Die Literaturszene im ukrainischen Charkiw

Der Schatten des Krieges

29:46 Minuten
Serhij Zhadan
Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan ist Teil der Literaturszene von Charkiw. © imago/Leonardo Cendamo/Leemage
Von Katrin Hillgruber · 04.03.2022
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Charkiw im Nordosten der Ukraine war eine Frontstadt, der Krieg im Donbass nah - inzwischen ist die ganze Ukraine Kriegsgebiet. Ein literarisches Städteporträt aus besseren Tagen, aus dem Jahr 2018. Eine Erinnerung an Verlorenes.
Als Katrin Híllgruber im Jahr 2018 nach Charkiw fuhr, hatte sie Zeit und Muße, sich auf die Geschichte der ostukrainischen Millionenstadt einzulassen. Anders als die ewige Konkurrentin Kiew wurde Charkiw nicht im Mittelalter gegründet, sondern geht auf das Zeitalter der Kosaken im frühen 17. Jahrhundert zurück. Den größten Aufschwung erlebte die Stadt von 1919 bis 1934 als Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. Die meisten der kühn gewölbten Eckhäuser, aber auch die riesige Hauptpost mit ihren Miniaturbalkonen für Brieftauben stammen aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, der Hochphase des Konstruktivismus.
Sie zeugen vom unbedingten Optimismus ihrer Erbauer, meint der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch im Jahr 2018, als die Sendung entstand: "Das ist die Hauptstadt der frühen Sowjetukraine, und diese phänomenale Kultur und Poesie der zwanziger Jahre ist untrennbar mit Charkiw verbunden." Auch in Charkiw sei die nahe Front des inoffiziellen Krieges im Donbass allgegenwärtig, weiß der Autor und Musiker Serhij Zhadan: "Das ist die heutige Situation, heute sind bei uns alle Diskussionen sehr emotional und alle Literaturlesungen, das ist eine sehr spezifische Atmosphäre, die sich natürlich aus dieser Kriegssituation entwickelt hat."

Literarischer Brennpunkt

Das gewagteste aller Bauwerke ist die Zentrale der Staatlichen Industrie in Charkiw, abgekürzt Gosprom, auf Ukrainisch Derzhprom. Der weiße Palast liegt an einem der größten Plätze Europas und zählt nicht weniger als viereinhalbtausend Fenster. Im Zweiten Weltkrieg wollten ihn die deutschen Besatzer sprengen. Sie hatten Charkiw zwischen Oktober 1941 und August 1943 in ihrer Gewalt, bedrohten die Einwohner mit dem Hungertod und erschossen tausende Juden in einer nahegelegenen Schlucht.
Nach dem Krieg rückten die Sowjets mit Sprengstoff auf dem riesigen Freiheitsplatz an, doch der gewaltige Monolith aus Stahlbeton widersetzte sich weiterhin seiner Zerstörung. Nun gilt er als Wahrzeichen der Stadt. Die in Charkiw geborene Literaturwissenschaftlerin Tanya Zaharchenko ist ihrer Heimatstadt ideell treu geblieben, auch wenn sie dort nicht mehr wohnt. Sie befasst sich an der Universität von Oslo mit Traumatheorie und zeitgenössischer ostukrainischer Literatur – ein Thema, das seit der russischen Annexion der Krim unvermindert aktuell ist.
"Bevor ich mit meiner Studie begann, wusste ich kaum etwas über die hiesige Szene," erzählt sie. "Erst als ich mit der ukrainischen Literatur zu arbeiten begann, erkannte ich, wie unglaublich viel sie zu bieten hat. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es sich bei Charkiw um einen der wichtigsten kulturellen und literarischen Brennpunkte handelt."

Das Schriftstellerheim "Slowo"

Auch der entscheidende Bruch im literarischen Leben Charkiws ist mit einem architektonisch bemerkenswerten Haus verbunden, dem Schriftstellerheim "Slowo". "Slowo" heißt auf Ukrainisch "Wort" und schreibt sich mit einem kyrillischen C. Die Gestalt dieses Buchstabens inspirierte die Architekten, das Haus der Schriftsteller in Form eines gebogenen Cs zu errichten.
Im November 1930 fand dort der Internationale Kongress der proletarischen Schriftsteller statt. Unter den rund hundert Delegierten waren so illustre Gäste wie die französischen Schriftsteller Romain Rolland oder Louis Aragon. Die ukrainischen Konferenzteilnehmer ließ der sowjetische Staatschef Stalin wenige Jahre später fast alle liquidieren, darunter die sozialistischen Futuristen um ihren Wortführer Michajl Semenko.
Charkiw
Die Darwin-Straße im ukrainischen Charkiw © Deutschlandradio / Katrin Hillgruber
Mit Schaudern blicken Zhadan und sein Übersetzer Juri Durkot auf das Schriftstellerheim "Slowo", dessen Schönheit nicht ohne die Erinnerung an den Terror wahrgenommen werden kann. "Für uns in Charkiw ist dieses Haus wirklich ein ganz wichtiges Objekt für Erinnerung für Geschichte," sagt Zhadan. "Aber das ist vielleicht eher keine Inspiration, sondern eine Mahnung. Es ist wirklich ein sehr tragischer Ort, ein sehr dramatischer Ort."
Auch die in Kiew lebende Oksana Sabuschko beschäftigt dieser Ort. Sie sieht in ihm eine Keimzelle der originär ukrainischen Literatur. "Es gab durchaus eine eigene, ukrainische Gattung von Charkiw-Texten in den 1920er Jahren. Das war diese kurze Periode vor Stalin, als die Sowjetunion noch als Vereinigung unabhängiger Staaten gelten konnte.
Charkiw war damals die Hauptstadt der neuen, zwar kommunistischen, aber eben ukrainischen und noch unabhängigen Republik. Wir nennen das die kurze Renaissance, denn alle Eliten jener Zeit wurden durch die stalinistischen Säuberungen ausradiert, beginnend mit dem Jahr 1930. Nur sehr wenige Persönlichkeiten des Kulturlebens haben überlebt. In dieser Zeit war Charkiw die Hauptstadt der ukrainischen und, erlaube ich mir zu sagen, osteuropäischen Avantgarde."

"Der Krieg stärkt die kulturelle Identität"

Sabuschko zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihres Landes. Wie fast alle Ukrainer hat sie Familienmitglieder durch politische Gewalt verloren. Für sie, sagt Sabuschko im Jahr 2018, trage der Konflikt mit Russland in den Separatistengebieten zu einer Revitalisierung der ukrainischen Kultur bei. "Es ist nicht der erste hybride Krieg, den wir mit Russland haben, wenn wir an das Verschwinden unserer Großväter und Ur-, Urgroßväter denken," meint die Schriftstellerin.
Paradoxerweise habe der unerklärte Krieg dazu beigetragen, die historische Erinnerung wachzurufen, die die Bolschewisten ausradieren wollten. "So stellt sich jetzt heraus, dass die russische Propaganda und die russische Invasion einen völlig gegenteiligen Effekt haben: Sie tragen dazu bei, unsere kulturelle Identität und die Unabhängigkeit unserer kulturellen Einrichtungen zu stärken."

Schreiben über den Krieg

Seit im Winter 2013/14 Gegner und Befürworter des Maidan in seiner Heimatstadt Charkiw aneinandergerieten, engagiert sich Zhadan für eine prowestliche Ukraine und gegen die prorussischen Separatisten im Donbass. Er begleitet Hilfskonvois in das umkämpfte Industriegebiet, veranstaltet Literaturfestivals und gibt Benefizkonzerte mit seiner Band "Sobaky w Kosmosi" (Hunde im Kosmos).
Zhadans Roman "Internat" schildert die dreitägige Reise des Lehrers Pascha durch das Konfliktgebiet im Donbass. Er greift die Ereignisse am Eisenbahnknotenpunkt der Stadt Debalzewe auf, um den im Januar 2015 heftige Kämpfe entbrannten. Der Ort liegt genau in der Mitte zwischen den selbstproklamierten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk.
"Das war für mich die schwerste und wichtigste Frage; Wie kann man über den Krieg schreiben?", erzählt Zhadan. "Ich habe mir diese Frage erstmals 2014 gestellt und habe drei Jahre zuvor probiert, etwas über den Krieg zu schreiben, aber das war nur Poesie, viel Lyrik und kleine Prosa. Es war sehr wichtig, etwas Größeres zu schreiben, und ich habe dieses Buch als Drehbuch geschrieben."
Der schwelende Konflikt bleibt präsent, aber die Sprachen trennen Charkiws Schriftsteller nicht. Bei ihren Lesungen im Jahr 2018 wechseln sich Ukrainisch und Russisch munter ab. So nah die Front des bis heute nicht erklärten Krieges auch sein mag: Wenn man dem Dichter Oleh Kozarew zuhört, wie er enthusiastisch "Der Tanz der Anzüge" vorträgt, vermengt sich die Freude am poetischen Wortspiel mit jenem kühnen Schwung, der Charkiw oder Charkow berühmt gemacht hat.
Inzwischen ist all das Geschichte. Aus dem unerklärten Krieg ist ein erklärter, aus dem verdeckten Einsatz von russischen Söldnern in den Separatistengebieten die Invasion von russischen Soldaten in der Ukraine geworden. Die Großstädte sind das bevorzugte Ziel der militärischen Aggression. In Charkiw schlagen Bomben ein, auch in Wohnhäuser. Seine Bewohner fürchten wie die Menschen im ganzen Land um ihr Leben.
(DW)
(Wiederholung vom 27.04.2018)

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Sprecher*innen: Robert Beyer, Stephanie Eidt und Bettina Hopp
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Jörg Plath

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