"Die Menschen lassen sich immer weniger gefallen"

Fabienne Hoelzel im Gespräch mit Joachim Scholl · 24.06.2013
Sie hat in den Slums von Sao Paulo für ein menschenwürdiges Wohnen gearbeitet, jetzt freut sie sich über den Protest der Brasilianer: Die Schweizer Städteplanerin Fabienne Hoelzel versteht die Wut über absurde Prestigeprojekte und erwartet ähnliche Eruptionen in Afrika oder China.
Joachim Scholl: Auch am vergangenen Wochenende haben wieder Hunderttausende Menschen in Brasilien protestiert gegen Korruption, gegen Verschwendung von Geld für die Fußball-WM, für bessere Bildung, eine bessere Infrastruktur. Die brasilianische Präsidentin Rousseff, sie sucht den Dialog, hat einen großen Pakt mit den Demonstranten angekündigt. Aber liegt die Krise wirklich nur an den genannten Problemen? Am Telefon ist jetzt die Städteplanerin Fabienne Hoelzel. Drei Jahre lang hat sie in Brasilien, in Sao Paulo, sogenanntes Slum-Upgrading betrieben, das war der Versuch, in den Favelas eine städtische Infrastruktur zu schaffen. Guten Tag, Frau Hoelzel.

Fabienne Hoelzel: Guten Tag.

Scholl: Wir erreichen Sie in Ihrem Büro in Genf, wo der Verkehr braust. Sie sind nicht weit weg. Wir machen das Beste aus dieser Umgebung. Woran haben Sie, Frau Hoelzel, speziell in den letzten Tagen gedacht, wenn Sie die Bilder der Proteste in Brasilien gesehen haben?

Hoelzel: Ja, ich denke einfach, dass es eine allgemeine Tendenz gibt und geben wird. Man muss ein bisschen vorsichtig sein, wenn man jetzt allgemeine Vergleiche und Aussagen macht, aber dass die Menschen sich immer weniger gefallen lassen, dass halt Entscheidungen von Top Down, von oben, von einer Elite, auch wenn diese demokratisch gewählt ist, treffen und die Menschen das dann einfach zu schlucken haben und denken, ja, das ist jetzt so, zu kompliziert, das verstehe ich nicht, ich glaube, das wird einfach immer weniger funktionieren.

Brasilien ist für mich jetzt so ein Beispiel, wo man gesagt hat, okay, die wählen mich, super, da können wir die WM austragen, das hat viel Prestige und so weiter und so fort, aber die Menschen realisieren halt, dass es für ihren Alltag und auch für ihre Stadt, für den städtischen Raum eben wenig Auswirkungen haben wird bis gar keine oder sogar negative.

Scholl: Aber Brasilien hat doch eigentlich in den letzten Jahren viel für die öffentliche Infrastruktur getan, das wurde immer in der Öffentlichkeit auch stark gelobt.

Hoelzel: Das ist schon richtig, aber es ist halt im Vergleich, die Steuerlast steigt ja auch, die Menschen verdienen zwar mehr, es gibt eine größere Mittelschicht, aber die Steuerlast ist auch groß und die Menschen fragen sich dann, okay, ich zahle Steuern und was kriege ich dafür? Ich zahle höhere Busgebühren oder Gebühren für den öffentlichen Verkehr, aber die Bus-Infrastruktur hat sich nicht signifikant, sage ich mal, verbessert. Sie hat sich schon verbessert, es gibt zusätzliche Metrolinien, aber es steht in keinem Verhältnis dann zum Preis oder zur Preiserhöhung.

Und ich denke, das macht die Menschen auch einfach wütend, auch wenn man dann eine WM, wo dann diese Kicker spielen, die sehr, sehr viel verdienen, und es ist wieder ein Anlass für die Eliten, und die Brasilianer müssen dann zu Hause bleiben. Das hat man sich ja so ausgedacht, damit die Straßen und der öffentliche Raum nutzbar ist für die ganzen Gäste. Das ist ja absurd, oder? Also, die Stadt wird dann teilweise wie abgesperrt, damit dieser Anlass stattfinden kann.

Scholl: Also, in Ihrem Sinne sind die Proteste nicht nur hausgemacht, sondern häusergemacht?

Hoelzel: Auf jeden Fall. Also, ich denke, das freut natürlich jetzt Menschen wie mich, die mit der Stadt arbeiten, dass hier der städtische Raum zum Tragen kommt, und offensichtlich … Auch hier muss man natürlich vorsichtig sein mit allgemeinen Aussagen, aber ich glaube, es ist eine Generation herangewachsen oder hat sich gebildet, die sich der Bedeutung des städtischen Raumes vermehrt bewusst wird und diesen auch für die Proteste nutzt.

Scholl: Ich meine, Brasilien wurde stets genannt, wenn man so von extrem gespaltenen Gesellschaften gesprochen hat. Also, eine kleine, reiche, städtische Elite schottet sich ab in Gated Communities, vor deren Mauern dann Menschen in Pappkartons leben, oder gigantische Menschenmengen eben in den Favelas. Jetzt ist es eben diese, ja, junge Mittelschicht. Wo hat die sich eigentlich gebildet, wo kommt die her?

Hoelzel: Das ist eine Frage, die je nach politischer oder ideologischer Ansicht unterschiedlich dann beantwortet wird. Man schreibt in Brasilien eigentlich Lula zu, es gibt aber natürlich Menschen, die nicht dieser Ansicht sind, dass es eben nicht Lula zu verdanken ist. Das ist nicht klar, woher diese kommt. Ich würde sagen, es hängt schon damit zusammen, dass Brasilien intelligente räumliche und soziale Politik gemacht hat. Das heißt, ärmere Schichten konnten sich einen gewissen Wohlstand erschaffen, das heißt, die hat sich aus der ärmeren Schicht herausgebildet.

Scholl: Ein solches Projekt war ja Ihr Slum-Upgrading damals in Sao Paulo, Frau Hoelzel.

Hoelzel: Genau.

Scholl: Das war Teil eines öffentlichen Programms, das so diese Verbesserung des städtischen Raums befördern sollte. Inwieweit hat das funktioniert?

Hoelzel: Ja, da müssen wir uns wahrscheinlich noch mal in 20 Jahren unterhalten. Ich bin ja auch dazugekommen, als das schon gelaufen ist, das war dann damals schon drei Jahre alt, jetzt sind es sechs, sieben Jahre, wo das läuft. Muss man sehen in 20 Jahren, wohin das dann geführt hat, wie nachhaltig das war. Aber ich würde schon sagen, dass es wenigstens momentan – und das ist auch schon etwas – für viele Menschen, für die, die eben davon profitieren konnten, die alltäglichen Lebensumstände verbessert hat. Das würde ich auf jeden Fall sagen.

Scholl: Städteplanung in Brasilien, wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Fabienne Hoelzel, die drei Jahre lang in Sao Paulo gearbeitet hat. Erzählen Sie uns von dieser Zeit damals in Sao Paulo, beim Slum-Upgrading, wie haben Sie diese Zeit jetzt auch unter diesem aktuellen Gesichtspunkt jetzt erlebt, an was erinnern Sie sich?

Hoelzel: Also, wenn ich jetzt diese Proteste sehe, freue ich mich einfach, dass die Menschen … Die Brasilianer sind eh sehr politisch, muss man sagen, sie sind sich ihrer Rechte sehr bewusst, vor allem auch dann in den Favelas. Und es freut mich, dass sie sich dessen bewusst sind, welche Kraft sie auch haben können. Also, ich meine, Dilma [Rousseff] muss sich ja jetzt mit diesen Protesten beschäftigen, anstatt dass sie sich diesem Confed Cup widmen kann, und das zeigt ja eigentlich schon, wie eine funktionierende Demokratie eben funktionieren kann, wenn man die Kraft auch nutzt, die man als Volk auch hat.

Scholl: Sie haben vorhin den Begriff Top Down benutzt, also sozusagen das Regieren von oben nach unten. Aber die Regierung versucht ja gerade also, dieses Top Down zu vermeiden, indem sie auch wirklich den Pakt, wie es jetzt genannt wird, den Anschluss an die Demonstranten und an ihre Forderungen sucht. In dem Zusammenhang fallen ja immer die Forderungen, von denen wir schon gehört haben: Korruption, bessere Infrastruktur, die Fahrpreise. Man könnte das ja, wenn man so will, soziale Infrastruktur nennen. Dieser größere städtische Kontext, ist der sozusagen der Rahmen für das Ganze? Weil danach wird ja eigentlich wenig gefragt.

Hoelzel: Ich denke schon, dass das unbedingt der Rahmen ist, gerade weil auch Städte wie jetzt Sao Paulo und auch Rio, die kommen extrem an ihre Grenzen, gerade eben auch durch solche Anlässe. Das ist ja das Paradoxon, glaube ich, was man gerade sieht. Das heißt, ich glaube, der Konflikt ist tatsächlich ein städtischer, es ist ein räumlicher Konflikt. Auch wenn man es jetzt ein bisschen ausdehnt noch. Gut, Rio ist jetzt nicht mein Spezialgebiet, aber da wurden ja auch Favelas und werden Favelas abgeräumt, damit eben diese neuen Infrastrukturen, eben nicht soziale Infrastrukturen, sondern die Infrastrukturen jetzt für diese Stadien und alles, was dazugehört, gebaut werden können. Also ist es eben ein städtischer Konflikt und eben: Wem gehört dieser Raum, wem gehört die Stadt?

Scholl: Dadurch könnte man auch die Parallele zur Türkei ziehen, hier ging es auch bei den Protesten zunächst um einen öffentlichen Raum, den Gezi-Park. Sehen Sie diese Verbindung?

Hoelzel: Absolut, ja, absolut. Also, wie Sie sagen, es hat sich vermischt, aber der Anfang war wirklich der Kampf der Bürger, die gesagt haben, wir wollen lieber diesen Freiraum in der Großstadt behalten und nicht noch eine Shopping Mall oder überhaupt eine Shopping Mall. Und dann vermischt sich das natürlich, weil dann kommen alle möglichen Themen zusammen, die sich dann vereinigen, Trittbrettfahrer, dann gibt es dann leider auch immer Vandalismus oder was weiß ich. Aber das ist so. Der Ursprung war der Raum und das ist fantastisch.

Scholl: Aber die politische Reaktion in der Türkei, die ist natürlich noch absolutes Top Down, da gibt es keinen Dialog. Glauben Sie denn, dass in Brasilien dieser, ja, diese Kommunikation zwischen oben und unten, also zwischen den Bürgern und der Regierung funktionieren wird, dass hier wirklich etwas geschieht?

Hoelzel: Ich würde jetzt so aus dem Bauch heraus sagen, ja, weil es diese Tendenz schon länger gibt. Die Regierung bemüht sich unterschiedlich stark, muss man sagen, es funktioniert auch immer wieder nicht, die Korruption gibt es dann doch immer wieder, die Eliten halten sich. Aber ich würde sagen, tendenziell ja. Brasilien ist eine sehr junge Demokratie, aber sie ist auch stabil. Ich würde nicht sagen, dass es keine Gruppen gibt, die Interesse haben, diese Stabilität zu schwächen, aber ich glaube, es ist stabil.

Scholl: Sie haben in vielen Ländern gearbeitet, Fabienne Hoelzel, derzeit arbeiten Sie an einem Projekt in Lagos in Nigeria. Jetzt, wenn man die Proteste in der Türkei, jetzt in Brasilien wirklich mal miteinander vergleicht, nach Ihrer Interpretation könnte man ja sagen, werden junge Leute in anderen Ländern in anderen städtischen Großräumen nachziehen. Also wird das eine Protestkultur als globales Phänomen der Zukunft sein?

Hoelzel: Ich hoffe es, ja. Ich hoffe und ich denke es auch. Aber wie gesagt, man muss ein bisschen vorsichtig sein. Es gibt ein neues Buch von David Harvey, "Rebellische Städte", auf Deutsch, und das spricht auch von dem. Er ist natürlich erklärter Marxist, also, das hat eine ganz klare politische Richtung auch bei ihm, aber ich denke schon, dass das eine Tendenz ist. Und ich bin natürlich gespannt, wenn die ganzen afrikanischen Länder nachziehen würden oder auch China. Das sagt ja David Harvey auch, dass diese unterprivilegierten Schichten, diese ärmeren eben, sich ihrer Rechte bewusst werden in der Zukunft und dass man dann eben von einer urbanen Revolution sprechen wird. Also nicht mehr von einer Arbeiterrevolution, wie das frühere war, sondern wirklich einer urbanen Revolution.

Scholl: Die Proteste in Brasilien aus der Sicht der Städteplanerin Fabienne Hoelzel mit ihren Erfahrungen aus Sao Paulo. Frau Hoelzel, dankeschön für das Gespräch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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