Die Lyrik-Bände des Jahres

Was uns irritiert und verblüfft hat

Ausschnitt von "Lyrisches (Reiter zu Pferd)", ein Gemälde von Wassily Kandinsky von 1911, zu sehen im Rotterdamer Museum Boymans-van Beuningen.
Ausschnitt von "Lyrisches (Reiter zu Pferd)", ein Gemälde von Wassily Kandinsky von 1911, zu sehen im Rotterdamer Museum Boymans van Beuningen. © akg-images
Von André Hatting · 28.12.2018
Was waren die besten Lyrik-Bände des vergangenen Jahres? André Hatting empfiehlt "Halbzeug. Textverarbeitung" von Hannes Bajohr, das "Geheimnisgeschichtenlexikon" von David Sylvester Marek und einen sensationellen Wissenschafts-Fake von Mara Genschel.
Seine drei Highlights des Jahres 2018 hat unser Lyrik-Experte André Hatting im Gespräch mit Andrea Gerk nochmals gerühmt. Hier seine Kommentare – seine ausführlichen Rezensionen der drei besprochenen Bücher sind darunter per Archivlink zu finden.

Hannes Bajohr: "Halbzeug. Textverarbeitung"(Suhrkamp)

Buchcover "Halbzeug" Hannes Bajohr und im Hintergrund "Künstliche Intelligenz"
"Halbzeug" - aus recycelten Texten entsteht Poesie© Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrund: imago stock&people
Hannes Bajohr greift nicht nur thematisch die Digitalisierung auf, sondern auch methodisch – und das ist raffiniert. Was macht er? Er benutzt Algorithmen einer Software und stellt zum Beispiel Texte von Dating-Portalen zusammen. Er arrangiert das so, dass sehr merkwürdige Collagen dabei herauskommen.
Oder, anderes Beispiel: Er nimmt sich sämtliche Hausmärchen der Gebrüder Grimm vor und sortiert sie nach den am häufigsten vorkommenden Viererverbindungen. Gut, Platz 1 "Es war einmal ein", das überrascht uns nicht, aber nur auf Platz 11 kommt "Es war einmal eine". Was am meisten an diesem Buch begeistert, ist dieses Transmediale, das Schillern zwischen verschiedenen Medien. Er hat zum Beispiel Eugen Gomringers berühmtestes Gedicht "Schweigen" genommen und damit eine Audio-Software gefüttert, die ja eigentlich mit grafischen Symbolen nichts anfangen kann.
Und umgekehrt hat er von einem französischen Komponisten, der Vogelstimmen imitiert hat, das Audio in ein Grafik-Programm eingespeist, also eine Audiodatei in ein Grafikprogramm, und geguckt, was macht die für ein Gedicht daraus? Sehr spannend, sehr anregend vor allem und gar nicht langweilig.

Franzobel (Hg.): "Geheimnisgeschichtenlexikon des David Sylvester Marek" (Klever Verlag)

Das Buchcover von "Das Geheimnisgeschichtenlexikon des David Sylvester Marek". im Hintergrund ein Alpenpanorama.
Der von Franzobel herausgegebene Band "Das Geheimnisgeschichtenlexikon des David Sylvester Marek"© Klever-Verlag / imago stock&people
Das ist ein Buch eines Menschen, der autistische Züge trägt, nämlich David Sylvester Marek. Der Band ist der Gewinner eines Wettbewerbs in Wien, der gemacht wird für "Menschen mit Lernschwierigkeiten", so heißt es offiziell. Man taucht bei diesen Geschichten ein in die Welt eines Menschen, für den unsere Ordnung, die uns Sinn und Orientierung schafft, Verwirrrung bedeutet.
Man könnte vielleicht sagen, während andere Autoren beim Schreiben ihre Erfahrungen wie durch ein Brennglas bündeln, ist es bei Marek genau umgekehrt: Es ist wie eine Discokugel, es strahlt in alle Richtungen. Man stößt bei seinen sehr düsteren Texten – man hat ihn mit Kafka verglichen – immer auf Widerstände, Baustellen, Gebirge. Das ist wie eine riesengroße Allegorie oder Metapher über das, was ihn verwirrt und stört.
Diese alphabetisch sortierten Skizzen sind Spaziergänge in die Gedankenwelt eines Autisten und seiner Bildsprache. Das ist aufregend und erhellend – und zwar nicht im Sinne einer Krankheitsgeschichte, überhaupt nicht, sondern literarisch interessant.

Mara Genschel: "Gablenberger Tagblatt" (Brueterich Press)

Die Dichterin Mara Genschel
Die Dichterin Mara Genschel© Cover: Brueterich Press / Hintergrund: imago/gezett
Das ist sensationell! Mara Genschel hat formal das Inhaltsverzeichnis einer alten Berliner Gemäldegalerie aus dem 19. Jahrhundert kopiert. Das heißt, die verschiedenen Kapitel und die verschiedenen Titel der Kapitel entsprechen diesen Grafiken aus der Gemäldegalerie. Jetzt hat sie das Quadrat dieses Bildes quasi als Platzhalter genommen, hat aber neue Titel der Bilder hineingeschrieben – und hat dies gleichzeitig montiert und kombiniert mit Fragmenten von Geschichten, von Dialogen, von wissenschaftlichen Zitaten.
Man hat aber das Gefühl, das Ganze folgt einer höheren Ordnungsstruktur – und dann denkt man wieder: Man kommt nicht dahinter. Was sie eigentlich macht, ist ein virtuoses Spiel mit Kontexten. Sie faked diesen Gemäldegalerie-Kontext, sie faked diese wissenschaftlichen Fußnoten, das Buch ist voller Fußnoten, und führt uns damit in die Irre. Was Mara Genschel – die man ja auch gern mit dem Wort "Provokation" verbindet, eine Avantgardistin, die auch sehr schräge Auftritte hat – macht, ist Provokation im doppelten Sinne: Sie ruft mit dem "Gablenberger Tagblatt" eine Irritation hervor, aber dadurch auch einen Erkenntnisgewinn. Das ist das Wertvollste, was moderne Lyrik leisten kann. Mara Genschel ist völlig zu Recht eine der wichtigsten Vertreterin der lyrischen Avantgarde.