Die Mauerspringer aus dem Westen

Verkehrte Welt: Manche Mauerspringer wollten von West- nach Ostdeutschland flüchten.
Verkehrte Welt: Manche Mauerspringer wollten von West- nach Ostdeutschland flüchten. © Deutschlandradio
Martin Schaad im Gespräch mit Susanne Führer · 27.07.2009
Der Historiker Martin Schaad hat die Geschichten von 410 Mauerspringern recherchiert, die über die Grenze von West- nach Ostdeutschland geklettert sind. Einige sprangen, weil sie offiziell nicht einreisen durften, andere waren psychisch krank - und manche einfach nur betrunken. "Viele Mauerspringer sprangen am Herrentag und an Sylvester", so Schaad.
Susanne Führer: Als die Berliner Mauer noch stand, da haben Tausende versucht, sie zu überwinden. Es gab spektakuläre Fluchten und tragisches Scheitern, 98 DDR-Bürger wurden auf der Flucht erschossen. Aber weit weniger bekannt: Es gab auch eine Gegenbewegung, Mauerspringer von West nach Ost. Was diese Menschen angetrieben und wie die DDR auf diesen unangemeldeten Besuch reagiert hat, das hat Martin Schaad interessiert. "Dann geh doch rüber - Über die Mauer in den Osten", heißt sein Buch über diese kuriosen Mauersprünge. Martin Schaad ist Historiker, stellvertretender Direktor des Einsteinforums in Potsdam und jetzt zu Gast im Radiofeuilleton. Herzlich Willkommen, Herr Schaad!

Martin Schaad: Guten Morgen!

Führer: 410 Mauersprünge von West nach Ost haben Sie recherchiert. Da fragt man sich doch unwillkürlich, spinnen die? Wenn schon in die DDR, können sie dann nicht über den Grenzübergang gehen? Was hat die angetrieben, die Leute?

Schaad: In der Tat waren einige dieser 410 psychisch krank, verrückt, wenn Sie sagen, spinnen die, dann stimmt das in dem Fall vielleicht. Eine ganz große Gruppe war von alkoholisiertem Übermut angetrieben und hat … Eine Wette wurde abgeschlossen, du kriegst einen Kasten Bier, wenn du rein und raus kommst. Viele Mauerspringer sprangen am Herrentag und an Sylvester. Die gab es auf jeden Fall.

Dann gab es aber auch noch andere Gruppen, die durchaus rationale Gründe hatten, über die Mauer zu gehen, weil sie eben gerade nicht über einen Grenzübergang gehen konnten. Das waren zu einem großen Teil ehemalige DDR-Bürger, die das Land illegal verlassen hatten und nun Einreiseverbot hatten, und die wollten einfach mal wieder Freude und Familie besuchen zum Beispiel. Dann gab es eine Gruppe von den schon erwähnten psychisch Kranken, die oft keine Papiere hatten, da diese von den psychiatrischen Anstalten verwahrt wurden, und die haben in der Mauer und in dem Mauersprung, mit dem Mauersprung eine große Hoffnung verbunden, dass sie auf der anderen Seite eben nicht mehr als verrückt gelten. Im gewissen Sinne waren auch die rational.

Führer: Ich sage mal, die Kirschen in Nachbars Garten. Wo Sie gerade sagten, die Menschen, die Einreiseverbot hatten - es gab ja, das habe ich durch Ihr Buch erfahren, sogar Menschen, die auch Transitverbot hatten, die also nicht mal durch die DDR durchreisen durften. Das war mir eigentlich ganz unbekannt. Herr Schaad, ging es denn diesen verschiedenen Gruppen darum, in der DDR zu bleiben, oder waren die meisten tatsächlich, wie Sie sagten, so diese alkoholisierten Mutproben, mal rein und dann wieder raus? War das so?

Schaad: Ich habe nur ganz wenige Fälle gefunden, vier, bei denen der betreffende Mauerspringer tatsächlich in der DDR bleiben wollte. In keinem Fall hat das geklappt. Es gab diese vier Leute, die sind in ein Aufnahmeheim in Schloss Barby in Sachsen-Anhalt gekommen und sind alle wieder zurückgebracht worden. Zwei von ihnen wollten nach zwei Wochen auch gar nicht mehr bleiben, denen hat das dann gereicht, die anderen beiden wurden abgelehnt.

Führer: Ohnehin wurden ja die Mauerspringer nicht gerade mit offenen Armen empfangen, auf viele wurde sogar auch geschossen. Warum eigentlich?

Schaad: Die Mauer als Staatsgrenze war in den Augen der DDR-Behörden und insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit heilig. Wer diese Staatsgrenze verletzt, egal von welcher Richtung, der wird bestraft. Deshalb war das eine Art Missachtung der Souveränität der DDR, so wurde das betrachtet und oft auch Ermittlungsverfahren geführt, die dann in Haftstrafen endeten.

Führer: Und für diese, ja, nennen wir sie jetzt einfach mal weiter Mauerspringer war ja ausschließlich das MfS, also das Ministerium für Staatssicherheit zuständig, nicht die Polizei oder die Grenztruppen oder wer auch immer. Warum wurde das so entschieden?

Schaad: Weil die Hauptabteilung neun des Ministeriums für Staatssicherheit ohnehin ausschließlich die Untersuchungsbehörde für Grenzzwischenfälle war, das heißt, wenn ein Mauerspringer von den Grenzsoldaten festgenommen wurde, hat unmittelbar das Ministerium für Staatssicherheit übernommen. Die Leute wurden lange verhört, um die Beweggründe herauszuarbeiten, um dann im Einzelfall zu entscheiden, ob das eine provokatorische Missachtung der Souveränität war.

Führer: Peter Schneider, das erwähnen Sie auch in Ihrem Buch, der Schriftsteller Peter Schneider hat ja schon Anfang der 80er Jahre, ich glaube '82, eine Geschichte geschrieben, "Der Mauerspringer", und darin werden ja auch die Reaktionen der offiziellen Stellen in Ost und West beschrieben, das arbeitet er so ganz schön heraus an diesem einen Fall von dem Herrn Kabe, das, was ja aus heutiger Sicht wirklich kurios anmutet, weil die DDR sich eben beklagt über diese fortgesetzte Grenzverletzung seitens dieses, wie heißt der, Kabe?

Schaad: Kabe, Arnold Kabe.

Führer: … seitens Arnold Kabes, und die Westdeutschen oder die Westberliner Stellen immer sagen, welche Grenzverletzungen? Hier gibt es doch gar keine Grenze.

Schaad: Das ist richtig. Während die innerdeutsche Grenze ja de facto anerkannt war, war die Berliner Mauer als Grenze niemals anerkannt und da hat der Senat bis zum Mauerfall auf der völkerrechtlichen Interpretation beharrt, dass es sich um eine Sektorengrenze handelt und die illegal gefestigt sei. Das heißt: Was als Straftatbestand der Grenzverletzung von der DDR verfolgt wurde, war kein Straftatbestand, war überhaupt keine Grenzverletzung, denn es gab keine Grenze.

Der Herr Kabe ist in diesem Fall nicht der einzige, der amerikanische Politaktivist John Runnings ist mehrfach verhaftet worden, als er über die Mauer gesprungen ist beziehungsweise sie mit einem Vorschlaghammer traktiert hat. Jedes Mal haben die DDR-Behörden bei der US-Botschaft protestiert gegen diese Grenzverletzung, und die US-Botschaft hat wörtlich gesagt: Es gibt dort keine Grenze.

Führer: Über die Mauer in die DDR – über 400 Menschen haben diesen ungewöhnlichen Weg gewählt. Der Historiker Martin Schaad hat darüber ein Buch geschrieben. Herr Schaad, die Mauersprünge, die Sie in Ihrem Buch vorstellen, sind in den 70er und 80er Jahren passiert, wenn ich das richtig zusammenfasse, also noch nicht so lange her. Trotzdem haben Sie mit einer Ausnahme darauf verzichtet, mit den Beteiligten zu sprechen, sofern die noch leben und das dürften doch schon einige sein. Sie stützen sich nur auf Akten. Warum – getreu diesem Diktum, der größte Feind des Zeithistorikers ist der Zeitzeuge?

Schaad: Das war eher eine rechtliche Vorgabe, muss ich erzählen. Wenn man einen Antrag, einen wissenschaftlichen Antrag bei der Birthler-Behörde auf Akteneinsicht stellt und personenbezogene Unterlagen zu sehen bekommt, die unbescholtenen Bürgern – und die Mauerspringer waren unbescholtene Bürger –, die über unbescholtene Bürger dort verwahrt werden, dann darf man danach diese Leute nicht mehr kontaktieren, es sei denn, man tut es über die Birthler-Behörde selbst.

Führer: Und darauf haben Sie dann verzichtet?

Schaad: Darauf habe ich verzichtet.

Führer: Sie ziehen ja für Ihr Buch auch fast ausschließlich Stasi-Akten heran, also vom Ministerium für Staatssicherheit. Ist das nicht bei manchen Punkten, zum Beispiel bei der Frage nach den Motiven dieser Festgenommenen, kann das nicht auch heikel sein? Ich hatte so den Eindruck, dass Sie das wirklich so übernehmen, was die ausgesagt haben in den Verhören, und man kann ja nicht unbedingt davon ausgehen, dass die gegenüber der Staatssicherheit nun immer die Wahrheit gesagt haben.

Schaad: Das kann man natürlich nicht. Wovon man ausgehen kann, ist, dass die Staatssicherheit als Geheimdienst tatsächlich alles wirklich wissen wollte, das heißt, nicht bewusst gefälscht hat. Die Fälschungen, wenn es sie denn gegeben hat, sind tatsächlich in den Akten erkennbar als Fälschungen. Natürlich kann man sagen: Die Aussagen der jeweiligen Mauerspringer können ungenau sein oder einen anderen Tatbestand wiedergeben als tatsächlich der Hergang war. Da kann man sich nicht 100 Prozent dagegen versichern, aber die Offiziere der Staatssicherheit haben in diesen Verhören auch nicht aufgegeben, also, es gibt derart viele Fälle, in denen eine ursprüngliche Version einmal erzählt worden ist im ersten Verhör, und nach dem zehnten Verhör eine ganz andere Version dastand.

Führer: Dann gab es noch eine dritte Version bisweilen, Sie schildern so einen Fall und wo sie sich dann die Version ausgesucht haben, die am genehmsten war.

Schaad: Die ihnen gerade passte, ja.

Führer: Sie widmen ja ohnehin den Reaktionen der Staatssicherheit breiten Raum und manchmal, wenn es nicht traurig wäre, wäre es wirklich zum Brüllen komisch, zum Beispiel an der Stelle, wo Paranoia auf Paranoia trifft - so habe ich das mal für mich formuliert. Sie sagten vorhin, es gab wirklich Verrückte, also auch Menschen, die unter Verfolgungswahn litten, die in die DDR über die Mauer gegangen sind. Das hat das MfS auch gesehen, dass die verrückt waren, hat aber trotzdem dahinter eine Verschwörung des Westens vermutet. Wie konnte es denn zu dieser abenteuerlichen Verschwörungstheorie kommen?

Schaad: Dazu konnte es kommen, weil in der Tat die Gruppe der psychisch Kranken sehr groß war und die Staatssicherheit die Leute natürlich in das Klinikum in Buch gebracht hat und das auch feststellen konnte, dass es sich um psychisch Kranke handelte, aber einfach nicht glauben konnte, dass psychisch Kranke über die Mauer klettern, einfach so, und dass vor allen Dingen die Gesundheitsbehörden in Westberlin dies einfach zulassen würden. Insofern hat die Staatssicherheit eben mit einer Art Verfolgungswahn auf den Verfolgungswahn reagiert, denn sie dachte, die werden geschickt, werden geschickt von der feindlichen Presse, werden geschickt von dem Bundesnachrichtendienst oder Ähnliches und hat aufs heftigste protestiert.

Und da kam es dann, am Ende kam es zu einer kuriosen Verdrehung der Interpretation: Jahrelang haben die Offiziere der Staatssicherheit versucht, diesen Verrückten, den psychisch Kranken den Status von Provokateuren zuzuschreiben. Am Ende, und da komme ich noch einmal auf John Runnings zurück, dem Politaktivisten aus den USA, am Ende haben sie alles versucht, diesen wirklichen Provokateur zu einem Geistesgestörten zu erklären.

Führer: Haben Sie eigentlich einen Lieblingsmauerspringer, Herr Schaad?

Schaad: Mein Lieblingsmauerspringer ist Werner Sibilski, ein Bauarbeiter aus Kreuzberg, der über die Mauer springt, um der DDR seinen Beistand zu leisten, denn er will beweisen, dass es den Schießbefehl nicht gibt. Das geht gründlich schief, es wird zwar nicht geschossen, aber die Presse in Westberlin berichtet dennoch, dass geschossen worden ist und das regte ihn sehr auf, nachdem er wieder nach Westberlin zurückgeführt worden ist, dass er gleich noch mal springt, um das zu beweisen. Da haben dann aber auch die DDR-Behörden genug von ihm und er wird für mehrere Monate ins Gefängnis gesteckt.

Führer: Martin Schaad, er hat soeben das Buch "Dann geh doch rüber - Über die Mauer in den Osten" veröffentlicht, erschienen ist es im Christoph Links Verlag. Herzlichen Dank für Ihren Besuch, Herr Schaad!

Schaad: Danke schön!