie wissen genau: Du hast Handy-Empfang auf diesem Berg, auf diesem Gipfel, diesem und jenem. Wenn du weiter ins Gebirge reist, ändern sich die Mobilfunkanbieter, und auf verschiedenen Gipfeln bekommst du jeweils andere Anbieter. Das ist ziemlich gut zu wissen. Und wenn sie Empfang haben, drehen sie durch. Sie zücken ihre Telefone und telefonieren manchmal stundenlang. Autorin: Unsere Gastgeber, Wladmir und Praskowja Laptander empfangen uns - mit der Zurückhaltung, die den Polarvölkern eigen ist - in ihrem Chum bei Tee und einer der fünf Mahlzeiten des Tages. Kalorien, wird einem in der Arktis schnell klar, sind eine Maßeinheit der Wärme. In der Mitte des Chums wärmt und knistert aber auch der Holzofen wohlig, auf dem Praskowja kocht, zur Rechten und zur Linken wird das Chum von Lagern aus Rentierfellen gesäumt. Man bietet mir Tee an, geräucherten Fisch, gefrorenes Rentierfleisch, Brot, Kekse mit Dosenmilch, und von allem zu viel. Autorin: Von den fünf Kindern der Familie sind derzeit nur der fünfjährige Vadim und die vierzehnjährige Angela daheim, die anderen gehen auf Internatsschulen oder Kindergärten - selbst die dreijährige Olesya. Alexey: So, this is a really nice place. I like to work in the mountains, and with nomads. With Nenets, with exactly this family. Because they're really nice people, and every time I arrive here, I feel ... I don't know why, I'm a lot of time thinking about that, like, what is it. The pyramide of the Tipi, of the Chum, or because of we're in the mountains, or everything together. So why you feel always this kind of peaceful ... these people have a totally different mentality, and they feel the time in a different way than we do. Especially in the big cities. Voice over Alexey: Dies ist ein wirklich schöner Ort. Ich liebe die Arbeit in den Bergen mit den Nomaden. Mit den Nenzen, mit genau dieser Familie, denn sie sind wirklich tolle Menschen. Und immer wenn ich hier herkomme - ich kann gar nicht sagen, woran es liegt, auch wenn ich oft darüber nachdenke - fühle ich einen tiefen Frieden. Diese Leute haben eine ganz und gar andere Mentalität, und sie erleben die Zeit in einer anderen Art und Weise als wir, anders als vor allem in unseren großen Städten. Autorin: Am nächsten Morgen hat Schneetreiben die Welt verschluckt. Ein Blizzard schmirgelt über die Tundra. Alexey: So, I remember the first time when I arrived here: So I waited two hours in the village - when will they come to pick me up? And I was nervous so much, and I was angry, pretty angry, because they're late. And when Vladimir arrived, I asked him, why are you so long, why are you so uncorrect, why are you making me wait such long time. He was so calm, and, you know, he said to me: It's a snowstorm up there. So I passed as fast as I?could. And I think: What's he talking about, what kind of snowstorm, because, you know, he has a snowmobile, and we have ... I don't know. One week later, when I arrive to the city, I feel so different, a huge difference. And the second trip, another time, you understood totally different. When somebody asked me: What took you so long, you know: There's a snowstorm in the mountains. Voice over Alexey: Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal hier war: Ich wartete zwei Stunden im Dorf darauf, dass sie endlich kommen. Und ich war nervös, und verärgert, ziemlich verärgert, weil sie sich so verspäteten. Als Wladmir dann kam, fragte ich ihn, warum er so spät, so unzuverlässig sei. Er war ganz ruhig und sagte nur: Es ist Schneesturm da oben. Ich dachte, wovon redet er, was für ein Schneesturm, er hat ja schließlich ein Snowmobil und so ... eine Woche später, als ich in die Stadt zurückkam, fühlte ich mich vollkommen verändert. Und beim nächsten Trip hatte ich ein ganz anderes Verständnis. Wenn mich jemand fragt, wo warst du so lange, ist halt klar: Da ist ein Schneesturm in den Bergen. Autorin: Auch unsere derzeitigen Pläne müssen sich dem Schneesturm beugen. Wir sind eigentlich hier für die große Frühlingsmigration, mehrere hundert Kilometer nach Norden, doch in diesem Wetter ist nicht daran zu denken. Es ist die Natur, die harsch ihre Rhythmen diktiert, und die Natur sagt: Warten. Selbst wenige Schritte vom Camp weg können lebensgefährlich werden, zwischenzeitlich sinkt die Sicht unter zwei Meter. Wir warten fünf Tage lang. Sowenig das Warten im Schneesturm Untätigkeit bedeutet - die Frauen nähen, kochen, hacken Holz, die Männer fahren mit ihren Snowmobilen zum Bäumefällen und arbeiten selbst in dichtem Schneetreiben an den Schlitten - so wenig bedeutet die Ruhe Langsamkeit. Sprecher: Die Nenzen werden sich beeilen, wenn sie Tee für ihre Gäste aufbrühen Autorin: ... schreiben Andrei V. Golovnev und Gail Osherenko in "Siberian Survival - The Nenets and their Story", erschienen 1999 bei Cornell University Press ... Sprecher: ... wenn sich die Herde im Nebel zu verlieren droht oder in eine Stampede verfällt beim Geheul der Wölfe, wenn sie ein neues Camp errichten müssen nach einer langen Migration. Im Camp selbst liegt oder ruht der Mann zumeist im Zelt, sitzt auf einem Schlitten, geht langsam herum oder steht einfach, die Hände tief in seiner Malitsa vergraben. Währenddessen mag er schleifen, schmirgeln, bohren, einzapfen, rauchen oder sich kratzen, aber er wird all diese Dinge in großer Ruhe tun. Die "Langsamkeit" hat ihren eigenen Rhythmus, vorgegeben von der äußeren Realität, einer Realität, die man nicht "beschleunigen" kann, die sogar Schaden nehmen oder gefährlich werden könnte, wenn man sie zu hastig angeht. Für Männer wie für Frauen reguliert Mäßigung in der Bewegung die "Temperatur" von Körper und Seele. Wer überhitzt, friert im Winter und provoziert Moskitoattacken im Sommer. Die Menschen "finden" ihren Rhythmus in der Natur, anstatt der Natur einen aufzwingen zu wollen. Autorin: Lange arktische Tage im Rhythmus der Nenzen. Im Halbdunkel des Chums, erleuchtet von einer Petroleumlampe, reinigen Praskowja und Angela die Innenseiten der Rentierfelle mit einem Metallschaber. Das Holz knistert im Ofen, und unter starken Böen knarren die Zeltstreben. Alexey und ich versuchen, die Flechttechnik zu erlernen, mit der die Rentierhautlassos geflochten werden. Wladimir, dessen wettergegerbtes Gesicht und ruhige Autorität ihn älter erscheinen lassen als 39, zeigt es uns nur einmal, dann müssen wir selbst klarkommen. Auch das scheint allen Polarvölkern eigen, ich kenne es von meinen Reisen zu den Sami und den Inuit - sie lehren nicht durch erklären. Man schaut zu, dann muss man rausfinden, wie man selbst klarkommt. Das Überleben in der Arktis hängt von der Selbständigkeit des einzelnen ab. Alexey: You just think, okay, you get up, you should do something, you have light - or we don't have light yet. And during the evening, the light is over, so you should do something like prepearing the firewood, find a tree, cut this tree, sawing, and then chopping to make enough logs for the night, for the evening of the day, for the morning, to heat the chum. It's curious, because the Nenets, they immediately grab you and give you some tasks, you know. They're watching you, and as soon as they understand what kind of skills you have, so what kind of job you can do - they let you do this job. You can chop: Chopping. Sawing: Saw. If you're pretty good in handcrafting, I can work with the ax and do some nice things like a sled or skis of the sled - they will make you do that. Because: If you can do that, please do that. It's also a curious thing, because ... I don't know. When you're here, you understand, you should somehow help them. Voice over Alexey: Wenn du aufstehst, denkst du darüber nach, was du tun könntest, sobald es hell wird. Einen toten Baum finden, fällen, zum Camp bringen, Holzhacken, damit genug Scheite für den Tag, den Abend und den nächsten Morgen da sind. Es ist bemerkenswert, wie die Nenzen einem sofort Aufgaben geben. Sie beobachten dich, und sobald sie sehen, welche Fähigkeiten du hast, lassen sie dich dementsprechend helfen - Holzhacken, Sägen, Schreinern. Weil, wenn du etwas kannst - bitte tu es. Wenn du hier bist, begreifst du sofort, dass du irgendwie mitarbeiten solltest. Uebel: But it seems to me that, because, you've been coming here for how many years now? Alexey: Five years. Autorin: Alexey kommt jetzt schon seit fünf Jahren zu den Nenzen. Im vergangenen Jahr hat er sein erstes Rentier gefangen, aber er lernt immer noch dazu. Alexey: For sure. For sure it's a long process. It depends on what kind of skill do you want to take from these people. You know, for example for me, as soon as I start practicing in some touristic business, it's pretty important ... like for the men. So sometimes you should have the chance to tie something, or strap in the luggage, or do something with rope, so you should strap the rope without any weakness, you know. And they gave me this knowledge, and it's so easy, so brilliant, and I'm still grateful for that. Also, I wanna learn how they're braiding. Because they braid the lasso. They braid a lot of things. And I want to know how they make the ropes from the things you have close to your hands. And what you can do with the skin. Voice over Alexey: Das Lernen ist ein langer Prozess, natürlich. Ich habe von ihnen zum Beispiel ihre Knoten und Vertäungstechniken gelernt, so einfach, so brilliant, so cool und nützlich, auch für meine sonstigen Tourismus-Unternehmungen. Und das Flechten will ich lernen, das Flechten von Lassos und anderen Dingen, und wie man Seile macht aus dem, was man grad zur Hand hat, und die Verarbeitung der Felle. Autorin: Ich sage, ich hätte das letztes Jahr genauso empfunden: Vier oder fünf Tage hätten die Nenzen mir zugesehen, ob ich einigermaßen fähig wäre, beim Holzhacken zum Beispiel, und dann erst hätten sie langsam begonnen, mich zum Helfen aufzufordern. Nachdem ich mich beim Abbrechen und Aufbauen des Chums nicht allzu blöd angestellt hatte, hat mich Praskowja zum ersten Mal abends helfen lassen. Beim Kartoffelschälen. Und ich bin so stolz gewesen, mit dem Gefühl, yeah, erst musst du dich hier beweisen, bevor du helfen darfst und sie dir Dinge beibringen. Alexey: Yeah, exactly, exactly like this. Because maybe you're totally unskilled or have a bad coordination, in this case without help you could break things or screw up, so yeah, they do like this. Autorin: Ja, so liefe es, bestätigt Alexey - denn ungeübte oder ungeschickte Personen sind ein Risiko. Autorin: Immer wieder, wenn es uns im Chum zu eng wird, stehen wir draußen im Schneesturm, den Rücken zum Wind. Die Männer führen bedächtige Gespräche, als lehnten sie an der gemütlichen Theke ihrer Lieblingskneipe - obwohl der Sturm derart stark ist, mein Mikro kapituliert und die Finger frieren in Sekunden am Metall des Aufnahmegerätes fest. Wir genießen den Sturm trotzdem - bis es dann wieder Zeit ist, zurück an die Arbeit zu gehen. Sprecherin: Fern von dem Berg-Der-Seinen-Namen-Verlor, im Inneren der Erde, fern von den Wäldern, den großen, den kleinen, liegt die Horde. Dies ist das einzige Wort, um sie zu beschreiben, diese Versammlung von bleichen, verängstigten, verlorenen Menschen. Sie existieren wie Ameisen in einem gewaltigen Ameisenhaufen. Nur dass in einem Ameisenhaufen zumindest Ordnung und Gesetzmäßigkeit, Aufteilung von Arbeit herrscht. Im Namen der Arbeit bringt jede fleißige Ameise den Grashalm, das Sandkorn zum Haufen. In der Horde jedoch ... Die grauenhafte Horde ist wie ein Nest voller Würmer, sich von Schmutz nährend und dann von einander. Ihre Herkunft zu erzählen ist schmerzlich. Die Menschen der Horde sind die Nachkommen derjenigen, die einst in Arbeit verwurzelt waren. Die Essenz ihres Lebens war das Ren - jenes schöne Tier mit vier Beinen, dem puscheligen Schwanz und wundervollem Fell in verschiedensten Farben, von Blauschwarz zu einem Hellblau wie Morgennebel über dem See. Erhabene Krone des Rens war sein Geweih. Es wuchs auf seinem Haupt wie Strahlen der aufgehenden Sonne, aus dem Fell entsprossen und in starkes Gebein übergehend, dann elegant sich verzweigend. Auf ähnliche Art werden Lieder geboren. Das Geweih war das Lied des Rens, so sagten die Ahnen. Rentiere und Menschen lebten ein einziges, gemeinsames Leben, so eng verbunden, dass der Tod des einen den Tod des anderen bedeutete, sowohl physisch wie seelisch. Die letzten der freien Menschen gingen durch die Horde wie durch eine Spießrutengasse. Viele wurden getötet und verstümmelt. Der Rest ließ sich in Behausungen nieder, an diesem schmachvollen Ort des Todes. Die Frauen liebkosten die Rentiere ein letztes Mal. Die Männer fassten ihre Lebensbrüder an den Mähnen, fielen auf die Knie, erhoben dann das Henkersbeil. Sie ließen das Beil fallen, ohne zu begreifen, dass ihre Seelen nunmehr für immer tot sein würden. In diesem Moment begann eine neue Ära, eine Ära der Sklaverei. Denn Menschen ohne Arbeit - Arbeit, ihren Händen, ihrem Geist, ihrer Seele von Gott zugewiesen - verwandeln sich in Sklaven. Autorin:?In ihrem Roman "Die Horde" kleidet die Nenzen-Schriftstellerin Anna Nerkagi das Drama der arktischen Völker in die Worte eines grausamen Märchens. Das stille Drama ist überall gleichlautend: Das Schwinden ihrer Welt. Durch den brachialen Einbruch der Moderne. Durch Landverlust, insbesondere im Zuge der Ausbeutung von Bodenschätzen. Durch Jagdbeschränkungen ferner Gesetzgeber und den Wandel der Natur unter der globalen Erwärmung. Durch die Untätigkeit, die mit dem Verlust der traditionellen Lebensweise einhergeht, und den Alkohol. Alkoholismus, häusliche Gewalt, Suizide insbesondere von Teenagern sind gravierende Probleme, ob bei den sibirischen Völkern, den skandinavischen Sami oder den Inuit in Grönland, Kanada und Alaska. Die Nenzen jedoch gelten als eines der resilientesten Völker. Sie blicken auf eine kriegerische Geschichte zurück - die Nenzen haben sich nie ergeben. Sie kämpften erst gegen die Eroberung durch die Russen im 16. Jahrhundert, gegen die Zwangschristianisierung im 17. Jahrhundert, sie erhoben sich schließlich gegen die Sowjetisierung. Sie sind immer noch hier. Autorin:? Ich versuche, während des Schneesturms einen ruhigen Moment für ein Gespräch mit Wladimir zu finden. Ich weiß inzwischen, so ein Gespräch braucht Zeit und folgt einem gänzlich anderen Rhythmus, als wir es gewohnt sind. Alexey hat gelernt, sich darauf einzulassen: Alexey: If you have a serious conversation, they don't hurry with answers, and always think. So in the big expedition, what I?told you before, to the Kara Sea, I went with Vladimir, so we worked together. And, curious thing, when we deal with how we will go, and how are the stakes and where will we stop, on this meeting with him were the friends of mine. And because the conversation was serious, he didn't hurry. And me too. I know the culture already, more or less, how everything is going ... But I understood him, why we speak so, because at the same moment, a huge level of different kind of processes arrived in his head, not because he's slow, or dumb, no. It's just his thoughts, ideas: When we start, when we finish, in the plan. Okay. So if he'll go with me, he should prepare his family and everything around the raindeer and the herds and everything, during this time he'll miss it - not in the camp. Organize and prepare it. So, how he should prepare himself, what he should have with him. It's a huge amount of different kinds of thoughts and ideas what he should do. And in the same moment, it was a huge process in his head, about situations, connections and everything. Voice over Alexey: Wenn du ein ernsthaftes Gespräch führst, beeilen sie sich nicht mit den Antworten, und machen lange Pausen um nachzudenken. Auf der großen Expedition zur Kara-See, von der ich erzählt habe, war ich mit Wladimir unterwegs, wir haben zusammengearbeitet. Wir sprachen darüber, wie wir unterwegs sein würden, wo die Gefahren lägen ... und weil das Gespräch ernst war, redete er langsam. Und ich auch. Ich kenne die Kultur inzwischen mehr oder weniger. Und ich verstehe, warum wir so bedachtsam sprechen: Im selben Moment gehen ihm eine gewaltige Menge Gedankenprozesse durch den Kopf. Nicht, weil er langsam oder dumm wäre, es sind nur viele wichtige Gedanken und Ideen: Der Plan, wann wir starten, wann wir enden. Wie er für seine Abwesenheit die Dinge im Camp, mit der Familie, mit den Rentieren und allem anderen regeln kann und muss, organisieren und vorbereiten sollte. Was er selbst für die Reise vorbereiten und mitnehmen muss. Während er spricht, laufen in seinem Kopf eine große Menge Überlegungen ab, über denkbare Situationen, Verbindungen und alles Mögliche. Autorin: In all dem Nichtgeschehen während des fünftägigen Blizzards ist eigentlich jeder zu beschäftigt, ich habe dennoch das Glück, dass sich Wladimir die Zeit für unser Gespräch nimmt. Wladmir, Alexey und ich liegen auf den Rentierfell-Lagern im Chum, die Praskowja abends mit geblümten Stoffvorhängen in sozusagen "Schlafzimmer" abteilt - links schläft die Familie, rechts wir Besucher. Seine schwere Malitsa hat Wladimir neben dem Eingang abgeworfen, er trägt ein gestreiftes Hemd zu den oberschenkelhohen Fellstiefeln. Ich frage ihn danach, wie sich die Nenzenkultur verändert habe in den letzten dreißig Jahren, Alexey übersetzt ins Russische, dann hören wir zu. Wladimir: (Russisch) Voice over Wladimir: Ich glaube, die Nenzen-Kultur ... wenn ein Mensch so lebt, wie es sich gehört und wo er leben soll, dann verändert sich die Kultur gar nicht so sehr. Bei uns bleibt das, was gut ist, das bleibt so ... und das, was nicht gut ist, was nicht nötig ist, das lassen wir hinter uns. Seit den 2000er Jahren hat sich unser Glaube geändert, weg von der alten Tradition. Wenn wir immer noch im alten Leben leben würden, so wie früher unsere Väter und Großväter, dann glaube ich nicht, dass jemand von uns bis zum heutigen Tag überlebt hätte. Ich bin sicher, zu 90 Prozent. Diese alte Lebensweise, ich sehe das, da verlieren die Leute manchmal die Füße, die Nase, die Hände. Durch Erfrierungen. Wegen des Alkohols, wegen der Trinkerei. Die Trinkerei verdirbt die Leute, tötet sie. In unserem Bezirk haben sich Leute dadurch verändert, Leute, die jünger sind als ich, aber auch Ältere. Die waren Heiden. Die haben viel getrunken und viel geraucht und so weiter, aber dann haben sie ihren Glauben geändert und fingen an, nach der Schrift zu leben. Von der alten Tradition ist nur noch ein bisschen übrig geblieben. Das ist unsere eigene Entscheidung, da mischt sich niemand ein in unsere Kultur, nicht mit Gewalt, niemand verlangt von uns, dass wir als gläubige Baptisten leben, es ist unsere eigene Entscheidung. Gott hat alles verändert. Ich selbst habe vom 16. bis zum 24. Lebensjahr getrunken, geraucht, habe danach bewusstlos im Schnee gelegen. Dann habe ich das alles aufgegeben, und da hat sich mein ganzes Leben vollkommen verändert. Das Leben ist leichter geworden, leichter und besser. Früher gab es viel Mord und Raub, das ist vorgekommen. Wir bemühen uns immer mehr zu lernen, wie wir uns von diesen schlechten Dingen fernhalten können. Autorin: Heutzutage mag es das baptistische Alkoholverbot sein, das Wladimirs Clan vor dem grassierenden Alkoholismus bewahrt. Von der ursprünglichen animistischen Religion der Nenzen finden sich zwar im Norden der Yamal-Halbinsel noch Spuren, hier aber hat sie längst an Wirkmacht eingebüßt. Früher hingegen waren es oftmals die Schamanen, die die historischen Nenzen-Aufstände anführten. "Bei uns bleibt das, was gut ist, und das, was nicht gut ist, das lassen wir hinter uns" - in "Siberian Survival" vermuten Golovnev und Osherenko, dass es ihre Flexibilität ist, die den Nenzen ihre Resilienz, also ihre Widerstandskraft, verleiht: Sprecher: Verschiedene entscheidende Merkmale helfen die Resilienz der Nenzen-Kultur zu erklären: 1. Eine nomadische Lebensweise, die täglich den Einsatz des traditionellen Wissens und Könnens verlangt. 2. Eine ökonomische Autonomie, die das Überleben in Zeiten von Katastrophen garantiert und die menschlichen Grundbedürfnisse Nahrung, Obdach, Transport, Kleidung und Werkzeug abdeckt. 3. Eine minimalistische Ethik, die den Bedarf nach materiellen Gütern und interkultureller Interaktion begrenzt. Wahrscheinlich kreieren alle diese Faktoren eher Flexibilität als Rigidität - die wichtigste Eigenschaft der Nenzen. Flexibilität hat es den Nenzen ermöglicht als starke Kultur zu überleben, eng verbunden mit dem Land und den wirtschaftlichen Aktivitäten, die bereits ihre Ahnen betrieben. Von Natur aus ist die nomadische Kultur der Nenzen flexibel. Autorin: Jeden Sonntag reisen die Familien der weitverstreuten Camps zueinander, um einen Gottesdienst zu feiern. Diesen Sonntag findet er im Nachbar-Chum statt, und ich habe Wladimirs Erlaubnis, dabei zu sein. Die Frauen, in ihren schönsten, glitzernden Kleidern, sitzen zur Linken. Die Männer, in stolzem Rentier-Outfit, zur Rechten. Es ist Wladimir, der die Hauptpredigt hält. Auch mehrere junge Männer reden, und immer wieder werden stille Bittgebete gehalten, bei denen sich die Anwesenden mit den Gesichtern zur Wand drehen, kniend, die Köpfe gesenkt. Und es wird gesungen, gemeinsam oder in kleinen Gruppen von Mädchen oder jungen Männern. Wladimir: (Russisch) Voice over Wladimir: Was die Arbeit der Männer angeht, da verändert sich in unserer Kultur wenig. Wir arbeiten immer noch hauptsächlich mit den Händen, mit der Axt, mit dem Messer. Es ist höchstens ein bisschen leichter geworden, wir haben Snowmobile und Kettensägen, gelegentlich auch Generatoren. Zum Teil, kann man sagen, gibt es Erleichterungen dadurch. Was die Frauenarbeit betrifft und das, was sie nähen, da ist eigentlich alles beim Alten geblieben. Alles, was sie machen, machen sie mit der Handnähmaschine, ohne Elektrizität. Also, diese Dinge und ihre Herstellung - das Chum, die Rentierfell-Kleidung und -Stiefel -, ich denke, das veränderst du einfach nicht. Bezüglich wiederum der Männerarbeit, nämlich der Schlitten und ihrer Handhabung, das ändert sich meiner Meinung nach ebenfalls nicht, das bleibt so, auch wenn einige Leute das Meiste inzwischen mit Snowmobilen anstatt mit Rentieren machen. Und es gibt Details, die sich ändern: Früher hat man im Sommer an Feuern gelebt, jetzt haben wir auch im Sommer kleine Öfen. Was aber die Elektrizität betrifft, so nutzen wir immer noch die Petroleumlampen, denn man will sich nicht nur auf den Strom verlassen. Statt der traditionellen Sommer-Bedeckung des Chums haben wir jetzt wasserdichte Zeltplanen. Ein bisschen was ändert sich. Aber sonst ist alles gleich geblieben. Autorin: Man fragt sich, wie lange es so bleiben kann und bleiben wird. Autorin: Alexey zeigt mir auf dem Smartphone ein Konzert seiner Lieblingsband in Labytnangi, dem Städtchen auf dem Salekhard gegenüberliegenden Ufer des Ob. Träumt die vierzehnjährige Angela, die im Schein ihrer Stirnlampe an der handbetriebenen Nähmaschine arbeitet, von einem städtischen Teenagerleben mit Discos und Konzerten? Unmöglich zu sagen, die Frauen sind noch wortkarger und scheuer als die Männer, und sprechen zumeist noch weniger Russisch. Autorin: Aber nicht nur der Zeitenwandel, auch äußere Faktoren bedrohen das nomadische Leben der Nenzen.?Auf der Yamal-Halbinsel gibt es große Gasvorkommen, deren Erschließung durch Gazprom die Gebiete der Nenzen schrumpfen lässt und durch Pipelines und Straßen zerschneidet, sowie die Natur stark belastet: Viele Pipelines sind marode, und zudem soll über die Flüsse Rohöl aus den weiter südlich liegenden Fördergebieten ins Nordpolarmeer fließen - nach Schätzungen von Greenpeace allein im Ob jährlich mehr als 100.000 Tonnen. Der Klimawandel verursacht Wetter Phänomene wie überfrierenden Regen im Winter, der mit einer Eisglasur die Weiden der Rentiere versiegelt, und warme, regenarme Sommer. Darüber hinaus belasten zu große Herden die Weidegründe - wobei man einen Nenzen so wenig nach der Zahl seiner Rentiere fragt wie unsereins nach dem Kontostand. Alexey: Last time Vladimir told me they really have less pastures, because the population of raindeer grows, and now with every year it's more difficult to find the pastures. Yeah, it's right. But ... in the same way it depends on weather conditions. This year it's pretty difficult ice conditions. From the tops of the mountains to the middle of the mountains it's covered by ice. So it makes less than half the pastures for the raindeer. It means that all the people are concentrated in one - or few - places. So he said that in the 300 kilometers from here to the Kara Sea you couldn't find any place without people, without any herd. So it's a big pressure for this territory. But if in the next year it will be good weather, it means that from the middle of the mountains to the top of the mountains, they'll have good pastures. But only if there's luck with the weather, of course. Voice over Alexey: Ich habe von Wladimir gehört, es gebe in der Tat weniger Weidegrund, weil die Rentierpopulation wächst, und es werde jedes Jahr schwieriger, Weidegründe zu finden. Zudem hängt die Situation immer von den Wetterbedingungen ab. Dieses Jahr sind sie schwierig, die Berge sind von den Gipfeln bis auf halbe Höhe mit zu viel Eis bedeckt, so dass weniger als die Hälfte an Weidegrund zur Verfügung steht. Weshalb sich alle Nenzen an wenigen Stellen konzentrierten. Er sagte, auf den 300 Kilometern von hier bis zur Kara-See habe sich keine Stelle ohne Menschen und Herden mehr gefunden. Im nächsten Jahr, bei besserem Wetter, kann sich das aber wieder entspannen. Autorin: Das Verwaltungsgebiet "Autonomer Kreis der Yamal-Nenzen" umfasst knapp 770.000 Quadratkilometer und ist einer von vier Autonomen Kreisen, die theoretisch schon seit Sowjetzeiten den indigenen Völkern Sibiriens und der Arktis eine gewisse Autonomie zugestehen sollen. Praktisch aber sind die Nenzen längst eine kleine Minderheit von kaum 6 Prozent, während die Russen mit etwa 60 Prozent dominieren. Das umstrittene Land ist größtenteils in Staatsbesitz - die Schriftstellerin Anna Nerkagi war übrigens die erste, die sich das Land, auf dem ihre Familienherde seit jeher weidet, als Privatbesitz erstritt. Sowohl die Rentierzüchter-Nenzen als auch die Gasförderer besitzen Landrechte, Interessenkonflikte sind unvermeidbar. Ich frage Alexey, ob die Nenzen in der lokalen Politik vertreten sind, in den Parlamenten. Alexey: Yeah. There are lots of Nenets in our local parliament. And some of them in the charge, like major ones. Even in a lot of ... not a lot of but in some organs ... I don't know the right way to say ... in the place where, for example, the Nenets lead our parliament, they make laws. So they move a lot of initiatives about the laws and the regulations of Nenet life here, in the Yamal peninsula. Voice over: Ja, es gibt eine Menge Nenzen in unserer Lokalpolitik, und einige in Schlüsselpositionen. Sie sind im Parlament vertreten und bewegen eine Menge in der Politik in Bezug auf Gesetze und Regulierungen, die das Nenzen-Leben auf der Yamal-Halbinsel betreffen. Autorin: Am sechsten Tag wachen wir auf zu milchigem Sonnenschein und Windstille. Die Bergketten recken sich erleichtert mit ihren Gipfeln ins pastellene Blau. Ich unternehme eine Schneeschuh-Wanderung zum zugefrorenen Flusslauf, als ich ins Camp zurückkehre, sind die Rentiere da. Bislang weideten sie unsichtbar hoch oben in den Bergen, nun sind sie hier, wimmeln hufeklappernd zu Hunderten zwischen den Chums herum, wühlen mit ihren samtigen Schnauzen im Schnee, grunzen bisweilen zufrieden. Drei oder vier tragen Glocken ins Geweih gebunden. In dieser kalten, kargen Landschaft verspürt man ihnen gegenüber einen Hauch der Ehrfurcht, von der Anna Nerkagi spricht. Energie liegt in der Luft. Morgen werden wir aufbrechen. Autorin: Andertags stehen wir früh auf, frühstücken reichhaltig - es wird tagsüber nichts mehr geben -, und ab jetzt geht alles sehr schnell. Hausrat und Habseligkeiten werden auf den Schlitten verstaut, dann wird das Chum abgebrochen. Alle packen mit an, nach einer Stunde liegen Chum und Ofen ebenfalls auf Schlitten. Dann explodiert das Camp in Aktivität: Die Männer treiben die Rentiere heran, in einen Korral aus Schlitten und Seilen, den die Frauen zusammenhalten. Autorin: Aus dem Rentiergedrängel des Korrals fischen sich Wladimir, Praskowja, Yasha, Angela, Vitali und die anderen ihre Zutiere, schirren jeweils ein Vierergespann vor die Schlitten. Immer wieder versuchen einige Rentiere, aus dem Korral zu entkommen, einigen gelingt es, begleitet von großem Gelächter und Geschrei. Autorin: Während die Frauen die Schlittengespanne sortieren - hinter den ersten Schlitten, auf dem die Fahrer und Fahrerinnen sitzen, werden jeweils drei weitere mitsamt ihrer Zugtiere gekoppelt - widmen sich die Männer dem eigentliche Spaß, dem, wofür die Jungs in ihrer Freizeit ausgiebig üben: Mit dem Lasso werden die Leittiere aus dem Pulk gefangen, der dem Korral entkommen ist. Im gestreckten Galopp rasen immer noch Dutzende ums Camp; lachend, schreiend und schweißgebadet - es ist heiß heute, die Sonne gleißt - jagen die Männer unermüdlich mit Lassos hinter ihnen her. Autorin: Wladimir trifft fast jedesmal, wenn er das Lasso wirft. Alexey, der letztes Jahr sein erstes Rentier fing, was die Nenzen ebenso stolz auf ihn machte wie er selbst es war, wirft wieder und wieder daneben. Es ist sehr schwer, selbst wenn man nur auf einen Übungspfahl zielt. Sein bester Freund Toni, der gestern zu uns stieß, versucht es gar nicht erst, verdingt sich stattdessen als sozusagen Hütehund und hilft, die marodierenden Rentiere den Lassoschwingern entgegenzutreiben. Autorin: Nachmittags gegen 15 Uhr setzt sich der Migrationszug in Bewegung, die Snowmobile weit vorweg, um die Rentiere nicht zu stören. Dann die lange Karawane der Schlitten, die Zugtiere des jeweils ersten mit buntbestickten Schärpen geschmückt. Hinter den Schlitten folgt der Rest der Herde, insgesamt mögen es 700 bis 1000 Rentiere sein. Ein Bild, nicht anders als vor hundert oder zweihundert Jahren. Ein trügerischer Anschein von Ewigkeit. Wir ziehen das lange Tal hinunter, dann auf dem vereisten Bett des Flusses entlang. Die dürre Bewaldung ist zurückgewichen, nur noch niedere Sträucher ragen aus dem Schnee. Nach drei Stunden und etwa 15 Kilometern halten wir bereits wieder, errichten innerhalb von zwei Stunden das Camp oberhalb des Flusses, während die Rentiere den Hang hinaufziehen und alsbald hinter den Gipfeln veschwunden sind, als wären sie nur Gespenster gewesen. Mit Einbruch der Dunkelheit fällt eine Kaskade Polarlicht auf uns nieder. Autorin: Am letzten Abend in Salekhard sitze ich mit Toni im Restaurant "Jäger", das in rustikal-stylischem Ambiente ironisch mit Themen-Dekoration spielt: Allerlei ausgestopfte Tiere lugen uns mit ihren Glasaugen über die Schulter. Nach dem Essen - es gibt, überraschend, Rentier - sprechen Toni und ich über unsere Eindrücke. Toni: Yeah. For example when they are catching the rain deer, when I first time saw it, I was just standing there and looking:?What are they doing. Voice over Toni: Das erste Mal, als ich beim Rentierfang dabei war, stand ich bloß da und beobachtete: Was genau machen sie. Autorin: Toni ist Anfang Dreißig, gebürtig in Salekhard, und gleichermaßen Outdoorprofi wie Popkultur-Nerd. Er hilft und begleitet Alexey seit Jahren auf dessen Abenteuer-Touren - bei den Nenzen allerdings war er jetzt zum ersten Mal. Toni: Because nobody was explaining, what are they doing, what should you do, what can you do. I was watching. First time I helped one of them to do it, next time I helped another one, and then I got into it, I got in my mind what I need to do, what I must do, and I started to help them. And I even got a "Padwan"! It's just "well done". Voice over Toni: Weil, niemand hat erklärt, was sie tun, was man tun sollte, wie du helfen kannst. Ich habe beobachtet. Dann habe ich das erste Mal jemandem geholfen, dann einem anderen, und dann hatte ich begriffen, was es zu tun gilt, und ich begann zu helfen. Und ich habe sogar ein "Padwan" dafür bekommen. Das heißt einfach "Gut gemacht", die Nenzensprache kennt kein Wort für "Danke". Autorin: Ich schon, sage ich, Danke übrigens, und wir stoßen an - ich mit einem Bier, Toni mit Preiselbeersaft, er trinkt nicht. Eine Kellnerin räumt die diversen Teller ab, wir haben mehrere Gerichte bestellt und geteilt, so wie man auch bei den Nenzen aus gemeinsamen Schüsseln isst. Toni: They don't use these words, because their living is easier than ours. They don't ask someone to do something for them and then don't thank someone for doing something for them. Because everyone in there helps each other intentionally, without asking and thanking. You can do it, you do it. They ask: CAN you do it; you say, yes, and you do it, or no, and you don't do it. Voice Over Toni: Sie benutzen die Wörter "Bitte" und "Danke" nicht, weil ihr Leben einfacher ist als das unsere. Sie fragen niemanden um Hilfe und sie bedanken sich nicht dafür. Weil jeder dem anderen jederzeit und ganz selbstverständlich hilft. Wenn du's tun kannst, tu es. Sie fragen: KANNST du das tun, du sagst "Ja" und tust es, oder "Nein" und lässt es. Toni: I was told by them, that I am herding the raindeer, catching the raindeer like an eight-year-old boy. I was very proud. That I was compared to an eight-year-old Nenet boy. Voice over: Sie haben mir gesagt, dass ich mit den Rentieren umgehe und sie fange wie ein achtjähriger Junge. Ich war sehr stolz. Dass ich mit einem achtjährigen Nenzen-Jungen verglichen werde. Autorin: Ich bin ein bisschen neidisch und frage mich, ob ich, wenn ich nächstes Jahr wiederkomme und übernächstes, vielleicht selbst irgendwann meine Sache gut genug machen werde, um ein "Padwan" zu ernten. Toni und ich sind uns einig, es ist wohl unmöglich, nicht beeindruckt zu sein von den Nenzen und ihrer Anpassung an die polare Wildnis. Wladimir: (Russisch) Voice over Wladimir: Unsere Zukunft weit voraussagen kann ich natürlich nicht, aber ich denke, aus der Perspektive der Eltern, wenn die Kinder nur bis zu einem bestimmten Grad nach einer höheren Ausbildung streben, dann wird es möglich sein, die Nenzen-Kultur zu bewahren. Aber wenn sie einen höheren Bildungsabschluss erreichen, dann bleibt sicher kaum etwas übrig von der alten Kultur. Jetzt schon bleiben viele Eltern, die in der Tundra leben, ohne ihre Kinder, ohne Helfer zurück. Ja, diese lange Ausbildung in der Stadt, das zieht dann die jungen Leute in das städtische Leben hinein. Und bereits heutzutage ist es so, dass unsere Söhne keine Bräute mehr finden. Viele Töchter bleiben lieber in den Städten. Ja, und jetzt müssen sie nach dem Gesetz schon bis zum 18. Lebensjahr lernen. Ein Sohn, der erst zur Schule geht, bis er 18 ist, danach zur Armee und hinterher in eine Ausbildung, der weiß dann, glaube ich, ziemlich wenig von dem, was man in der Tundra wissen muss. Und ich denke, eigentlich sollte er mir helfen, und ich sollte ihm meine Lebensweise beibringen, unsere Tradition. Ja, und nach diesem langem Lernen, da trifft dann ein Mensch normalerweise auch seine Familienentscheidungen, heiratet, und dann geht er von mir weg. Und dadurch quälen sich viele Leute im Leben, ohne Erziehung der Eltern, damit meine ich, Erziehung in unserem Leben, in unseren Traditionen. Ich will mich von meiner Seite aus natürlich bemühen, dass alle meine Kinder hier in der Tundra bleiben, denn für uns Rentierhüter ist das Leben in der Stadt nicht leicht. Ich kenne viele, die es versuchen und dann doch nicht ganz wie Stadtbewohner leben, weil sie einfach so nicht leben können. Auch das Leben in der Tundra ist ein Beruf, es gibt genug zu tun, und man muss nicht hungern, wenn man sich anstrengt. Ich selber habe nur bis zur 5. Klasse die Schule besucht, ich habe keine Bildung, oder nur so eine Grundbildung. Mein Vater hat mir die Traditionen beigebracht, er hat mir beigebracht zu arbeiten, wie ich lebe, wovon ich lebe. Schlitten, Bögen, jagen, mit Metall arbeiten, das sind auch wertvolle Dinge. Aber in unserer Zeit strebt man natürlich danach, eine städtische Ausbildung zu bekommen, um dort ein Diplom zu kriegen, für einen späteren Beruf. Doch je länger unsere Kinder studieren werden, desto weniger Menschen werden unser traditionelles Leben führen. Die Menschen vom Rande der Welt. Ein Feature von Tina Uebel Mit Dank an Wladmir Laptander, Alexey Tarasow und Anton Kostyukovich. Sprecher: Martin Bross, Sigrid Burkholder, Robert Dölle, Josef Tratnik, David Vormweg und Tina Uebel Mit Zitaten aus "Siberian Survial" von Andrei V. Golovnev und Gail Osherenko, erschienen 1999 bei Cornell University Press, und "The Horde" von Anna Nerkagi, entnommen aus der Anthologie "The Way of Kinship", herausgegeben von Alexander Vaschenko und Claude Clayton Smith, erschienen 2002 bei University of Minnesota Press; Übersetzung jeweils von Tina Uebel. Ton und Technik: Ernst Hartmann und Oliver Dannert Regie Matthias Kapohl Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019 20