Die Literaturstadt Bergen

Eine gewisse Grundgetrübtheit

Der Stadtteuk Bryggen in Bergen, Norwegen.
Der Stadtteuk Bryggen in Bergen, Norwegen. © picture alliance/dpa/Foto: Günter Grüner
Von Andrea Gerk · 08.02.2019
Das norwegische Bergen ist bekannt für schlechtes Wetter. Diese schroffe Umgebung hat Literaten wie Karl-Ove Knausgard oder Tomas Espedal inspiriert. Auch dank ihrer Bücher ist das "Tor zu den Fjorden" heute ein literarisches Zentrum.
"Warum leben einige von uns hier? Weil man hier arbeiten kann. Es regnet so viel und das Klima ist so demütigend, deprimierend und unmenschlich, dass einige von uns gut arbeiten können. Das ist der einzige Grund."
Natürlich findet auch unser Spaziergang durch Bergen im Regen statt. Der Schriftsteller Tomas Espedal lebt schließlich in der regenreichsten Stadt Europas. Sie ist ein zentraler Ort seines Werkes, nicht nur in seinem 2018 erschienenen Buch, das nach den Bewohnern der Stadt "Bergeners" heißt.
"Viele verlassen die Stadt, ziehen fort. Viele schaffen es nicht, längere Zeit in Bergen zu wohnen; der gefängnisartige Regen, das feuchte Eingesperrtsein zwischen den Bergen macht einen krank und lebensmüde. Man ist gezwungen, hinter verschlossenen Türen zu leben, allein oder in kleinen Familien. Man geht von Haus zu Haus, von Lokal zu Lokal, von Bar zu Bar, von Drinnen zu Drinnen. Man könnte sämtliche Einwohner aus der Stadt wegschaffen und sie mit ganz anderen Leuten neu füllen, die Stadt würde dieselbe bleiben."
Schön anzusehen sei Bergen ja, sagt Tomas Espedal, während er mit seinen klobigen schwarzen Stiefeln energischen Schrittes durch den Regen stapft. Aber leben könne man hier nicht. Außer man bleibe drinnen und arbeite.
"Was das Wetter angeht: Mein Professor, ein ziemlich bekannter Schriftsteller, Gil Johanesen – als wir bei ihm anfingen, stand er hier draußen und wir, rund 200 Studenten, standen vor ihm und er sagte: ´Wisst Ihr, warum die Leute in Bergen dümmer sind als andere Leute?` Das war das erste, was er uns fragte. ´Sie sind wegen des Regens dümmer und weil sie einen Schirm benutzen und das ganze Blut, das in ihren Kopf müsste, in den rechten Arm geht.` Seitdem habe ich nie wieder einen Schirm getragen."

Das UNESCO-Welterbeviertel Bryggen

284 Regentage pro Jahr verzeichnet die schöne alte Hanse- und Hafenstadt an der Westküste Norwegens. Von sieben Hügeln ist sie umgeben und wird als "Tor zu den Fjorden" bezeichnet. Die zweitgrößte Stadt Norwegens ist Ausgangspunkt der klassischen Postschiffroute, die von hier aus jeden Tag nach Kirkenes an der norwegisch-russischen Grenze fährt.
Mehr als 400.000 Passagiere befördern die Schiffe der Hurtigruten jedes Jahr. Zahlreiche Touristen schlendern durch das am Hafen gelegene UNESCO-Welterbeviertel Bryggen mit seinen bunten Holzhäusern, besuchen den Fischmarkt, die Henrik Ibsen-Statue vor dem Nationaltheater, eines der Museen wie die Bergen Kunsthall oder Edvard Griegs Komponistenhütte im Garten seines ehemaligen Wohnhauses Troldhaugen.
"Bergen, oh ja. Diese unglaubliche Kraft, die in den vielen verschiedenen Häuserfassaden lag, die überall so dicht zusammengepresst standen. Der Sog, den man empfand, wenn man einen der Anstiege hinaufschritt und es sah und davor stand, konnte überwältigend sein."
Schreibt Karl-Ove Knausgard in "Träumen", dem fünften Band seines weltweit erfolgreichen Romanzyklus "Min Kamp" über seine erste Zeit in Bergen.

Trotz seiner fast 300.000 Einwohner wirkt das idyllische Bergen kleinstädtisch und wegen der vielen Studenten sehr lebendig. Die Universität, die Kunst– und Designhochschule und die berühmte Schreibakademie, an der Karl-Ove Knausgård einer der ersten Schüler war, sind auch für die Künstler, Musiker und Literaten der Stadt wichtige Bezugspunkte:
"Wir sind miteinander im Gespräch, weil die Stadt so klein ist. Das werden sie gleich merken, wenn wir unterwegs sind, da treffe ich vielleicht meinen Literaturprofessor. Man kann einfach zu ihm hingehen und sagen, fuck, warum hast du diesen Artikel geschrieben? Und dann darüber diskutieren. Das ist vielleicht das Geheimnis, warum hier ein so fruchtbares literarisches Milieu entstanden ist. Wegen dieser starken Energie."

Tatsächlich kennen sich hier eigentlich alle, die mit Kunst, Musik und Literatur zu tun haben. Die Schriftstellerinnen Gunnhild Øyehaug und Olaug Nilssen, die ich bei einer Lesung in der Buchhandlung Norli treffe, sind Mitte der 1990er-Jahre aus der westnorwegischen Provinz zum Studium nach Bergen gekommen und seither befreundet.
"Es gibt viele Schriftsteller hier in Bergen. Einige kennen sich von der Schreibakademie, andere von der Universität – es gibt also verschiedene Orte, an denen man sich begegnen und austauschen kann. Aber es gibt nicht nur einen Schriftsteller-Kreis in Bergen und nicht jeder fühlt sich in diesen Cliquen wohl."
Blick auf den Stadtteil Bryggen in Bergen
Blick auf den Stadtteil Bryggen in Bergen © imago/ZUMA Press/Gili Yaari
Dass sie hier geblieben ist, habe sich so ergeben, erzählt die Lyrikerin und Romanautorin Gunnhild Øyehaug. "Ich wäre gern wie ich bin" heißt ihr erster Roman, der 2008 in Norwegen mit Preisen überhäuft und als Buch des Jahres gefeiert wurde und inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist.
Die 1975 geborene Schriftstellerin unterrichtet an der Schreibakademie, ihre Kinder und ihre Familie leben hier, also sei das eben der Ort, an dem auch sie lebe:
"Bergen ist ein Teil meiner Bücher geworden. Ich schreibe eigentlich in jedem meiner Bücher über Bergen. Aber das hat gar nicht so viel mit dem Ort selbst zu tun. Obwohl der Regen ist schon sehr inspirierend (lacht) und deprimierend. Muss man deprimiert sein, um zu schreiben? War nur ein Scherz."
Wichtig sei ihnen der typische Westküstenhumor, erklären die beiden Autorinnen. Schwarz sei der, sarkastisch und eng mit der Sprache verbunden, in der sie schreiben.
"Humor und Sarkasmus haben hier Tradition. Aasmund Olavsson, ein sehr bekannter norwegischer Dichter, dessen 200. Geburtstag gerade begangen wurde, sagte mal, er würde so schreiben, dass man mit einem Auge lachen und mit dem anderen weinen müsse. Das ist, glaube ich, ein gutes Motto für uns beide."

Ein Stadtspaziergang mit Tomas Espedal

Die norwegische Sprache hat zwei Standardvarianten. Während Autoren wie Tomas Espedal und Karl-Ove Knausgård in "Bokmål" schreiben, was auf Deutsch übersetzt etwa "Buchsprache" heißt, erzählen Gunhild Øyehaug und Olaug Nilssen ihre Geschichten in Nynorsk, dem sogenannten Neunorwegisch, das der Sprachwissenschaftler Ivar Aasen Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte:
"Und das dürfte auch der Grund sein, warum ich mich mehr in Bergen zu Hause fühle als in Oslo. Ich mag die Art zu leben, die Offenheit und den Humor."


Davon ist auch beim Spaziergang mit Tomas Espedal einiges zu spüren. Etwa, wenn der ehemalige Boxer in seinem dünnen schwarzen Mantel mit kräftigen Schritten durch die regennassen Straßen geht, wobei er immer wieder Bekannten begegnet und sie herzlich begrüßt – wie den Besitzer des angesagtesten Plattenladens der Stadt:
"This is the most famous man in Bergen/ Ah no, he is more famous …"
Weil jeder in Bergen den meist schwarzgekleideten Dichter und Flaneur Tomas Espedal kennt, der im Übrigen ein wunderbares Buch über das "Gehen und die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen" geschrieben hat, kann er inzwischen kaum noch in Ruhe durch seine Stadt flanieren:
"Ab einem gewissen Punkt, den ich hasse, war es ganz schwierig für mich, zu Fuß zu gehen, weil jeder mit mir reden wollte. Ich habe es manchmal trotzdem gemacht, weil ich ein ganz normaler Bergener sein wollte. Aber einfach um mich frei zu fühlen, fahre ich jetzt mit dem Rad. Wenn die Leute dann ´Hallo!` rufen – zische ich einfach vorbei …"
Obwohl Tomas Espedal auch an anderen Orten wie Oslo oder Kopenhagen länger gelebt hat, umkreist er in seinen poetischen und immer auch autobiografischen Texten die Stadt, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist und in der er heute wieder lebt. Zugleich erzählt er von seinem romantischen Wunsch, sie zu verlassen, zu verschwinden und ein anderer zu werden. In seinem zuletzt auf Deutsch erschienen Buchs "Bergeners" flieht er gleich zu Anfang aus der Stadt.
"Ich war einer spontanen Eingebung folgend nach Madrid gereist, um dem Theater rund um Knausgårds Bücher in Norwegen zu entfliehen. Er hatte meinen Namen in Verbindung mit einem unerfreulichen Zwischenfall in meiner Wohnung genannt, und jetzt stand mein Telefon nicht mehr still, jede Menge Journalisten. Ich wusste bei keinem, was ich sagen sollte, also sagte ich, ich sei auf Reisen. Es war sowohl eine Lüge als auch die Wahrheit, ich versteckte mich in Madrid."
Der "unerfreuliche Zwischenfall" – Knausgård wurde fälschlicherweise der Vergewaltigung beschuldigt – war jedoch nicht der einzige Grund. In seinem Buch "Bergeners" leidet Espedal unter schwerem Liebeskummer. Seine Freundin Janne hat ihm in New York, ausgerechnet als der norwegische Lachs serviert wird, erklärt: "Wenn wir nach Hause kommen, müssen wir uns trennen."
Der norwegische Autor Tomas Espedal am 12.10.2018 auf der Frankfurter Buchmesse.
Der norwegische Autor Tomas Espedal am 12.10.2018 auf der Frankfurter Buchmesse.© picture alliance/dpa/Anke Waelischmiller/SVEN SIMON

Bei allem geht es um die Idee eines "poetischen Lebens"

"Eine zu lieben, die weg ist, ist dasselbe wie schreiben," heißt es im Buch, das von der "tiefsten, schwärzesten Trauer" und ihrer ungeheuren Intensität erzählt, die der des Schreibprozesses gleicht. Ob sich der Erzähler vor Liebesschmerz am Boden windet, herumsitzt, Kette raucht, maßlos trinkt oder alleine seinen 50. Geburtstag feiert – bei allem geht es um die Idee eines "poetischen Lebens". Etwa, wenn er Goyas "schwarze Bilder" beschreibt, mit denen sein poetisches Verfahren eine innere Verwandtschaft aufweist:
"Es muss wie Malerei sein. Du weißt nicht genau, wo es Dich hinführt, Du fängst einfach irgendwo an. Was mich fasziniert, ist Langsamkeit und ich versuche, der Schönheit von Worten, Sätzen und Rhythmen mit dem Stift zu folgen. Wenn ich schon wüsste, was und wie ich schreiben werde, das würde mich nicht interessieren. Es ist eine Art Forschungsarbeit, einfach irgendwo anzufangen und zu schauen, wohin die Sprache mich führt."
Er wolle Romane schreiben, die wie Poesie seien, hat Espedal mal gesagt und tatsächlich gelingt es ihm in all seinen Büchern, das Alltägliche, das eigene Erleben in Literatur zu verwandeln. Margit Walsø, Schriftstellerin und Direktorin der norwegischen Literatur-Export-Organisation NORLA, die den Buchmessen-Auftritt in Frankfurt organisiert:
"Er ist sehr stark von der Poesie geprägt, aber er schreibt auch in einem Stil, der den Einfluss der Kurzgeschichte zeigt. Also er arbeitet wirklich mit ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen. Seine Texte sind essayistisch, erzählend, lyrisch – alles zugleich. In der Norwegischen Literatur hat er seine eigene, unverwechselbare Welt geschaffen. Ich denke, deshalb ist er auch ein Vorbild oder eine Inspirationsquelle für viele jüngere Autoren."

Prominenz an der Schreibakademie in Bergen

Junge Autoren zieht es wegen der Schreibakademie nach Bergen, an der Espedal auch seinen zweifellos berühmtesten Schüler, Karl-Ove Knausgård, unterrichtet hat. 1988 kam der als einer der ersten Schüler an das Bergener Institut und lebte 14 Jahre in der Stadt – bis zu seinem Umzug nach Schweden.
In "Träumen", dem 5. Band seines Romanzyklus "Min Kamp" erzählt er von seinen zermürbenden Selbstzweifeln und den mit anderen Autoren durchgesoffenen Nächten im Café Opera, das seither eine Attraktion in der Stadt ist:
"Der berühmteste Ort der Stadt ist seit Knausgård die Akademie. Aber wo alle hingingen und noch immer hingehen, ist das Café Opera. Sogar aus Dänemark kommen die Leute und wollen das Café sehen, nur weil er darüber geschrieben hat."
"Das Taxi fuhr rechts heran und hielt. Café Opera stand dort in rosa und schwarzer Schrift auf weißem Grund. Hinter den großen Fenstern saßen, schattenhaft zwischen den kleinen, klaren Flammenpunkten der Kerzen überall Menschen. (…) Ich war schon einmal da gewesen, allerdings nur flüchtig und am Tag. Das hier war etwas völlig anderes. Überall saßen Menschen und tranken Bier. Das Lokal sah für mein Empfinden einer Wohnung ähnlich, die man mit Tischen und Stühlen und in der Mitte mit einer Bar im rechten Winkel vollgestellt hatte."

Regen, Regen, Regen

Wir lassen das Café Opera, in dem jeden Monat Lyrik-Lesungen stattfinden, links liegen und schlendern weiter durch den Regen, der für die Bergener ein nie versiegendes Gesprächsthema ist:
"Der berühmteste Ort in Bergen – international gesehen – ist das Meteorologische Institut. Die arbeiten da für die NASA, weil sie die besten sind und am meisten Erfahrung damit haben, das Wetter zu studieren. Als ich an der Universität war, habe ich auch Meteorologie studiert, denn man sollte doch den Unterschied kennen zwischen Wolken, die Regen transportieren und solchen, die das nicht tun. Und man muss wissen, woher der Wind weht."
"Auf dem Rückweg begann es zu regnen. Und nicht etwa so, dass es zunächst anfing zu tröpfeln, um sich danach langsam einzuregnen, wie ich es gewohnt war. Hier geschah es von Null auf Hundert in einer Sekunde: In einem Augenblick regnete es nicht, im nächsten fielen Millionen Regentropfen gleichzeitig und ein knisterndes, fast klapperndes Geräusch stieg um mich herum vom Erdboden auf. Ich eilte im Laufschritt abwärts und musste innerlich grinsen, was war das nur für eine fantastische Stadt!"
Als Karl-Ove Knausgård, der hier durch den Regen eilt, Ende der 1980er-Jahre in Bergen studierte, wurde viel darüber diskutiert, wie sehr Literatur sich auf die Realität, das eigene Leben konzentrieren solle.
"Wir müssen das Wirkliche mit all unserem Ernst und all unserer Kraft beschreiben," heißt es in einer programmatischen Passage in "Bergeners" und Espedal erzählt, dass sie sich absetzen wollten von den großen norwegischen Autoren der 60er- bis 80er-Jahre:
"Man muss seiner Zeit einen eigenen Stempel aufdrücken. Es ging erstens darum, Literatur unangenehm zu machen und zweitens, das literarische "Ich" zu erforschen. Wenn man in der Lyrik "Ich" sagt, bleibt jeder entspannt, weil jeder weiß, es ist ein Stilmittel. Aber wenn man in einem Roman "Ich" sagt, dann geht’s um dich. Und das war damals eine echte Provokation. Jetzt nicht mehr, jetzt sind wir damit durch."

Falls Tomas Espedal recht hat, dürfte mancher erleichtert aufatmen. Die in Norwegen sehr bekannte Lyrikerin, Dramatikerin und Schriftstellerin Cecilie Løveid ist in Bergen aufgewachsen und erst vor kurzem hierher zurückgekehrt:
"Ich bin zurückgekehrt, um hier zu sterben (lacht). Ich kann auch so dramatische Dinge sagen wie Espedal. Aber es fühlte sich tatsächlich so an."
Beim Stichwort "Autofiktion" schaut Cecilie Loveid skeptisch unter der Krempe ihres dunklen Huts hervor:
"Ich habe diesen Begriff so satt. Ich arbeite gerade an einem Gedicht für das Literaturmagazin ´Vinduet` über Vigdis Hjorth, eine unserer größten Romanautorinnen. Sie hatten eine schreckliche Auseinandersetzung mit ihren Lesern auszustehen, weil sie in einer Geschichte erzählt hatte, dass die Protagonistin von ihrem Vater vergewaltigt und sexuell missbraucht wurde und automatisch dachte das Publikum, das sei ihre Geschichte. Unermüdlich wiederholte sie: Das ist ein Roman, das ist ein Roman, ich bin nicht meine Protagonistin. Aber es war verlorene Liebesmüh."
Espedal und Knausgård seien ja charmante Kerle, sagt Cecilie Løveid, aber sie würde sich wünschen, dass im Zuge der Promotion-Tour zur Buchmesse mehr Frauen übersetzt würden. Schließlich habe die Literatur im Bergen des 17.Jahrhunderts auch mit einer Frau angefangen. Dorothea Engelsbretsdatter schrieb Psalmen und Kirchenlieder:
"Sie war sehr bekannt und ihr Psalmen-Buch wurde jahrhundertelang immer wieder neu aufgelegt. Und sie ist noch immer lebendig. Ich habe versucht, ein poetisches Buch über sie zu schreiben, zusammen mit einer Sängerin, einer Jazzmusikerin, und ich habe 2013 und 2015 ein Programm für eine Kirche über sie gemacht. Wir haben sie aufgeführt, aber in unserer heutigen Sprache. Ich habe sie aus ihrem Kontext in meinen überführt und eine Mischung aus ihr und mir gemacht. Ich bin Witwe und sie war auch Witwe – also können wir zusammen weinen (lacht)."
Die norwegische Schrifstellerin Cecilie Løveid während einer Preisvergabe im November 2017.
Die norwegische Schrifstellerin Cecilie Løveid während einer Preisvergabe im November 2017.© picture alliance/dpa/Foto: Håkon Mosvold Larsen/NTB scanpi

Bergen – das kulturelle Zentrum Norwegens

Dass Bergen zu einem kulturellen Zentrum Norwegens werden konnte, verdankt die Stadt berühmten Bewohnern wie dem Komponisten Edvard Grieg, dem Dramatiker Hendrik Ibsen oder Ole Bull, den Schumann für den größten Geiger seit Paganini hielt.
Bei seinen Konzerten soll er die Frauen dafür bezahlt haben, ohnmächtig zu werden, in Amerika gründete er eine Kolonie namens "Oleana", als 66-Jähriger spielte er auf der Spitze der Cheops-Pyramide seine Fantasie über norwegische Volksweisen. Zurück in Bergen gab er das viele Geld, das er mit seinen Konzerten verdient hatte, an junge Talente weiter:
"Und dann fand er, dass wir ein norwegisches Theater bräuchten, denn das gab es nicht. Alles war dänisch oder von Laien gemacht. Mitte des 19.Jahrhunderts ließ er in Bergen ein Theater bauen, ein Holzgebäude mit immerhin 900 Plätzen, später wurde daraus dieses schöne Jugendstiltheater. Er verwandelte Bergen in eine kulturell interessante Stadt. Da war vorher nichts. Die Leute wurden selbstbewusster und gingen von hier aus nach Europa. Oslo ist eine andere Geschichte, aber Bergen war viele Jahre ein kulturelles Zentrum."
Auch mit Tomas Espedal kommen wir am Bergener Nationaltheater vorbei, an dem Hendrik Ibsen sechs Jahre lang, von 1851 bis 1857 Hausregisseur, Autor und Bühnenbildner war.
"Jetzt sehen wir die Stadt quasi von hinten. Das Theater, eine altehrwürdige Institution, aber ich verstehe nichts davon, ich gehe nie hin. Obwohl sie jetzt zum ersten Mal, seit ich hier lebe, etwas Neues probieren. Sie haben einen sehr bekannten, sehr kontrovers diskutierten schwedischen Regisseur engagiert … naja, aber wir gehen nie ins Theater."


Lieber als ins Nationaltheater zu gehen, besucht Tomas Espedal die freie Theater- und Tanz-Szene. Oder das Literaturhaus, das in der Nähe der Edvard Munch Collection und der Bibliothek liegt, zwischen Bars, Kneipen und Cafés. Unterwegs zeigt Tomas Espedal auf die prächtigen Villen auf den Hügeln über der Stadt:
"Die meisten Städte sind in Ost und West geteilt – die Leute im Westen haben das Geld und die im Osten nicht. In Bergen ist das anders. Da geht’s um oben oder unten und zwar wegen des Smogs. Tatsächlich haben die reichen deutschstämmigen Familien – Rivas, Schäfers – ihre Häuser da oben, also oberhalb des Smogs. Das ganze Geld ist da oben, man kriegt nichts mit von diesen Leuten, sie leben in verschlossene Burgen, du siehst sie nicht, sie gehen nicht zum Essen aus. So ist das."
Nationaltheater von Bergen, Norwegen
Nationaltheater von Bergen, Norwegen© imago/Marc Schüler
Als junger Mann war er mal eingeladen in eines dieser Häuser, erzählt Espedal. Damals war er in ein Mädchen verliebt, das aus einem der reichsten Häuser der Stadt kam und das gesamte Tischgespräch habe sich nur darum gedreht, aus was für einem Elternhaus er komme, wer seine Eltern seien.
"Es gibt einen Buchladen im Literaturhaus, wahrscheinlich derzeit der beste Buchladen der Stadt. Wir können da für fünf Minuten hingehen und uns aufwärmen, in Ordnung?"
Die Bergener sind daran gewöhnt, ständig nass zu werden und sich irgendwo aufzuwärmen und zu trocknen. Wir werden wieder trocken, sagt Espedal lachend, und krank würden wir von dem Regen auch nicht werden. Er selbst sei nie krank und schon seit 17 Jahren bei keinem Arzt gewesen.
"Das ist das Literaturhaus. Es gibt ein gutes Restaurant und ein Café. Aber ich zeige Euch den Buchladen, weil der ist ein Traum. Ich hab ihnen erzählt, dass hier ist der beste Buchladen in der Stadt. Anne und Janne führen den Laden und ich habe Euch ja gesagt, das ist die beste Buchhandlung, weil sie so ein gutes Sortiment haben und keinen Mist verkaufen. Ich meine, in den meisten Buchläden kannst du Tagebücher, Briefumschläge, Kinderspielzeug, Tiere, Elefanten kaufen. Aber hier haben sie die ganzen Literaturzeitschriften – dort drüben – und hier ist die Lyrik. Ich lese nur Gedichte, sie sind das Einzige, was mich an Literatur interessiert."

Die feuchten Straßen glitzern im Laternenlicht

Tomas Espedal nimmt den gerade erschienenen letzten Band seines auf zehn schmale Bände angelegten Romanprojekts aus dem Regal.
"Jetzt muss ich was anderes machen. Also, wenn Ihr irgendwelche Vorschläge habt, sagt Bescheid. Ich bin aus der Übung. Ich werde schon irgendwas tun … endlich einen guten Roman schreiben (lacht)."
Wir gehen nach draußen. Es ist längst dunkel geworden und die feuchten Straßen glitzern im Laternenlicht.
"Noch etwas Persönliches: Das hier ist das Haus, in dem ich geboren wurde. Gegenüber ist ein Pub, was ich als Kind nicht wusste. In dem habe ich zwei Jahre gesessen und getrunken. Ich hatte ein Stipendium und hatte acht Bücher geschrieben und damals dachte ich, jetzt wird es Zeit, frei zu sein. Und das seltsame ist, ich konnte dort sitzen und auf meine Kindheit schauen. Darüber habe ich geschrieben. Und ich stellte mir vor, dass ich mich als Kind hätte sehen können, wie ich hier sitze und trinke …"
Über das Trinken und die Lust, sich trinkend zu vergessen, zu verwandeln oder ganz zu verschwinden, hat Tomas Espedal in allen seinen Büchern geschrieben. Als seine Leserin habe ich fast das Gefühl, schon mal in den Bars gewesen zu sein, die er regelmäßig besucht und wieder wechselt, um seine Ruhe zu haben:
"Das hier ist die beste Bar der Stadt: "Legal". Und der älteste Rock Club "Garage" ist da auf der Ecke. Ich gehe nicht mehr hin. Aber eigentlich sollten wir da reingehen und Whisky trinken – vielleicht ein andermal."
Wenn er könnte, sagt Tomas Espedal, würde er aufhören zu schreiben und den Rest seiner Tage hier verbringen.
Singt leise: "Just show us the way to the next whisky bar …"
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